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SENECAS KINDHEIT

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§ 12 „Ostia. Ein Segler aus Spanien legt an. Eine vornehme Dame trägt ein Kind durch den Lärm über den schwanken Laufsteg an Land. Das Kind heißt Lucius Annaeus Seneca …“ So könnte man sich die Szene ausmalen, die Seneca Helv. 19,2 andeutet: illius manibus in urbem perlatus sum, „auf ihren Armen wurde ich in die Stadt Rom überführt“. Gemeint ist seine Tante.17 Aber wann dies geschah und warum (s. § 18), darüber ist nichts bekannt, nicht einmal dies wissen wir genau, wie alt das Kind denn war, das da „überführt“ wurde.

Doch P. Grimal 37 bezeichnet eine Vermutung seines französischen Kollegen F. Préchac (REL 12, 1934, 362/5) als „sehr scharfsinnig“ und als geeignet, „den Weg zu größerer Bestimmtheit“ in der Frage nach Senecas Geburtsjahr zu eröffnen. Welches war diese Vermutung? Im Brief 12,1 (aus dem J. 63 nach Préchac, aus dem J.62 nach Grimal S. 339) liest man: „Wohin ich mich auch wende, überall sehe ich Hinweise auf mein Greisenalter.“ Im 26. Brief findet man dann am Anfang: „Eben gerade sagte ich dir, ich stünde auf der Schwelle zum Greisenalter: heute scheint mir fast, als habe ich es schon hinter mir gelassen.“ Préchac glaubte nun zu sehen, daß zwischen ep. 12 und 26 diese Schwelle des Alters überschritten worden sei. Dann könnte man den Eintritt des Alters, der senectus, das der Römer theoretisch mit dem 64. Lebensjahr beginnen ließ, in das Jahr 62 bzw. 63 verlegen, und Seneca wäre nach dieser „scharfsinnigen Bemerkung“ um das Jahr 1 n. Chr. geboren (ein „Jahr Null“ gab es nicht: Bengston, Einführung in die Alte Geschichte 31959, 34). Aber wer sagt uns, was Seneca mit „Greisenalter“ in ep. 12 genau meinte? Wirklich das 63. Lebensjahr? Oder war es nur ein Gefühl, schon sehr alt zu sein? Und kann man sich denn wirklich auf den hyperbolischen Ausdruck verlassen, er habe das Greisenalter bereits hinter sich gelassen? So ungewiß sind die uns zur Verfügung stehenden Vermutungen.

§ 13 Die neueste Mutmaßung über Senecas Geburtsjahr ist die von K. Abel (Hermes 109, 1981, 123ff.). In dem Brief, in welchem Seneca von der Ruhe spricht, die eintritt, wenn der alte Mensch an nichts Unwesentlichem mehr beteiligt ist, erwähnt er das Bübchen, mit dem er bisher gymnastische Übungen gemacht (ep. 83,4); der Bengel habe gesagt, sie litten beide an demselben Übel: am Zahnausfall. Abel setzt den Altersausfall von Zähnen ins 63. Lebensjahr (er erwähnt aber auch andere Perioden, die das Altertum hierfür genannt hatte). Also sei Seneca um die Mitte des J. 64 (dies das Abfassungsjahr dieser Epistel: Grimal 157; Abel 125, Anm. 18) 63 Jahre alt gewesen, daher im J. 1 n. Chr. geboren. Doch verwendet Abel das Wort „wahrscheinlich“ mehrfach, und mehr als eine unbestimmte Möglichkeit ergibt sich auch aus dieser Vermutung nicht, denn den Zahnausfall von ep. 83 haargenau ins 63. Lebensjahr zu datieren, überfordert den Text.

An und für sich ist es ja auch belanglos, wann ein bedeutender Mann geboren wurde, so unbedeutend wie seine Haarfarbe; in Senecas Fall wäre es aber nicht uninteressant zu wissen, ob ihn der Schicksalsschlag der Verbannung mit 35 Jahren oder mit vierzig traf, ob er von der politischen Bühne mit 58 oder mit 63 Jahren abtrat. Doch es ist nicht zu wissen.

§ 14 Das Bild des anlegenden Schiffes (§ 12): warum wurde dieses kleine Kind (man denkt an ein etwa einjähriges) nach Rom „überführt“? Und warum von der Tante und nicht von der Mutter? Warum nach Rom und woher?

§ 15 Die Eltern Senecas: wir wissen einiges über den Vater18, wenig über die Mutter, nichts über die Vorfahren. Senecas Vater stammte aus Spanien, genauer: aus Corduba, und war dort römischer Ritter; er war so wohlhabend, daß er jahre-, wenn nicht jahrzehntelang seiner Lieblingsbeschäftigung in Rom nachgehen konnte, der Redekunst. Corduba bot in dieser Hinsicht gewiß nichts Großartiges. Die Ansiedlung war wohl von M. Claudius Marcellus im J. 169 oder 152 v. Chr. gegründet (RE 4,1221,57) und erst später zur colonia gemacht worden. Viele Einwohner waren im Bürgerkriege Caesars republikanisch gesinnt (Sussman 28) gewesen, die Sprache war zu Ciceros Zeit von der in Rom deutlich verschieden, war ein wenig plump und für stadtrömische Ohren etwas exotisch (pro Arch. 26; Griffin, Elder Sen. 13); ja, der Vater Seneca selber empfand sie als gröblich (contr. 1, praef. 16): Gesinnung und Sprache waren im guten wie im weniger guten Sinne provinzhaft geblieben.

§ 16 Der Vater muß ein beachtlicher Mann gewesen sein, wenn seine Söhne senatorischen Rang erreichten (Syme, Roman Revolution 1960, 292) und wenn sich ihm das Haus des Asinius Pollio öffnete. Dieser war Propraetor in Spanien unter Caesar gewesen (RE 2, 1590,50ff.), und dort mag er den Vater kennengelernt haben (Griffin, Elder Sen. 5). Schon sein Vater muß ein an Bildungsdingen interessierter Mann gewesen sein, sonst hätte er dem Sohne schwerlich schon in der Jugend den langen Romaufenthalt erlaubt (vgl. Sussman 20). Wahrscheinlich war es dieses Interesse, das die Verbindung zwischen dem hochgebildeten Stadtrömer Pollio und den Seneca knüpfen half.19 Sein Ziel war es einmal gewesen, die Ämterlaufbahn anzutreten (contr. 2, praef. 4 Mitte), aber er geriet in den Jahren, die dazu geeignet sind, in die Wirren Roms hinein, er gehörte zu der “lost generation between two successfull ones” (Griffin, Elder Sen. 9). Zu alt dazu geworden, gab er diese Hoffnung auf, widmete sich ganz dem Hören bedeutender Redner und schrieb ein Geschichtswerk (Griffin a. O. 9; Sussman 92); vielleicht verband ihn auch dieses mit Pollio, der ebenfalls Geschichte schrieb (RE 2, 1594, 58ff.). Diese Verbindung war immerhin so eng, daß der große Mann Seneca mithören ließ, wenn er seinen Enkel unterrichtete (contr. 4, praef. 2f.).

§ 17 Kurz vor der Jahrtausendwende unserer Zählung heiratete er eine noch recht junge Frau (Griffin a. O. 7). Über sie wissen wir nur, was der Sohn in seiner Trostschrift über sie sagt; z.B., daß sie an den liberalia studia (Helv. 17,3f.) interessiert war, an Dingen der Bildung. Aber ihr Mann hielt nichts davon, daß sie weiterhin derlei betrieb: „Hätte doch mein bester Vater, weniger althergebrachter Art verpflichtet, zugelassen, daß Du die Weisheitslehren nicht nur kennen gelernt, sondern in Dich aufgesogen hättest!“ Man erkennt aus diesen Worten des Sohnes (a. O.), wie die altväterische Art des Alten es nicht gern sah, wenn Frauen sich mit anderem als mit dem Haushalt beschäftigten. Diese junge Frau stammte ihrerseits aus begüterter Familie, war streng erzogen worden, jedoch nicht ohne daß einiger Wert auf ihre Bildung gelegt worden wäre.20 Wo sie aufwuchs, ist nicht sicher; vielleicht in Spanien, wie man seit Lipsius annahm; vielleicht stammte sie aber auch aus Italien, wie Sussman 21 meint. Doch kennt man eine Inschrift aus Spanien, auf der neben dem Namen Helvius auch der Name Novatus vorkommt, und das war der Name von Senecas ältestem Sohn, dem älteren Bruder des Philosophen also. J. M. Gleason21 glaubt, sicher zu Recht, diese Inschrift mit der Familie der Seneca in Verbindung bringen zu können – also doch Spanierin?

§ 18 Hierauf kommt indessen nicht so viel an; wichtig ist, daß der Sohn Lucius sowohl vom Vater das Interesse an Dingen der Bildung vermittelt erhielt wie auch von der Mutter: er war, so sollte man meinen, in einer Atmosphäre geistiger Regsamkeit aufgewachsen. Doch war er das wirklich? Hatte die Mutter überhaupt Einfluß auf ihn? Kam er nicht schon als Kleinkind nach Rom (§ 12)? Ob er dann doch noch längere Zeit in Spanien war, wissen wir nicht; dies aber können wir erahnen: er wurde schon ganz früh vom Vater nach Rom gebracht, damit er dann, wann er zu sprechen begönne, sogleich das feine Stadtrömisch lernen sollte und nicht die provinzlerischen Laute Cordubas.22

Und noch etwas scheint der Vater getan zu haben: wenn er dem philosophischen Einschlag in manchen zeitgenössischen Rednern, auch ihren barocken Neigungen nicht ablehnend gegenüberstand (s. § 21 und 24 Ende), wenn er also genau das wenn auch nicht lobte, so doch auch nicht abwies, was die Kennzeichen des Stils seines Sohnes sein sollten, dann wird zumindest eine Wurzel von dessen Stilwollen vom Geschmack des Vaters angeregt, wenn nicht gar gespeist worden sein.

17 Abel RE Suppl. 12,430,47ff.; über sie ist außer dem, was Seneca über sie dankbar erzählt, nichts bekannt.

18 M. Griffin, The Elder Seneca (JRS 62, 1972, 1ff.) datiert S. 4 seinen Tod in die J. 39/40 v. C., seine Geburt 50 n. C. (S. 5). – Ein französischer Chronist (bei R. Pernoud, Königin der Troubadoure, dtv 61987, 15; Chronik von Morigny) klagte, er ermangele der Beredsamkeit eines Cicero und des Gedächtnisses eines Seneca – wieso „Gedächtnisses“? Deswegen, weil er die mnemotechnische Bravourleistung des Vaters, noch als Neunzigjähriger in der Jugend Gehörtes aus dem Gedächtnis hinzuschreiben (Sussmann 92), für die des „Seneca“ hielt, ohne den Vater vom Sohn zu unterscheiden. Erst Raffaello Maffei (zu ihm M. E. Cosenza, Biographical and Bibliographical Dictionary of the Italian Humanists Bd. 3, 1962,2059, Nr. 3:1451–1522) unterschied die beiden (R. Sabbadini, Le scoperte dei codici latini e greci ne’ sec. XIV e XV, Bd. 2,178, Anm. 3), die auch noch Erasmus für eine einzige Person hielt (Ausg. Basel 1537, 485).

19 Sussman 29f.; Cic. fam. 10,31/33 zu Pollios Spanien-Aufenthalt. Der Vater Seneca verkehrte auch in einem so illustren Hause wie dem des Messalla Corvinus (suas. 3,6; dort traf er auch Gallio, der dann den älteren Sohn adoptierte: RE l,2236,67ff.; 10,1036,27ff.). Zu Senecas, des Vaters, Bedeutung als Rhetoriker J. Fairweather, Seneca the Elder, Cambridge 1981.

20 Abel, RE Suppl. 12,428,1ff. Zur Bildung der Mädchen zur Zeit des frühen Prinzipats Syme, Roman Aristocracy (1984), 347ff.

21 Class. Phil. 96, 1975, 278f.: M. Helvio Rufino … et M. Helvio Novato.

22 Vgl. § 15. – Senecas Bruder Mela tat mit seinem Sohn, dem späteren Dichter Lukan, ein Gleiches: RE 1,2227, 1ff.

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