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ZWEI PRÄMEDITATIONEN

War Seneca ein Philosoph?

Einige haben ihm diesen Ruhmestitel abgesprochen, andere haben sich darüber empört, daß man ihm einen Namen hat nehmen wollen, den er sich doch selber oft genug beigelegt hat. Man hat allerdings zumeist nicht recht dabei bedacht, was dieser Name für Seneca, was er für uns bezeichnet. Für uns ist ein Philosoph einer, der erkennen will und diese Erkenntnisse einschließt in einen großen, selber erdachten Zusammenhang und in ein originales System. Für Seneca ging es aber viel weniger um originale Erkenntnisse oder gar um ein eigenes System, als vielmehr um seinen eigenen, nie vollendeten Weg der Anwendung eines längst vorgedachten (s. § 101), schon vorliegenden, des Stoischen Systems, und zwar nach Maßgabe der jeweiligen besonderen Lebenslage und Lebensnotwendigkeit. Philosophie – das war ihm die ausschließliche Liebe zu und das unbedingte Streben nach Meisterung des Lebens aus dem Geiste der Stoa und dem Platos; seine sophia war die Lebens- und Sterbenskunst, nicht ein System. Er wollte zeigen und belehren, was Leben heißt, wollte die Menschen durch ethische Belehrung zum Bestehen des Lebenskampfes leiten. Er wollte nichts sein als Seelenleiter (s. § 297).

Von dieser Einsicht aus wird dann auch der Übergang zu seinen Tragödien leichter, mit denen viele, und nicht die Unkundigsten, so arge Schwierigkeiten haben. Hat man erst einmal das Wort Philosoph richtig verstanden als Namen eines Seelenleiters, der lehren will, was der Mensch, was die Umwelt und ihre Verführung ist und wie sie wirkt, auf daß der Mensch aus solcher Erkenntnis und der aus ihr folgenden Umwertung des bisher für werthaft Gehaltenen gelassen leben, gelassen sterben lerne, dann fügen die Tragödien sich diesem Wollen unschwer ein (s. § 297f.): auch sie wollen etwas zeigen, wollen keineswegs die philosophischen Lehrsätze exemplifizieren; sie wollen dem Menschen den Menschen zeigen, seine Gewalt, seine Verwirrung, seine Selbstzerfleischung im Banne falscher Werte, in der Ferne von der Erkenntnis dessen, wozu der Mensch auf der Erde ist: um für die Erhaltung der Welt und für den Mitmenschen zu wirken. Dies zu zeigen, ist die Absicht des vorliegenden Buches, das nicht nur Material bereitlegen, sondern zum Lesen anregen will, zur nach- und mitdenkenden Lektüre des Philosophen Seneca.

Vom Lesen

Den Gelehrten mag es freuen, hier ein Wort anders oder gar besser zu erklären, als es anderen gelungen; dort einen Zusammenhang zu erkennen, der anderen verborgen geblieben – aber der Laie? Kann er nicht einfach ein Buch zur Hand nehmen und lesen, auch wenn das, was er liest, vor zweitausend Jahren geschrieben wurde? Freilich; doch bald wird er Wörtern und Gedanken begegnen, die er nicht ohne Kommentar wird verstehen können. Er wird sich nach Erklärungen umsehen. Nun gibt es zwei Arten des Erklärens: die populäre Art zu erklären wird zuweilen „allgemeinverständlich“ genannt. Das soll doch wohl sagen: für jedermann verständlich. Und betrachtet man solche Erklärungen, dann tragen sie allesamt ein einziges Kennzeichen: sie erklären so, daß nichts Fremdes im Text bleibt; alles wird unmittelbar einsichtig gemacht und dies so, daß der Leser den Eindruck erhalten soll, das sei alles immer schon so gewesen wie jetzt, wie er es gewohnt ist.

Die wissenschaftliche Erklärung hingegen trägt Dinge herzu, die nicht jedermann gleich begreift. Sie versucht, den Text aus dem Denken, Erleben und alltäglichen Tun zur Zeit und am Ort des Verfassers zu erhellen. Und das bedeutet, daß vieles fremdartig bleiben wird. Um zu verstehen, was dieser Gegensatz von populär und wissenschaftlich im Kern bedeutet, blicken wir den Leser selbst an, nicht den Erklärer.

Der Leser wird, vereinfacht gesagt, aus zwei Gründen zu einem Buche greifen: zum einen kann er einfach „interessiert“ sein und wissen wollen, was „drin steht“. Er wird zu lesen beginnen und dann bald sagen, das sei „etwas für ihn“ oder nicht. Zum anderen kann ein Leser aus einer genau angebbaren Situation zu einem Buche greifen, das einen Titel trägt, der bewußt oder unbewußt in diese Situation paßt. Diese Situation ist dadurch gekennzeichnet, daß sie eine Not-Situation ist, die dazu treibt, sich nach Rat oder Hilfe umzusehen. Solche Leser lesen zumeist länger als die bloß Interessierten, sie werden sich dem Texte stellen, oder besser: nur wenn sie sich dem Texte stellen, wird er Rat oder Hilfe bieten. Weshalb das?

Der bloß Interessierte will nur unterhalten sein; er wird nur das lesen, was ihm „zusagt“, und das bedeutet: was so ist, wie es ihm paßt, wie er selber ist. Der Vergnügungsleser stellt keine Fragen, er konsumiert zu seinem Spaße, vor allem: er stellt sich selbst nicht in Frage. Ganz anders der Leser aus Not und Unbehagen: er will ja etwas aus dem Buche hören, das ihm helfen könnte. Und das kann ja nicht das sein, was er schon weiß, schon hat und schon selber ist. Der Not-Leser liest also nicht sich, sondern ein Fremdes.

Jetzt können wir die beiden Gedankenstränge dieser Vorbemerkungen zusammenführen. Eine Darstellung wie die Senecas wird nur dann hilfreich sein, wenn sie nicht populär erklärt, sondern das Fremde als Fremdes stehen läßt. Fremd muß dabei nicht „exotisch“ bedeuten, sondern es meint, daß diese Erklärung und Darstellung Seneca als einen anderen beläßt und ihn nicht populär an „unsere Zeit“ angleicht. Nur wenn er befremdet, wird er den Leser oder Hörer zum Nachdenken über sich selber bringen; nur wenn anderes als das längst Gewußte zu Gehör kommt, kann ein Dialog beginnen, der Dialog über den Leser.

Doch dies kann nur unter einer unverbrüchlichen Bedingung statthaben: wenn der Hörende oder Lesende sich offenhält; d.h., wenn er nicht – ähnlich dem bloß interessierten Lesen – allsogleich mit seinem eigenen Meinen und Beurteilen, mit dem vor- und überschnellen Scheinverstehen an den Text geht, sondern wenn er zunächst nur einfach zuhört. Kurzum: es ist „zuerst die Vorgabe des eigenen Schweigens verlangt. Erst in ihm kann das Hören beginnen“ (Boeder 258).

Und der Erklärer? Er darf sich nicht im Kleinen aufhalten, darf nicht Wortwahl, Komposition und Quellenerkundung zum obersten Ziele machen. „Das Verstehen findet… nicht in einer technischen Virtuosität des Verstehens von allem und jedem Geschriebenen Genüge“, so warnt H.-G. Gadamer (Wahrheit und Methode 41975, 463). Er warnt also vor dem bloß philologischen Brillieren im Erklären eines Textes als eines Fertigungsproduktes. Oberstes Ziel des Erklärens muß es sein, im Gebiete des Gedachten „echte Erfahrung, d.h. Begegnung mit etwas“ zu ermöglichen, „das sich als Wahrheit geltend macht“, diese Wahrheit als ein Sinnvolles verstanden. Ein solches Sinnvolles, das dem Leser im Fragen, im Befragen des Fremdartigen und Anderen zu sich selber führt, ergibt sich jedoch nur in einer – und dies ist die letzte, mahnende Zeile von Gadamers Werk – „Disziplin des Fragens und Forschens“ (465). Und ihr wollen wir uns unterwerfen.

Doch bevor wir beginnen, lohnt es sich, ein anderes Wort Gadamers zu bedenken. Er schreibt auf S. 121: „Weder das Fürsichsein des schaffenden Künstlers – etwa seine Biographie – noch das des Darstellers … hat angesichts des Seins des Kunstwerkes eine eigene Legitimation.“ Also keine Vita; und doch werden wir mit einer solchen beginnen – wieso?

Gadamer hatte nicht den Fall gemeint, der eintritt, wenn das Leben des Verfassers zum Instrument wird. Was heißt das? Ein Lehrer kann so leben wollen, wie er lehrt; er kann dann sagen, daß sein Leben, wenn es gut ist, zeigt, daß auch das gut ist, was er lehrt. D.h.: wenn ein Lehrer sein Leben, das er nach dem formt, was er als wahr erfahren hat, mutig und seiner selbst gewiß als Qualitätsbeweis einsetzt, dann ist dieses sein Leben kennenswert, oder doch zumindest befragenswert. Und darum beginnen wir mit dem Leben des Lucius Annaeus Seneca.

Seneca

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