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Der Deutsche Bundestag Ein spannendes Novum

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Dieser 19. Deutsche Bundestag ist nicht nur größer als alle seine Vorgänger, nicht nur von so vielen verschiedenen politischen Gruppierungen geprägt wie die Parlamente seit den 50er Jahren nicht mehr, er zeichnet sich auch durch anhaltende Besonderheiten aus. Da war der Start viele Monate bevor eine neue Regierung antrat. Und da war die zuvor ungeahnte Bewährungsprobe der parlamentarischen Demokratie im Angesicht einer globalen Pandemie.

Der ersten Sitzung eines neu gewählten Bundestages mit seiner Konstituierung und der Wahl des Bundestagspräsidiums folgt gewöhnlich kurz darauf in der zweiten Sitzung die Wahl des Bundeskanzlers oder der Bundeskanzlerin. Doch dieses Mal wurde die Regierungschefin erst in der 19. Sitzung des 19. Bundestages gewählt. Als die neue Bundesregierung ihre Arbeit endlich aufnehmen konnte, war der Bundestag bereits lange in den alltäglichen Parlamentsabläufen angekommen und hatte sich auf die neue Zusammensetzung aus CDU/CSU, SPD, AfD, FDP, Die Linke und Bündnis 90 /Die Grünen eingestellt.

Im Institutionengefüge der parlamentarischen Demokratie ohnehin das Verfassungsorgan mit der höchsten Legitimität, zog der Bundestag nach seiner Konstituierung somit eine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Ein breites Publikum entdeckte seine Eigenständigkeit und seine herausragende Rolle so klar wie selten zuvor. Mochten die Parteien auch Woche um Woche mit Sondierungen und Verhandlungen über Koalitionsmöglichkeiten beschäftigt sein – das Parlament machte sich Zug um Zug arbeitsfähig und fasste einen wichtigen Beschluss nach dem anderen. Derweil hatte die seit dem 24. Oktober 2017 nur noch geschäftsführend tätige Regierung – gängiger Staatspraxis folgend – demonstrative Zurückhaltung bei allen anstehenden Entscheidungen zu üben. Gewählt und getragen von der Mehrheit im abgewählten Bundestag, konnte sie sich im neuen nicht mehr auf klare Mehrheiten berufen und musste daher wichtige Weichenstellungen vermeiden. Denn über Monate blieb unklar, welche Parteien-Konstellation mit welchen gemeinsamen Inhalten die künftige Politik bestimmen würde. Für ein „Jamaika-Bündnis“ verhandelten CDU, CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen bis zum Scheitern am 19. November 2017. Die nach dringendem Appell des Bundespräsidenten aufgenommenen Sondierungen und Verhandlungen über eine Neuauflage einer großen Koalition aus CDU, CSU und SPD benötigten intensive Verhandlungen sowie drei Parteitagsbeschlüsse und einen Mitgliederentscheid, bis sie am 12. März 2018 zu den Unterschriften unter einem Koalitionsvertrag führten.

Bundestag und Bundesregierung auf gegenläufigem Weg

Vor den Augen einer teilweise überraschten Öffentlichkeit vollzog sich somit zunächst eine ungewöhnliche und gegenläufige Entwicklung: Während der Bundestag konsequent daran ging, den Wählerwillen in Arbeitsstrukturen umzusetzen und zu handeln, zuerst im Plenum, dann im Hauptausschuss und schließlich in allen weiteren Gremien, bestand die erste Amtshandlung der Bundesregierung nach der Konstituierung des Bundestages darin, zum Bundespräsidenten zu fahren und die Entlassungsurkunden für die Bundeskanzlerin und sämtliche Bundesminister in Empfang zu nehmen. Das Staatsoberhaupt bat (amtlich: „ersuchte“) daraufhin zwar die Kanzlerin, die Amtsgeschäfte weiterhin auszuüben, doch zeigte sich in diesem Stadium bereits, dass die Regierung im Vergleich mit dem Bundestag die entgegengesetzte Entwicklung nahm: Die Arbeitsministerin stieg aus, weil sie den Vorsitz der SPD-Fraktion übernahm. Und auch der Verkehrsminister verließ die Bundesregierung, weil er Chef der CSU-Landesgruppe wurde. Hier zeigte sich markant, dass eine geschäftsführende Regierung eben nicht alle Rechte einer ernannten Regierung hat: Ministerposten konnten nicht nachbesetzt werden. Deren Geschäftsbereiche wurden von anderen geschäftsführenden Ministern mit betreut.

Und es kam zu Spekulationen, ob dieser unklare Zustand wohl in baldige Neuwahlen münden würde.

Das Zusammenspiel von Parlament und Präsident

Allerdings stand das gebräuchliche Mittel zum Auslösen von Neuwahlen überhaupt nicht zur Verfügung. Um zu Neuwahlen zu kommen, hatten Willy Brandt von der SPD 1972, Helmut Kohl von der CDU 1982 und Gerhard Schröder von der SPD 2005 den Bundestag gefragt, ob sie noch das Vertrauen der Mehrheit hatten. Sie verloren diese Abstimmung jeweils absprachegemäß, worauf der jeweilige Bundespräsident den Bundestag auflösen konnte. Wie aber soll eine Bundeskanzlerin, die noch nie das Vertrauen eines neu gewählten Parlamentes besaß, dieses Parlament fragen, ob es ihr weiterhin vertraut? Aus diesem Umstand folgt ein weiteres minderes Recht einer geschäftsführenden Regierung: Ihrer Chefin fehlt die Möglichkeit, von Artikel 68 des Grundgesetzes (Vertrauensfrage) Gebrauch zu machen.

Damit wird auch deutlich, wie sehr das Amt des Bundespräsidenten in der gewöhnlichen Betrachtung unterschätzt wird, wenn man es auf die Funktionen als Notar von Gesetzesbeschlüssen und Spitzenpersonalentscheidungen sowie auf die Wirkung von Reden in der Öffentlichkeit verkürzt. Gerade in Zeiten von Krise und Machtvakuum kommt dem Bundespräsidenten eine immens stabilisierende Funktion im Zusammenspiel mit dem Bundestag zu. Nur die Staatsorgane zusammen können den Weg zu vorgezogenen Neuwahlen einschlagen. Zugleich macht das Grundgesetz durch die Errichtung von hohen Hürden deutlich, dass dies kein bequemer Ausweg sein soll, solange es mögliche Mehrheiten im Parlament gibt. Dieses Mal mussten sich die Verfassungsorgane zunächst nicht mehr mit Neuwahlen beschäftigen: Die Kanzlerin kam mit neun Stimmen oberhalb der Kanzlermehrheit am 14. März 2018 ins Amt.

Zu diesem Zeitpunkt ahnte niemand, dass die Herausforderungen, die mit der Corona-Krise auf die Akteure in dieser Wahlperiode zukommen würden, die dramatischen Wochen der Weltfinanzkrise von 2008 noch weit in den Schatten stellen würden. Das Infektionsschutzgesetz aus dem Jahr 2000 wurde 2019 über Nacht zum Dreh- und Angelpunkt nahezu aller wichtigen Handlungen von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung. Es war bei seiner Verabschiedung knapp zwei Jahrzehnte zuvor insbesondere in der Erwartung verabschiedet worden, eine unkontrollierte Ausbreitung von HIV über Bluttransfusionen unterbinden und vereinzelt auftretende Infektionen lokal besser erkennen und kontrollieren zu können. Zu den allgemeinen Erwartungen hatte es gehört, dass dieses Gesetz „spürbare Erleichterungen für die Wirtschaft“ bringen würde, da ihre Mitarbeiter besser geschützt sein würden. So hieß es seinerzeit in der Gesetzesbegründung. Dass 19 Jahre später der Bundestag einen dreistelligen Milliardenbetrag in die Hand nehmen würde, um die Auswirkungen der Pandemie für Bevölkerung und Betriebe, für Gastwirte und Künstler erträglicher zu machen, lag außerhalb der üblichen Vorstellungswelt des seinerzeitigen Gesetzgebers.

Viele erwarteten auch im Januar 2020 nach den ersten Meldungen über ungewöhnlich verlaufende Infektionskrankheiten im Raum der chinesischen Millionenstadt Wuhan zunächst einen regional begrenzten, nach dem Auftreten der Pandemie in Deutschland auch noch einen zeitlich begrenzten Verlauf. Stattdessen führte das mehrfache Runterfahren des öffentlichen Lebens zu einer anhaltenden beispiellosen Entwicklung seit 1949. Die größten Krisen-Auswirkungen waren bis dahin in ein paar autofreien Sonntagen im Verlauf der Ölkrise von 1973 erlebbar gewesen. Nun fühlten viele Millionen am eigenen Leib, dass etwas Bedrohliches vorging. Als klar war, dass die Zahl der Kontakte drastisch verringert werden muss, um Infektionsketten zu durchbrechen und das Leistungsvermögen des öffentlichen Gesundheitssystems nicht zu überfordern, wurden in der Folge alle Bereiche des öffentlichen Lebens betroffen. Natürlich auch der Bundestag. Anfangs machte sich das in einer vorübergehenden Schließung der Kuppel für Besucher bemerkbar. Auch die Plätze für Journalisten auf der Pressetribüne wurden verringert, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren. Und auch im Plenarsaal und den Ausschussräumen galten Mindestabstände, im weiteren Verlauf ergänzt durch eine Maskenpflicht. Die übliche Begrüßung durch den Bundestagspräsidenten bekam eine neue Form: „Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte nehmen Sie unter Wahrung des notwendigen Abstands Platz“, hieß es zum Beispiel in der 154. Sitzung des Bundestages am 25. März 2020.

Es war ein denkwürdiger Tag. Der Bundestag stellte eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ auch offiziell fest. Und er verabschiedete eine Neufassung des Infektionsschutzgesetzes mit zahlreichen Regelungen, die es dem Bundesgesundheitsminister und den Landesregierungen ermöglichten, lageangepasst auf die Corona-Entwicklung zu reagieren. Wichtig blieb, dass der Bundestag sein Recht und seine Pflicht zur Regelung der teils einschneidenden Vorgaben nur zeitlich und sachlich begrenzt übertrug und jederzeit zurückholen konnte. Gleichzeitig veränderte das Parlament mit einer Anpassung der Geschäftsordnung auch seine eigene Arbeit an die Pandemie-Bedingungen. Nun reichte zur Beschlussfähigkeit die Anwesenheit von mehr als einem Viertel (statt der Hälfte) der Abgeordneten, und Beratungen sowie Abstimmungen in Ausschüssen waren auch virtuell möglich: Die Abgeordneten konnten an den Zusammenkünften nicht mehr nur persönlich in den Sitzungssälen, sondern per Video auch von ihren Büros oder von zu Hause aus teilnehmen. Liefen Namentliche Abstimmungen vor der Pandemie in der Regel unter Entstehen eines dichten Gedränges Hunderter von Abgeordneter in kurzer Zeit auf engstem Raum ab, wurden die Urnen für die Stimmkarten nun außerhalb des Plenarsaales aufgestellt und so lange geöffnet, dass die Abgeordneten mit Abstand nacheinander ihre Karten einwerfen konnten. Zudem wurden die Immunitätsrechte der Abgeordneten so verändert, dass auch sie von Quarantäne- und ähnlichen Regelungen erfasst werden konnten.

Nach wenigen Wochen hatte sich der Bundestag an die Arbeit unter Pandemie-Bedingungen gewöhnt und war zu der üblichen Vielzahl von Sitzungen, Tagungen, Hearings und Besprechungen zurückgekehrt – nur halt unter anderen Umständen. So tagten die Fraktionen häufiger virtuell oder wechselten den Versammlungsort: Die Fraktionen von Union und SPD konnten sich beispielsweise nacheinander auch im deutlich größeren Plenarsaal treffen, damit Abgeordnete und Mitarbeiter trotz physischer Präsenz untereinander die Mindestabstände einzuhalten vermochten. So wie das alltägliche Leben vor allem in den Sommermonaten unter Corona-Bedingungen weiter ging, spielten sich auch die parlamentarischen Abläufe ein. Im November 2020 verabschiedete der Bundestag eine noch detailliertere Novelle der gesetzlichen

Grundlagen des behördlichen Handelns. Sie folgten unter anderem einem Appell des Bundestagspräsidenten und einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, wonach Eingriffe in die Grundrechte so präzise wie möglich gesetzlich verankert sein müssen.

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