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Sylt - Mittwoch, 19. Mai

Unüberhörbar und aufdringlich klingelte das Telefon. Unterbrochen nur hin und wieder von einer kleinen Pause, um dann erneut im unnachgiebigen Stakkato fortzufahren. Es war früher Morgen. Bellas Gefühl nach noch weit vor sieben Uhr.

„Welcher Trottel ist das denn?“ Bella zog sich das Kissen über beide Ohren. Sie war todmüde. Erst spät am Abend war sie von ihrer Geschäftsreise aus Italien und Portugal nach Sylt zurückgekehrt. Mit dem Flieger. Auch wenn das am bequemsten gewesen war, was sie jetzt brauchte, war Ruhe. Ruhe und Stille, um den dringend notwendigen Schlaf nachzuholen, den sie in den letzten Tagen viel zu wenig bekommen hatte. Heute war ihr freier Tag. Das Privileg, nach einer Geschäftsreise einen Tag frei zu haben, hatte sie sich schwer bei ihrem Bruder erkämpfen müssen.

Isabell Boysen, von Familie und Freunden Bella genannt, weil der Vater sie von klein auf so gerufen hatte, war mit ihrem Bruder Raik gemeinsam Eigentümerin von vier exquisiten Schuh-Stores Luxus&Me(h)er in Westerland, Keitum, Kampen und in Hamburg. Die beiden hatten das elterliche Erbe wie selbstverständlich übernommen und so ihre Aufgaben gefunden. Es war das Einfachste und Lukrativste gewesen, so weiterzumachen, wie sie es von Kind auf gelernt hatten. Und da beide in ähnlicher Weise gedacht hatten, brauchte das Erbe nach dem frühen Tod ihrer Eltern nicht aufgeteilt zu werden, was sich als absoluter Glücksfall herausstellte. Raik und Bella waren sich schnell einig gewesen.

Raik, der mit Daike verheiratet war und zwei Kinder hatte, Tomke und Joris, war ins elterliche Reetdachhaus eingezogen, das direkt in Westerland stand. Es war praktisch, schnell im Geschäft zu sein und die Kinder in der Schule, nur wenige Straßen entfernt, gut aufgehoben zu wissen.

Bella, ihres Zeichens Single, hatte das Anwesen in Keitum geerbt, ausgebaut und so nicht nur eine schöne Wohnung für sich, sondern auch noch zwei Ferienwohnungen und einen der Schuh-Stores auf ihrem Grundstück. Diesen Laden in Keitum hatte Bella erst vor knapp acht Jahren eröffnet, nachdem sie, Raik und Daike gemerkt hatten, dass immer mehr betuchte Touristen in Keitum Urlaub machten und direkt im Ort das Shopping-Erlebnis suchten.

Raik und Bella hatten enormes Glück gehabt, dass die Eltern schon vor vielen Jahren in der Lage gewesen waren, zwei Häuser in Westerland und etwas später das große Grundstück in Keitum kaufen zu können. Auch die Eltern hatten geerbt und ihr Geld sofort und gut investiert. Der Vater war durch und durch Kaufmann gewesen. Die Familie hatte enorm von seinem Wissen und kaufmännischem Geschick profitiert. Und das bis zum heutigen Tag.

Mittlerweile waren die Grundstückspreise in astronomische Höhen geschossen. Das Leben auf Sylt war unglaublich teuer geworden und musste hart erarbeitet werden. Das gemeinsam verwaltete Erbe vereinfachte dies aber enorm. So hatte es bisher nie Streitigkeiten gegeben, was das Finanzielle betraf. In anderer Weise natürlich schon, da standen sich Raik und Bella oft in nichts nach. Aber dass sie auf Sylt leben und bleiben wollten, war von den Geschwistern nie infrage gestellt worden. Sylt war für Touristen wie Einwohner ein Sehnsuchtsort, die die Nordsee mit ihren ganz unterschiedlichen Stimmungen und Wetterbedingungen sowie die riesigen scheinbar schier unendlichen Sandstrände liebten. Sylt bot seinen Besuchern viel. „Viel“ für die Touristen war aber auch immer mit viel Arbeit für die Einheimischen verbunden. Arbeit, die sich oftmals hinter den Kulissen abspielte und von deren Geschäftigkeit Touristen nichts mitbekommen sollten.

In den letzten Tagen hatte Bella für ihr Unternehmen mal wieder die kleinen Schuh- und Taschenmanufakturen zunächst in Italien und anschließend in Portugal aufgesucht und die erlesensten Schuhe erworben, beziehungsweise in Auftrag gegeben. In diesen Manufakturen wurden nur ganz wenige von jedem Modell und in jeder Größe produziert. Einige waren per se Einzelpaare, kreiert vom Schuhmachermeister mit viel Liebe zum Detail. Etliche wurden aber auch nach den individuellen Wünschen und Vorstellungen ihrer zukünftigen Träger angefertigt, wofür Bella sorgte, wenn sie vor Ort in Italien oder Portugal war. Bella stand in enger Verbindung mit ihrer Stammkundschaft, die alljährlich auch deshalb wieder nach Sylt kam, um in den Genuss dieser einzigartigen Schuhe zu gelangen. In persönlichen Gesprächen mit den Meistern ihres Fachs in ihren kleinen Betrieben wurde nahezu jeder Wunsch erfüllbar, so denn das nötige Geld floss. Und es floss. Reichlich.

Auch die Handtaschen waren zumeist Unikate, unverwechselbar und wunderschön zugleich. Versehen mit all jenen Accessoires, die auch die zukünftigen Trägerinnen stylisch aussehen ließen. Alles, Schuhe wie Taschen, waren Kunstwerke und ihnen gemeinsam war das Versprechen von Langlebigkeit und Tragekomfort. Ausgefallene Textur- und Farbkombinationen, gezielt eingesetzte Raffinessen, hier und da ein Stück Eigenwilligkeit in Kombination mit präzise eingesetztem Knowhow, rundeten die qualitativ hochwertigen und hochpreisigen Modelle formvollendet ab. Sylt hatte die Kundschaft dafür, Hamburg natürlich auch. Das Besondere an Boysens Geschäften war daher auch diese Form der Individualität als Alleinstellungsmerkmal, die auch dem zukünftigen Träger geschickt vermittelt und von vielen verinnerlicht wurde.

Damit das gelang, übte Bella ihre Arbeit qualifiziert und äußerst professionell rund um die Uhr und zu allen Jahreszeiten aus, von vier Urlaubswochen pro Jahr mal abgesehen. Nach den vielen Jahren, die Bella schon im Geschäft durchlebt hatte, war ihr Alltag gut strukturiert und geplant.

Vom Gefühl her glich ein Tag dem anderen. Und das, obwohl Bella mehrmals im Jahr nach Italien und immer häufiger auch nach Portugal zu den kleinen Familienbetrieben reiste. Trotzdem, vor allem auch zu den Saisonzeiten, ähnelten sich die Tage, einer wie der andere. Genossen die Urlauber Meer, Sonne, Wind und Wellen oder abends die zahlreichen Konzerte in der Konzertmuschel auf der Seeuferpromenade, was Bella ihnen von Herzen gönnte, winkte ihr, nachdem die Geschäfte geschlossen waren, noch lange kein Feierabend. Natürlich hatten sie Personal angestellt und auch Daike war, vor allem in Kampen, unermüdlich in den Stores beschäftigt. Trotz allem blieb aber reichlich Arbeit für Bella und Raik übrig. Beide waren es nicht anders gewohnt und arbeiteten oft bis spät in die Nacht. Sie hatten bereits als Jugendliche im elterlichen Betrieb ausgeholfen und sich in den Nachmittags- und Abendstunden sowie in den Ferien ihr Taschengeld verdient. Die Aufgaben, die die Eltern ihnen zugetraut hatten, waren immer größer geworden, was Bella und Raik sehr gefallen hatte. Und schließlich, nach dem plötzlichen Tod der Eltern, hatten Bella und Raik wie selbstverständlich die Geschäfte weitergeführt, wie sie es quasi mit der Muttermilch aufgesogen hatten.

Doch jetzt, jetzt nach all diesen Jahren, Bella wurde bald 40, fühlte sich Bella nach ihrem letzten anstrengenden Trip dermaßen ausgelaugt und ausgepowert, wie sie es lange nicht mehr gewesen war. Doch es nützte nichts, das Telefon behielt das lärmende Stakkato bei und erhielt von ihrem Smartphone auf dem Nachttisch prominente Unterstützung. Es brachte nichts, beides noch länger zu ignorieren.

„Ja?“, muffelte Bella dann auch schließlich in den Telefonhörer hinein. „Wer ist denn da?“

„Ich bin´s, Bella. Du musst unbedingt sofort zum Laden nach Kampen kommen. Daike kann heute nicht.“ Raiks Stimme drang durchdringend an Bellas Ohr. „Hörst du, Bella? Daike fällt heute aus. Und ich selbst bin im Hauptgeschäft in Westerland. Und Frau … “

Bella fiel ihm ins Wort und betonte einige der Worte herausfordernd. Ihr war klar, Raik würde sie sonst sowieso nicht ernstnehmen: „Raik, ich bin erst vor wenigen Stunden aus Italien wiedergekommen und bin fix und fertig. Wir hatten verabredet, dass ich am nächsten Tag immer frei nehmen kann. Ich muss heute noch dringend zur Bank, in meinem Kühlschrank regiert eine gähnende Leere und außerdem hast du mich aufgeweckt. Ich …“

„Das weiß ich doch, Bella“, drückte Raik in seiner unnachahmlichen Art Verständnis aus, wie immer, wenn er etwas bei Bella erreichen wollte. „Aber es ist ein Notfall. Daike geht es gar nicht gut. Sie kann nicht arbeiten. ES GEHT NICHT!“ Raik begann jeden einzelnen Buchstaben endlos zu dehnen, was Bella zur Weißglut nervte.

„Was soll das heißen, es geht nicht? Hast du schon mal auf die Uhr geschaut? Ich habe FREI.“ Bella fiel in das gleiche Taktmaß ihres Bruders. „FINITO. Schluss. Ich bin fix und fertig.“ Bella warf den Hörer ins Regal, drehte sich auf die andere Bettseite und wollte einfach nur weiterschlafen. Wieder schrillte das Telefon. Raik ließ nicht locker. Wie so häufig nicht. Bella musste immer wieder einspringen, wenn in seiner Familie etwas Unvorhergesehenes passierte.

„Heute nicht“, grummelte Bella ins Kopfkissen und ließ das Telefon einfach Telefon sein. Es nervte. Raik nervte. Fürchterlich.

Schließlich war Bella so wach, dass es einfach keinen Sinn mehr machte, an Schlaf zu denken. Sie stieg aus dem Bett, ging ins Bad und stellte bei ihrer Rückkehr erstaunt fest, dass Raik doch tatsächlich klein beigegeben hatte. Beide Telefone, Handy und Mobilteil, waren in einen tiefen Schlaf gefallen. „Na toll“, stöhnte Bella, „da hätte ich ja auch gleich liegenbleiben können. Da ich nun aber schon mal angezogen bin, kann ich mir auch erstmal einen Kaffee machen.“ Gesagt, getan. Und während der Kaffeeautomat mahlend und zischend seine Arbeit verrichtete, bereitete sich Bella von den kärglichen Brotresten im Kühlschrank eine kleine, magere Stärkung.

Im nächsten Moment klingelte es wieder. Sturmmäßig. Dieses Mal an der Haustür. Vor eben dieser stand Raik, der sich, kaum, dass Bella die Tür geöffnet hatte, wortgewandt Gehör verschaffte. Bella hätte ihm die Tür am liebsten an den Kopf geknallt. Das Ende vom Lied war jedoch, dass Bella sich nun doch nach Kampen aufmachte, um die Reichen und scheinbar Schönen mit herzlichster und freundlichster Miene zu bedienen. Und das, obwohl in ihr selbst die widerstrebendsten Gefühle kämpften. Hätte irgendjemand Bella nach ihren Emotionen gefragt, derjenige wäre verwundert rückwärts aus dem Geschäft geeilt. Aber da niemand fragte, erfuhr auch niemand davon. Wenig später sollte Bella aber sagen, dass an diesem Morgen der glücklichste Moment ihrer neuen Zukunft eintrat und ihr eine neue, nie gekannte, erfrischende, geradezu himmlische Dimension hinzufügte, die sich Bella niemals hatte vorstellen können und die sie somit auch nie erhofft hatte. Ab jetzt sah Bella all das Geschehene an diesem Morgen als Fügung an. Es ist schon erstaunlich, wie wandelbar der menschliche Geist ist, wenn nur die richtigen Stellschrauben ihre Position gefunden haben. Bei Bella jedenfalls legten sie eine Punktlandung hin.

Im Schatten des Betrügers

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