Читать книгу Ausgewählte Reden - Gregor von Nyssa - Страница 16
3.
ОглавлениеWarum also erfaßt dich kein Mitleid mit Dem, was du wahrnimmst? Du siehst umherziehende Menschen wie Heerden zerstreut, um sich Nahrung zu verschaffen, zusammengeflickte Lumpen sind ihre Kleidung, ein Stock in den Händen ist ihnen Waffe und Fuhrwerk, und selbst dieser wird nicht mit den Fingern festgehalten, sondern ist mit gewissen Bändern an die Hände gebunden, ein zerlumpter Quersack, ein verfaultes und schimmliges Stück Brod, Herd, Haus, Lager, Bank, Schatzkammer, Tisch, ganze Einrichtung ist ihnen der Quersack. Und dann erwägst du nicht, wer es ist, der sich in solcher Lage befindet? Ein Mensch, der nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, der beauftragt ist, über die Erde zu herrschen, dem die unvernünftigen Thiere zu seinem Dienste unterworfen sind, ist in solches Unglück gestürzt, und es ist mit ihm eine solche Veränderung vor sich gegangen, daß die Erscheinung zweifelhaft ist, indem er weder ohne Beimischung die Merkmale eines Menschen noch die deutlichen Merkmale irgend eines anderen lebenden Wesens an sich trägt. Vergleichst du ihn mit einem Menschen, so paßt zur menschlichen Figur die Mißgestalt nicht. Ziehest du die unvernünftigen Thiere zum Vergleiche herbei, so bieten auch diese keine ähnliche Erscheinung. Da sie allein so beschaffen sind, so schauen sie auf sich allein und schaaren sich wegen der Gleichheit ihres Zustandes zusammen, und während sie von Andern verabscheut werden, zwingt sie die Noth, sich gegenseitig nicht zu verabscheuen. Denn da sie überall verdrängt werden, werden sie ein eigenes Volk, indem sie von allen Seiten zusammenströmen. Siehst du die unergötzlichen Tänzer unter Trauer und Seufzern diesen Tanz aufführen? Wie prunken sie mit ihren Mißgeschicken? Wie stellen sie die mißgestaltete Natur an sich zur Schau, indem sie der zusammenströmenden Menge wie Komödianten ihre vielfältigen Krankheiten sehen lassen? Sie erscheinen als Dichter von Klageliedern, als Sänger jener schlimmen Gesänge und führen dieses seltsame und unglückliche Trauerspiel auf, indem sie nicht fremde Trauerfälle zur Erregung der Gefühle gebrauchen, sondern mit ihren eigenen Leiden die Bühne erfüllen. Was für Gestalten, was für Erzählungen! Was für Worte vernehmen wir von ihnen! Wie sie von ihren Eltern ohne alles Verschulden verstoßen wurden, wie sie aus den gemeinsamen Versammlungen, Festen und Feierlichkeiten vertrieben werden, wie wenn sie Blut vergoßen hätten oder Vatermörder wären, zu ewiger Verbannung verurtheilt oder vielmehr noch unglücklicher als diese. Denn die Mörder können sich anderswohin begeben und unter Menschen leben, sie allein sind von allen Seiten von Allem ausgeschlossen, wie wenn sie als gemeinsame Feinde erklärt wären. Nicht des nämlichen Daches, nicht des gemeinsamen Tisches, nicht der Benützung der Geräthschaften werden sie für würdig erachtet. Und das ist noch nicht das Schlimmste. Nicht einmal die hervorsprudelnden Quellen haben sie mit den Menschen gemeinsam und nicht einmal von den Flüssen glaubt man, daß sie von der Befleckung der Krankheit Nichts an sich ziehen. Und wenn ein Hund mit seiner blutbefleckten Zunge an das Wasser leckt, so glaubt man wegen des Thieres das Wasser nicht verabscheuen zu dürfen; wenn aber der Kranke dem Wasser naht, so wird sogleich auch das Wasser wegen des Menschen vermieden.
Solche Reden führen sie, so jammern sie. Deßhalb werfen sich die Unglücklichen von Noth getrieben vor den Menschen nieder und flehen einen Jeden an, der an ihnen vorübergeht. Oft beweine ich dieses betrübende Schauspiel. Oft bin ich auf die Natur selbst ungehalten, und selbst in diesem Augenblicke macht mich die bloße Erinnerung bestürzt. Ich sehe ein jammervolles Elend, ich sehe ein Schauspiel reich an Thränen. Es liegen Menschen an den Wegen beim Vorübergehen, oder vielmehr nicht mehr Menschen, sondern unglückliche Überreste der ehemaligen Menschen, die gewisser Kennzeichen und Merkmale bedürfen, um als Menschen erkannt zu werden. Denn nicht können sie als Menschen an den Kennzeichen der Natur erkannt werden, da sie allein unter Allen sich verabscheuen und allein ihren Geburtstag verfluchen, ― denn sie verabscheuen mit Recht jenen Tag, der für sie der Anfang eines solchen Lebens war, ― Menschen, die sich sogar schämen, sich mit dem gemeinsamen Namen zu benennen, um nicht durch die Gemeinschaft des Namens die gemeinsame Natur in sich zu verhöhnen. Beständig führen sie ihr Leben unter Wehklagen, und nie mangelt es ihnen an Stoff zu Thränen. Denn so lange sie sich sehen, haben sie beständig Veranlassung, zu weinen, und sie wissen nicht, worüber sie mehr jammern sollen, über Das, was sie von ihrem Körper nicht mehr besitzen, oder über Das, was ihnen davon noch übrig geblieben ist, über Das, was die Krankheit zuvor aufgezehrt hat, oder über Das, was für die Krankheit noch zurückgeblieben ist, daß sie solches an sich sehen, oder daß sie es nicht einmal sehen können, weil durch die Krankheit die Sehkraft vernichtet wurde, daß sie Solches von sich erzählen können, oder daß sie nicht einmal im Stande sind, ihre Leiden zu erzählen, weil die Krankheit sie der Stimme beraubt hat, daß sie eine solche Nahrung zu sich nehmen, oder daß es ihnen nicht einmal für diese leicht fällt, da die Krankheit durch die Zerstörung der um den Mund gelegenen Körpertheile dem Essen hinderlich ist, daß sie, obschon sie empfinden, das Unglück der Leichname ertragen, oder daß ihnen die Empfindung selbst geraubt ist. Denn wo ist bei ihnen das Gesicht, wo der Geruch, wo der Tastsinn? Wo sind die übrigen Sinne, welche, indem die Krankheit sich allmählig ausdehnt, von der Fäulniß verzehrt werden? Deßhalb irren sie in allen Gegenden herum und ziehen gleich wie die unvernünftigen Thiere der fetteren Weide wegen von einem Ort zum andern, indem sie als Mittel zum Nahrungserwerb das Unglück mit sich herumführen und, anstatt ihre Hände flehend auszustrecken, die Krankheit zur Schau stellen.
Und da sie wegen ihrer Presthaftigkeit eines Führers bedürfen, so stützen sie sich wegen ihrer Noth gegenseitig selbst. Denn da sie einzeln für sich ohnmächtig sind, so dienen sie Einer dem Andern zur Stütze, indem Einer von den Gliedern des Andern statt der ihm mangelnden Gebrauch macht. Denn sie erscheinen nicht einzeln, sondern auch das Elend ist erfinderisch für die Befriedigung der Lebensbedürfnisse, indem sie miteinander gesehen werden wollen. Denn da sie alle einzeln für sich bejammernswerth sind, so vermehren sie, um die Menschen mitleidiger zu stimmen, miteinander das Leiden, indem sie ihren schlimmen Beitrag zum Gemeinwesen leisten und ein Jeder durch irgend ein anderes Unglück für sich zum Mitleid beiträgt. Es streckt der Eine die verstümmelten Hände hin, ein Anderer zeigt den aufgedunsenen Bauch, wieder Einer das entstellte Gesicht und ein Anderer das faulende Bein. Und was für einen Theil des Körpers er immer entblößen mag, so zeigt er an demselben sein Leiden.