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KAPITEL 05
ОглавлениеDer Mühlenkomplex, Baikalsee – erster Morgen
Marcus wachte genau im Morgengrauen auf, umgeben von einer Stille, die so allumfassend war, dass sie sich absolut unnatürlich anfühlte. Er lag einfach nur da und starrte zur Decke hinauf. Daheim in Madeira Beach gab es Möwen, die den nahenden Sonnenaufgang begrüßten, das Geräusch von an goldenem Sand brechender Brandung und, wenn er Glück hatte, war Sara schon auf und kochte Kaffee.
Doch hier am See kam er sich vor wie im Innern eines Grabes. Er blinzelte einige Male und spürte die Kälte an seiner Nase, da das Haus noch nicht richtig beheizt war. Er warf die Decken zurück und schwang die Beine über den Bettrand.
»Ahh.« Er riss die Füße hastig wieder hoch und wünschte sich, er könne zurück unter die Decken, oder besser noch, mit Sara zusammen darunter krabbeln. Er vermisste sie jetzt schon furchtbar. Er hatte letzte Nacht versucht, sie anzurufen, hatte aber keinen Empfang gehabt, da das Signal mal wieder komplett verschwunden gewesen war. Irgendeine seltsame Eigenschaft dieser Gegend sorgte dafür, dass die Radio-, Satelliten- und wahrscheinlich sogar die Rauchsignale ständig blockiert waren.
Er setzte die Füße wieder vorsichtig auf den Boden, stand auf und trottete dann zum Fenster, das auf den See hinausging. Dieser war wie eine eisengraue Wüste, die so still und unbewegt war wie eine schmutzige Glasscheibe. Kleine Schwaden kalten Nebels hingen darüber, und von hier aus war es ein Leichtes, zu verstehen, warum die ersten Entdecker ihn für ein Meer gehalten hatten, da auf der anderen Seite kein Ufer zu sehen war. Marcus fand ihn ebenfalls so groß und endlos wie jeden Ozean, auf dem er je gewesen war.
Während er hinausschaute, entdeckte er zwei Männer – Pavel und seinen Sohn Nikolai, vermutete er – die über das Gelände gingen und Feuerholz sammelten. Beide hatten ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen und ihr Atem dampfte in der windstillen Luft wie der von Rennpferden.
Marcus versuchte, die unglaubliche Menge von Aufgaben, die er nun bewältigen musste, zu überdenken, und jetzt, wo er hier war, war es an der Zeit, diese weiterzuentwickeln und Prioritäten zu setzen. Die Reinigung, Renovierung und Einrichtung des Labors war natürlich vorrangig, denn seine Anlagen mussten topp in Schuss sein, damit die Föderale Behörde für Fischerei und Bestandserhaltung die Fische auch freigab. Bevor sie das tat, würde sie ihm nämlich garantiert einen Besuch abstatten wollen.
Er hatte den Vertrag zwar in der Tasche, aber es lagen dennoch mehrere Hürden auf seinem Weg, und wenn er über eine von ihnen stolperte, würde das gesamte Projekt verzögert, mit einer Strafe belegt oder sogar abgebrochen werden, und er zweifelte stark daran, dass es eine Entschädigung für aufgewendete Mittel geben würde, falls so etwas geschah.
»Hängt ja nicht viel davon ab.« Er schnaubte. »Nur einfach mein ganzes Leben.«
Er hörte, wie an einem Ende des Mühlen-Anwesens Holz gefällt wurde, und da er bezweifelte, dass es Yuri war, musste es einer der hiesigen Russen sein. Er entschied spontan, den Männern einen festen Arbeitsplatz anzubieten – vielleicht mit einer dreimonatigen Probezeit, um ihnen erst mal richtig auf den Zahn fühlen zu können.
Denn brauchen konnte er sie auf jeden Fall, und schon nach nur wenigen Stunden hatte er den Eindruck gewonnen, dass sie vertrauenswürdig, ziemlich sympathisch, wenn auch ein wenig abergläubisch waren.
Außerdem konnten sie auf diese Weise direkt heute mit den Umbauarbeiten beginnen. Yuri könnte im Bedarfsfall ja noch weitere professionelle Handwerker für die komplexeren Arbeiten organisieren. Er würde auch Spezialisten für den Laboraufbau hinzuziehen müssen … noch so eine Sache auf seiner Dringlichkeitsliste.
Marcus ging zu seinem Bett zurück, wo in der Nähe eine Schüssel mit Wasser und ein kleines Handtuch auf ihn warteten. Er stand einige Sekunden lang da und schaute darauf hinab, ehe er schließlich vorsichtig die Hände hineintauchte, eine doppelte Handvoll eiskalten Wassers aufnahm und es sich kurzerhand ins Gesicht spritzte. Es war genauso kalt, wie er erwartet hatte, und umgehend war er vollständig wach. Er trocknete sein Gesicht ab. Er fühlte sich zwar erfrischt, konnte sich aber trotzdem nicht dazu durchringen, seinen gesamten Körper mit dem eiskalten Wasser zu waschen, daher zog er sich stattdessen hastig einen dicken Pullover über.
Anschließend lief er pfeifend die Stufen zur Eingangshalle hinunter und öffnete die Tür. Augenblicklich wurde er mit Holzrauch, beißender Morgenluft, und dem Geräusch von Zweigen, die für ein Feuer zerbrochen wurden, konfrontiert.
Er trat auf die Holzveranda hinaus und zog den Kragen etwas höher. Er blickte über das Gelände. Die Gärten des Mühlenkomplexes waren zu dürren, toten Bäumen verkümmert, das Gras war wie Heu und alles andere war schneebedeckt. Doch er war sich sicher, dass Yuri einige Obstbäume beschaffen könnte, und da seine Frau nicht vor dem späten Frühling ankommen würde, würden sich ihre Blüten vielleicht gerade rechtzeitig zeigen, um der Umgebung etwas Farbe und Wohlgeruch zu verleihen.
Dann kämen auch die Schmetterlinge und Vögel. Unser russischer Garten Eden, dachte er und lächelte. Sara würde es lieben. Denn wenn es eine Tierwelt gab, würde sich Sara, die Naturliebhaberin, bestimmt sofort ganz wie zu Hause fühlen.
Marcus hielt kurz inne, und lächelte deswegen. Er erinnerte sich auf einmal daran, wie sie einen kleinen, grünen Vogel gefunden hatte, der ganz benommen gewesen war, nachdem er gegen eines ihrer Fenster geflogen war. Sie hatte ihre gewölbten Hände geöffnet und er war dagesessen, hatte sie beide angesehen und es sich dann einfach gemütlich gemacht, als fühlte er sich in ihren warmen, sicheren Händen absolut geborgen. Sie ist eindeutig ein Freund der Natur, dachte er.
Er erkannte, dass es über Nacht wieder geschneit haben musste, da alles mit einer neuen glänzend weißen Puderschicht bedeckt war. Weiter unten konnte er knöcheltiefe Gräben erkennen, die von den Russen im Schnee erzeugt worden waren, als sie sich während ihrer morgendlichen Aufgaben hin und her bewegt hatten.
Er spähte jetzt direkt auf den Schnee vor seinem Haus hinunter, denn dort befanden sich noch andere Spuren … merkwürdige, von denen er nicht wusste, woher sie stammten.
Marcus stieg jetzt einige der Stufen hinab und entdeckte, dass die Spuren bis zu dem Absatz führten, auf dem er stand. Er war zwar nicht gerade ein Naturbursche, aber sie sahen nicht wie etwas aus, das er schon einmal im Leben gesehen hatte. Sie hatten einen Abstand von ungefähr sechzig oder neunzig Zentimetern und waren parallel, so als wären die Beine des Lebewesens weit abgespreizt gewesen. Außerdem mussten sie spitz zulaufen, was ihn eher an ein Insekt oder Krustentier erinnerte als an ein Landsäugetier.
Marcus versuchte zu enträtseln, um was es sich dabei handeln konnte, doch ihm war klar, dass ihm keine Zuordnung gelingen würde. Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. Winzige Hufe oder Pfoten an äußerst dünnen Beinen. Oder vielleicht etwas wie ein Storch. Diese Idee verwarf er allerdings sofort wieder, weil es dafür eindeutig die falsche Jahreszeit war.
Es machte ihm nichts aus, wenn sich die Tierwelt auf ihr Gelände vorwagte, solange es keine Bären oder Wölfe waren, oder etwas, das ihnen gefährlich werden konnte. Er gab es schließlich auf, eine Antwort zu finden, nahm sich aber vor, Yuri später danach zu fragen.
Rauch waberte über das offene Gelände und er sah, dass der große Russe gerade einen Rost über der offenen Flamme platzierte und eine metallene Kaffeekanne in die Mitte schob. Sie hatten wohlweislich einige Vorräte mitgebracht und besaßen daher für den Augenblick reichlich Eier, Speck und Brot zum Rösten, und er freute sich schon sehr auf das herzhafte Frühstück.
Yuri hatte außerdem einen Tank mit Dieseltreibstoff für den Generator mitgebracht. Eine seiner vielen Aufgaben bestand darin, diesen zum Laufen zu bringen, damit sie hier Strom hatten. Wenn der Generator erst mal funktionierte, würde er aber trotzdem noch ein Notstromaggregat kaufen. Wenn nicht, müsste er zwei bestellen – das war auch bereits im Budget eingeplant, denn es war eine absolute Notwendigkeit. Wenn er ein funktionsfähiges und zuverlässiges Labor haben wollte, dann konnte er nicht das Risiko eingehen, dass der Strom ausfiel. Denn wenn das geschah, würden all seine Proben, Fischeier, Sprotten und alles andere, das er bei kontrollierter und konstanter Temperatur aufbewahren musste, zerstört werden.
Er ging auf das Feuer zu, und Yuri sah auf und grinste.
»Dobroye utro.«
»Dir auch, Großer«, antwortete Marcus.
Yuri schob noch zusätzliche Scheite ins Feuer, was die Kanne schnell zum Kochen brachte und die Luft mit dem köstlichen Geruch von dunklem und starkem, russischem Kaffee füllte.
Er hoffte, dass Yuri etwas warten würde, bis die Flammen ein wenig heruntergebrannt waren, bevor er etwas in der gusseisernen Pfanne briet, aber Kaffee war immer der erste Punkt auf seiner Tagesordnung.
Der Geruch zog offenbar auch die anderen Männer an, denn vom ganzen Gelände her kamen jetzt Dimitri, Pavel und sein Sohn Nikolai, sowie Leonid heran.
Sie setzten sich, jeder mit einem Kaffee, um das Feuer, und Marcus machte sich daran, die Aufgaben des Tages zu verteilen. Yuri würde den Generator überprüfen, die Männer würden nachsehen, welche Arbeiten an den Hütten vorgenommen werden mussten, und Leonid bekam die Aufgabe, weitere Bereiche des Mühlenkomplexes zu säubern.
Innerhalb der nächsten zehn Minuten schob Yuri mehrere Stahltöpfe auf das Feuer, schlug Eier auf und briet Speckstreifen in Entenfett in der Pfanne. Marcus wusste nicht, ob es an der belebenden Luft lag, aber der Geruch war absolut betörend und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Das Brot wurde kurzerhand auf Stöcke gespießt und zum Rösten nah ans Feuer gehalten. Dimitri holte währenddessen ein großes Glas bernsteinfarbenen Honigs hervor, den er selbst während des Sommers von einem Bienenstock in der Gegend gesammelt hatte. Darin trieben eine Honigwabe, Zweige und etwas, das wie die sterblichen Überreste von Bienen aussah, die ein wenig zu langsam gewesen waren, um seiner Tüchtigkeit zu entkommen.
Das Frühstück dauerte länger als erwartet, und Marcus stellte fest, dass er die Gruppe der Männer, die fortan mit ihm arbeiten würde, wirklich mochte. Denn alle schienen Erfahrung, Sinn für Humor, sowie gute Verbindungen zur hiesigen Jakut-Gemeinde zu haben, was äußerst wertvoll war, da er mit all seinen Nachbarn auf gutem Fuß stehen wollte.
Eine Sache, die Marcus tun wollte, solange das Wetter noch mitspielte, war, zu den aufragenden Felshügeln zu gehen, die ein paar Kilometer die Küste hinauf standen. Er hatte vor, sie zu besteigen, um in der Vogelperspektive auf den See blicken zu können, und auf diese Weise vielleicht einige Möglichkeiten für Gehege-Standorte bestimmen zu können. Wonach er Ausschau halten würde, wäre eine nahe gelegene aber geschützte Stelle. Dann könnten er und Yuri aufs Eis gehen, ein Loch hineinschneiden und die Tiefe mittels Kameras und Wasser-Topologie-Kartierung überprüfen.
Nach weiteren zwanzig Minuten war das Frühstück schließlich beendet und die Aufgaben für sein Team verteilt, daher packte Marcus einen Rucksack und machte sich gerade bereit, aufzubrechen als Yuri ihn stoppte.
»Bitte, lass mich mitkommen.« Er hob seinen Mantel an, um den Revolver an seiner Hüfte zu präsentieren. »Bären«, sagte er knapp.
»Danke, aber mir passiert schon nichts. Außerdem hat es höchste Priorität, unseren Generator zum Laufen zu bringen … und das ist nun mal deine Aufgabe, Mister.« Er wollte sich wieder umdrehen, spürte aber, wie sich die Hand des großen Russen auf seine Schulter legte.
»Dann nimm wenigstens einen der anderen Männer mit, bitte, Marcus.«
In Yuris Gesicht war echte Sorge zu lesen und das beunruhigte ihn genug, um ihn nachdenklich werden zu lassen. »Bären, hm?«
Er seufzte und dachte sich, dass ein einheimischer Führer ja nicht schaden könnte. Er drehte sich um und sah, dass Pavels Sohn Nikolai gerade eine neue Kanne Kaffee auf den Rost über den noch heißen Kohlen schob. Angesichts seiner Absicht, den jungen Mann zu seinem Labortechniker auszubilden, was eine ungemein wichtige Rolle war, würde es bestimmt nicht schaden, ein intensiveres Vorstellungsgespräch mit ihm zu führen.
»Nikolai, hast du Lust, heute ein bisschen Wandern zu gehen?«
Der junge Mann nickte begeistert. »Klar, ich liebe Wandern. Wann denn?«
»Jetzt«, antwortete Marcus grinsend. »Zu den hohen Felswänden entlang der Küste.«
»Die kenne ich.« Nikolai hielt einen Finger in die Höhe. »Einen Moment bitte.«
Er eilte davon, vermutlich, um seinem Vater kurz Bescheid zu sagen und seine eigene Ausrüstung zu holen. Innerhalb weniger Minuten kam er mit einem gepackten Rucksack zurück, in den er jetzt hineinspähte.
»Ich habe Cracker, Dörrfleisch und eine zusätzliche Wasserflasche für uns eingepackt.« Er grinste.
»Gut gemacht.« Marcus entdeckte außerdem, dass ihm ein fünfundzwanzig Zentimeter langes Jagdmesser vom Gürtel baumelte. Vielleicht hatte Yuri die Geschichte über die Bären ja doch nicht nur erzählt, um ihm einen Schrecken einzujagen.
Marcus sah auf die Uhr, es war kurz vor acht. Er winkte Yuri zu und sagte: »Wir sind am Nachmittag wieder zurück. Wenn wir bei Anbruch der Nacht allerdings noch nicht da sind, schick bitte einen Suchtrupp los.« Er grinste wegen seines Scherzes, aber Yuri blickte ihn nur düster an.
»Habt viel Glück.« Yuri winkte und beobachte sie solange, bis sie den gesamten Mühlenkomplex überquert hatten und aus seiner Sichtweite verschwunden waren.