Читать книгу Im Schatten des Betrügers - Gretchen Hilbrands - Страница 5
ОглавлениеSylt - Mittwoch, 19. Mai
Bodo von Hohenstedt genoss das herrliche Sonnenwetter auf der Uferpromenade in Westerland. Sylt füllte sich mehr und mehr. Die Touristen strömten geradezu auf die Insel. Gut für die Sylter Geschäftswelt. Gut für Bodo von Hohenstedt. Je mehr Menschen hier waren, umso weniger würde er auffallen. Bodo von Hohenstedt war als Feriengast auf der Insel. Er hatte sich eine Auszeit aus dem beschwerlichen Arbeitsleben, so war seine Formulierung einem Freund gegenüber, hochverdient und war auf Sylt geradezu untergetaucht. In der Masse der Feriengäste würde er nicht sonderlich auffallen, vor allem da nicht, wo sich die gut betuchten Erholungssuchenden aufhielten. Bodo hatte im Morandi eingecheckt. Das Luxushotel hatte Erholung auf höchstem Niveau versprochen und damit geworben, dass es direkt am Strand lag. Bodo genoss seine Suite mit Meeresblick und Balkon, welche auch als „persönlicher Logensitz direkt am Meer“ bezeichnet wurde. Bodo von Hohenstedt konnte dem nur zustimmen. Selten hatten ihn die Versprechen eines Hotels so überzeugt wie diese. Und in Sachen Hotel kannte Bodo sich bestens aus.
An diesem Morgen hatte Bodo Lust, sich mit neuen Schuhen einzudecken. Bald würde er die Insel auf Nimmerwiedersehen verlassen. Ein Einkauf bei diesem strahlenden Sonnenwetter würde seine Laune noch weiter beflügeln. Vor wenigen Tagen hatte er den Schuh-Store Luxus & Me(h)er in Westerland entdeckt. Bodo war begeistert von dem erlesenen Sortiment feinster Herrenschuhe gewesen. Allein, dass der Inhaber Raik Boysen dort anwesend war, hatte ihn vom Shoppen abgehalten. Raik war nett gewesen, hilfsbereit und hatte ihn gut beraten, aber ein Geschäft war nicht zustande gekommen. Was an Bodo lag. Seine erprobte und gut durchdachte Masche konnte Bodo nur bei Frauen ausspielen. Bodo kaufte, aber Bodo bezahlte grundsätzlich nur per Rechnung. Das war ein Grundprinzip seines Handelns. Um damit erfolgreich zu sein, hatte Bodo sein großes Talent, wie er Frauen für sich gewann und sie quasi um den Finger wickeln konnte, zur Perfektion gebracht. Bislang war seine Taktik zu nahezu hundert Prozent aufgegangen. Dass die Damen im Nachhinein auf den nicht bezahlten Rechnungen sitzenblieben, war nicht sein Problem, sondern Kalkül seiner List.
So beschloss Bodo an diesem Vormittag, kurz vor 12 Uhr mittags nach Kampen in den Laden von Luxus & Me(h)er zu gehen. Hier würde er auf Raiks schwangere Frau treffen, die dort fast an allen Tagen der Woche arbeitete, diese Information hatte er Raik in einem Smalltalk entlockt. Wahrscheinlich war die verheiratete Dame nicht ganz so empfänglich für Bodos Taktik, aber Probieren ging ja bekanntlich übers Studieren. Und Bodo wollte unbedingt drei oder wenigstens zwei Paar Schuhe als Trophäen von Sylt mitnehmen.
Bodos äußerst gepflegter Oldtimer, ein MercedesBenz 280 SE Coupé 3.5, der locker seine 100 000 € wert war, parkte an prominentester Stelle direkt vor dem Hotel, neben weiteren auf Hochglanz gewienerten Stahlkarossen edelster Güte. Der Mercedes war quasi seine Eintrittskarte ins Hotel und der Page schwer beeindruckt gewesen.
Bodo hatte später jedoch feststellen müssen, dass sehr viele Spaziergänger mit großer Beachtung und Bewunderung auf diese ganz besonderen Fahrzeuge reagierten. Und so auch um den Mercedes herumliefen und ihn bestaunten und etliche über diesen außergewöhnlichen Oldtimer fachsimpelten, was Bodo auf der einen Seite auch sehr genoss, zeugte dies doch von seinem erlesenen Geschmack und seinem erhabenen Gespür für das Extravagante.
Aber es war auch für ihn nicht immer von Vorteil. Leider fiel er mit diesem Fahrzeug auch bei seinen „Einkaufstouren“ auf, daher hatte er es bisher wenig genutzt und einfach vor dem Hotel stehen gelassen. Diesen Faktor hatte Bodo auf seiner „Autoeinkaufstour“ in Stuttgart total unterschätzt. Jetzt war ihm sehr daran gelegen, dass nicht zu viele Leute sein Gesicht, welches natürlich fachmännisch geschminkt und durch kosmetische Tricks reichlich verändert war, denn darin war Bodo Meister, mit dem Wagen in Verbindung bringen konnten. Trotzdem konnte er mögliche Zeugen, die ihn im Nachhinein äußerst differenziert beschreiben würden, nicht gebrauchen. Außerdem wollte er für eine erneute gesichtsverändernde Operation nicht schon wieder Geld ausgeben.
Seinem großen Ego jedoch hatte es aber absolut gefallen, dieses außergewöhnliche Coupé wenigstens für die Zeit auf Sylt als seinen Besitz ansehen zu dürfen. Er hatte den Oldtimer vor längerer Zeit bei einem Bekannten, der Sammler war, in dessen großer Garage in Stuttgart als einen Oldtimer von vielen erblickt und ein günstiger Moment hatte ihm, Bodo, offenbart, dass eben dieser Bekannte zurzeit auf Lanzarote im Krankenhaus lag. Da Bodo nicht nur handwerklich geschickt war, sondern auch reichliche Kenntnisse im Bereich der Informatik hatte, war es ihm trotz modernster Sicherheitstechnik ein Leichtes gewesen, dieses wunderbare Coupé „auszuleihen“. Dabei wähnte Bodo sich sicher, der Verlust des Oldtimers würde nicht auffallen, sein Bekannter verbrachte die Winter- und Frühjahrsmonate seit vielen Jahren immer auf den Kanaren im eigenen Haus. Der Krankenhausaufenthalt bot Bodo nun eine zusätzliche Sicherheit vor einer unerwarteten Rückkehr des Mannes. Bodo hatte auch gar nicht vor, den Wagen über Wochen zu behalten. Er würde ihn schon frühzeitig wieder in die Garage in Stuttgart fahren. Aber jetzt, jetzt wollte er dieses wunderbare Coupé einfach nur genießen und als seinen Besitz ansehen.
Als Bodo an all das dachte, er fuhr gerade nach Kampen, wo er ohnehin bei den Reichsten der Reichen nicht auffallen würde, musste er lachen. Er war einfach genial. Und seine Pläne auch. Ein Meister seines Fachs. Egal, was seine Kompagnons auch immer wieder für Einwände hatten und diese in nervender Weise zum Ausdruck brachten, Bodo war einfach der Größte und auf der Gewinnerseite des Lebens. Schon immer. Und das würde auch immer so bleiben, dessen war sich Bodo sicher. Und Sylt würde er ja sowieso in wenigen Tagen verlassen. Um nun also seinen Schuheinkauf in die Tat umzusetzen, fuhr Bodo nach Kampen, parkte in der Nähe von Luxus&Me(h)er und ging flotten Schrittes ins Geschäft hinein. Zwei Kunden gaben ihm beim Hinausgehen quasi die Türklinke in die Hand.
Wie gut, er war allein mit der Schwangeren. Aber genau das war sie nicht: schwanger. Also konnte es sich nicht um Raik Boysens Frau handeln, aber egal, Hauptsache, es war eine Frau.
„Einen wunderschönen guten Morgen“, flötete Bodo. Schon bei der Begrüßung gab er sich als Tourist zu erkennen, aber Bella hätte sowieso gewusst, dass er nicht zu den Einwohnern von Sylt zählte. Sie kannte zwar längst nicht alle, aber Touristen erkannte sie sofort, egal, welche Mühe sich der Kunde auch geben mochte.
„Moin“, Bella versuchte ihr freundlichstes Lächeln ins Gesicht zu zaubern, was ihr trotz der morgendlichen Misere mit Raik auch gelang. Hier war der Kunde König, das verstand sich von selbst. Und wenn er dann auch noch so umwerfend und charmant aussah wie dieser Mann, dann ließ Bella sich natürlich nicht lumpen. Wer weiß, was ich ihm alles verkaufen kann, so dachte Bella noch, als sie sich auch schon im besten Verkaufsgespräch wiederfand.
Zwei Meister ihres Fachs hatten sich getroffen. Und keiner stand dem anderen nach. Bodo sah sofort, dass er hier eine Frau besonderen Formats vor sich hatte. Super gepflegt, wie er auch, legte auch sie offenbar großen Wert auf ihr Äußeres. Ob sie die Schwester von Raik Boysen ist, überlegte er und erinnerte sich, dass er auf der Website von Luxus&Me(h)er gelesen hatte, dass das Geschäft inhabergeführt sei, und zwar von einem Geschwisterpaar.
Sofort ließ Bodo ein paar Testballons steigen, auf die Bella auch brav einging. So war sich Bodo schnell sicher und eine neue Idee, viel größer als seine eigentliche, aber auch deutlich gewagter und riskanter, nahm Platz in der Gondel seines Gedankenkarussells. Und dieses startete blitzschnell zu einer neuen Testfahrt: Was wäre, wenn ich nun doch einmal wieder meine Kunst live unter Beweis stellte? Was wäre, wenn ich nur dieses eine Mal noch, nicht übers Internet, sondern hier direkt auf Sylt, meine große Liebe suchte und fände? Sekundenschnell wog Bodo diese Gedanken ab, klärte mit einem Blick, ob Bella Boysen, so hatte sie sich ihm vorgestellt, einen Ehering trug, und war fortan ganz der Charmeur feinster Schule.
So blieben Bella und Bodo nicht lange beim Smalltalk, sondern fachsimpelten über Schuhlabels, hochqualitative Materialien, außergewöhnliche Accessoires, neueste Schuhtrends, Exklusivität und Tragekomfort vor allem der italienischen Ware mitsamt deren ausdrucksstarkem Chic und hatten gegenseitig einen fulminanten Spaß aneinander. Bella erzählte von ihren Reisen zu den italienischen und portugiesischen Manufakturen, deren besonderen künstlerischen Arbeiten, Lust und Freude an all diesen erlesenen Kunstwerken, die sie in diesem Fall durch Schuhe auch belegte. Dabei wählte sie zielsicher die Designs aus, die ein Mann von Bodos Format als klares Statement seiner Persönlichkeit und seines individuellen Charakters zu tragen pflegte. Und Bodo sprang sprichwörtlich auf diesen Zug auf. Seine Reaktionen waren formvollendet und zielsicher, seine Fragen motivierten Bella zu noch mehr Details und Schilderungen all dessen, was sie in Italien und Portugal erlebt hatte, und sein Interesse an all dem schien riesengroß zu sein.
Bodo war zuvorkommend höflich, kaufte schließlich zwei Paar Schuhe und bezahlte ganz gegen seine Gewohnheiten und Überzeugungen und das tatsächlich auch noch in bar. Er habe leider seine Kreditkarte im Hotel gelassen, war seine Begründung gewesen. Normalerweise führe er natürlich nicht so viel Bargeld mit sich, da man ja doch alles per Karte bezahlen könne, aber gerade heute habe er Bargeld abgehoben. Für den alltäglichen Lebensgenuss beim Schlendern in den Fußgängerzonen, hatte er lächelnd und augenzwinkernd hinzugefügt und Bella verschwörerisch dabei angesehen. Was diese wiederum magisch anziehend fand. Zwar wunderte sie sich noch über die Masse an Geld, die Bodo dabei hatte, aber die Erklärung hatte er ja mitgeliefert. Ungewöhnlich zwar, aber als Geschäftsfrau war Bella sozusagen schon nahezu jede Begründung untergekommen, von den kuriosen Erlebnissen mit ihren Kunden mal ganz abgesehen. Und die Hauptsache war ja, dass die Ware bezahlt wurde, wie, ob mit Bargeld oder Karte, war schließlich völlig egal.
Als Bodo schließlich das Geschäft verließ, ärgerte es ihn schon sehr, dass er nun doch einen Haufen Geld für diese Schuhe hatte bezahlen müssen und sie nicht umsonst hatte mitnehmen können, aber er sah sie in diesem Moment als Investition für einen noch viel größeren materiellen Gewinn an. Aus diesem Grund hatte Bodo alles, was er an Charme besaß, eingesetzt und Bella zu einem Abendspaziergang am Meer in Westerland überzeugen können.
Bella war auch sofort darauf eingegangen, worüber sie sich selbst im Nachhinein nur noch wundern konnte. Das entsprach so gar nicht ihrem Wesen. Nur, so ein außergewöhnlicher Mann war ihr ja auch tatsächlich nie zuvor begegnet, was ja an sich schon was heißen wollte. In seiner Nähe hatte sie sich total wohlgefühlt. Es war, als wenn sie auf derselben Wellenlänge schwämmen, hatte Bella noch gedacht, um sich sofort selbst auszuschimpfen: Dumme Kuh, reagierst, als wenn du ein Teenager wärst. Da war Bodo allerdings schon gegangen, mit dem Versprechen, sie um 21.00 Uhr auf der Strandpromenade an der Konzertmuschel zu treffen. Also blieb Bella nichts anderes übrig als hinzugehen, was sie im Grunde genommen ja auch äußerst entzückend fand.
„Ein Gentleman erster Güte“, erzählte Bella ihren Freundinnen Freya Bondes und Heike Petersen bei ihrem wöchentlich stattfindenden Treffen am folgenden Sonntagabend. „Außergewöhnlich, äußerst charmant, interessiert, hochintelligent und sieht phänomenal aus, fast wie ein Filmheld“, schwärmte sie ihren Freundinnen vor. „Wow, was für ein Mann! Er hat irgendwas, was kaum ein anderer Mann hat. Zumindest ist mir noch kein solcher begegnet. Und er kann zuhören …“ Bella war hin und weg von ihm. Was genau das „irgendwas“ war, konnte sie nicht in Worte fassen, was nun wiederum beide Freundinnen äußerst merkwürdig fanden. Aber beide hatten Bella schon sehr lange nicht mehr so gelöst, spaßig und entspannt erlebt und genossen das fröhliche Zusammensein mit ihr seit langer Zeit mal wieder ausgiebig.
„Ich habe ja so meine Zweifel, was diesen Mann angeht“, äußerte Freya später auf dem Nachhauseweg Heike gegenüber, „so ein Exemplar von Mann ist einfach zu schön, um wahr zu sein.“ Worauf auch Heike ihre Skepsis in Worte fasste: „Ich wollte Bellas Stimmung ja nicht trüben, es war so schön, sie mal wieder so happy zu erleben. Aber mir kommt das auch irgendwie komisch vor. Merkwürdig, dass er noch frei herumläuft.“
Freya sah Heike mit großen Augen an und bekam kaum noch Luft vor lauter Lachen. „Oha, wenn Bella uns hören und sehen könnte“, gluckste nun auch Heike vor sich hin. „Hoffentlich behalten wir mit unserer Diagnose nicht recht.“ Die beiden Freundinnen behielten ihren Argwohn jedoch für sich, beäugten die aufkeimende Beziehung zwischen Bella und Bodo aber mit Argusaugen. Sie gönnten Bella ihr Glück, auch wenn sie trotzdem misstrauisch blieben.