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Mwalimu Imara

Erinnerung an eine Neugeburt

Im Endstadium der Arbeit an ihrem Buch “Interviews mit Sterbenden”, das ein Klassiker werden sollte, wandte Elisabeth sich um Beistand und Rat an ihren Freund und Kollegen Mwalimu Imara, der damals Kaplan der Universitätsklinik der Chicago University war.

Unter meinen zahlreichen Erinnerungen an Elisabeth Kübler-Ross ragt der Abend heraus, den wir zusammen verbrachten, als sie ihr Buch vollendet hatte. Damals gewährte sie mir einen Einblick in den Wurzelgrund, aus dem ihr aufregendes Buch entstanden war.

Dass die Thematik Tod und Sterben in den Vereinigten Staaten und in der ganzen Welt zu einer Bewegung wurde, begann mit der Veröffentlichung von Elisabeths Buch “Interviews mit Sterbenden” im Jahr 1969. Dieses Buch trug dazu bei, dass Menschen, die im Gesundheitswesen tätig waren, und auch Laien die Grausamkeit unseres institutionalisierten Sterbens bewusst wurde.

Ich entsinne mich lebhaft des Abends, als diese Revolution begann. Elisabeth hatte von ihrem Verleger die Druckfahnen erhalten und lud mich zu sich ein, um ihr zu helfen, dem Buch den letzten Schliff zu geben. Es mussten Zitate aus den Werken von Rabindranath Tagore, die allen Kapiteln vorangestellt sind, ausgewählt werden. Sie hatte bereits eine Vorauswahl getroffen, wollte aber jemanden dabei haben. Sie hatte das letzte Kapitel des Buches abgeschlossen, war mit dem Ende jedoch nicht ganz zufrieden. Dieses bedurfte einer Bearbeitung oder Neuformulierung. Außerdem gab es ein Kapitel, das noch nicht in das Buch aufgenommen war: das Kapitel über das Leben nach dem Tod. Sollte sie es aufnehmen oder nicht? Diese Entscheidung musste noch getroffen werden.

Nach dem Essen saß meine Frau Harriet, die sich später Saburi nannte, im Wohnzimmer und plauderte mit Manny, Elisabeths Ehemann. Elisabeth räumte den Tisch in der kleinen Küche neben dem Wohnzimmer ab, und wir nahmen uns das Manuskript vor. Es war etwas nach neun Uhr.

Während ich Teile des Manuskripts zum ersten Mal las, suchte Elisabeth zögernd die Tagore-Zitate aus und bat mich um meine Meinung, ob sie passten. Natürlich ging es ihr mehr um meine Zustimmung als um Kritik. Schließlich hatte sie schon viele Stunden damit verbracht, die passenden Zitate den einzelnen Kapiteln zuzuordnen.

Das Buch lag ihr sehr am Herzen. Es wurde immer später, und endlich konnten wir das letzte Kapitel durchsehen. Wir dachten beide, dass es zum Ausdruck brachte, was Elisabeth sagen wollte, aber sie meinte, dass es noch nicht fertig sei und dass wir eine gemeinsam verfasste Passage an den Schluss stellen sollten, und das taten wir dann. Ich weiß, dass sie mir auf diese Weise für meine Unterstützung ihres Seminars und dafür danken wollte, dass ich ihr in der mühseligen, einsamen Aufgabe, ihrem Manuskript den letzten Schliff zu geben, Gesellschaft leistete. Doch jetzt war zu entscheiden, was mit dem Kapitel über das Leben nach dem Tod geschehen sollte.

Wir hatten beide Erfahrungen aus erster Hand von Menschen gesammelt, die einen Herzstillstand erlitten hatten und dann wiederbelebt worden waren. Wir hörten von Hinterbliebenen, dass ihnen längst verstorbene Familienmitglieder erschienen waren. Wir hatten Kindern zugehört, die in den letzten Tagen oder Stunden ihres Lebens schilderten, wie ein freundlicher Unbekannter sie besuchte und mit ihren redete. Der Tod erschien weniger eine geschlossene Mauer als eine Schwingtür zu sein. Doch die Berichte von Wiederbelebungen waren noch spannender, weil sie von Patienten der Intensivstationen unserer eigenen Klinik stammten. Daher konnten diese Geschichten leicht überprüft werden.

Wir konnten nicht glauben, dass jemand, der diese Fallgeschichten las, nicht wie wir überzeugt sein würde, dass es vieles gibt, was wir über die Grenze zwischen Leben und Tod zu lernen haben. Sicher hatten wir genug Material, um die Aufmerksamkeit eingefleischter Skeptiker zu erregen.

Wir hatten genügend Fallbeispiele. Das war das Wesentliche. Sollte Elisabeth also dieses Kapitel über Leben nach dem Tod in ihr Buch aufnehmen? Ich erzählte Elisabeth, dass ein mir befreundeter Pfarrer, Rhys Williams, ein Buch mit einem ähnlichen Kapitel eingereicht hatte, das abgelehnt worden war, weil er sich weigerte, dieses Kapitel wegzulassen.

Elisabeth vermutete, dass ihr Verleger sich für avant garde halten würde, wenn er ein Buch über Tod und Sterben veröffentlichte. Wir konnten nicht wissen, dass sie mit “Interviews mit Sterbenden” einen internationalen Bestseller landen würde. Sie entschied, das Kapitel nicht aufzunehmen. Wenn eine hervorragende Idee brach liegt, wird sie mit der Zeit ans Tageslicht kommen. Das geschah einige Jahre später durch Raymond Moodys Buch “Leben nach dem Tod”, für das Elisabeth ein Vorwort schrieb.

Ich fragte Elisabeth, wie sie begonnen hatte, sich für Tod und Sterben zu interessieren. Sie gab mir keine direkte Antwort. Sie lenkte von unserem Gespräch ab, indem sie mich fragte, ob ich einen Whiskey sour wollte, weil sie dabei sei, für sich selbst einen zu machen. Sie zerkleinerte das Eis im Mixer und mischte das vorgefertigte Pulver mit dem Alkohol. Elisabeth goss den Drink in zwei Gläser und machte eine Bemerkung über unsere komatösen Ehehälften im Wohnzimmer, die das Nachsehen hatten.

Sie setzte sich, zündete eine Zigarette an und saß schweigend da. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück, schnippte die Asche in den Aschenbecher und sagte: “Das ist eine lange Geschichte. Es ist meine Geschichte. Ich möchte sie dir erzählen, damit du verstehst, warum diese Arbeit mir so viel bedeutet.”

Anderthalb Stunden lang strömte ihre persönliche Geschichte aus ihr in einem stillen, fast monotonen Redefluss. Obwohl sie mit leiser Stimme sprach, fanden die Bilder, die sie mit ihrer nüchternen Art zeichnete, einen mächtigen Widerhall in meiner Vorstellung.

Sie begann zu erzählen, wie sie sich einer kleinen Gruppe Freiwilliger angeschlossen hatte, um nach dem Zweiten Weltkrieg beim Wiederaufbau zu helfen. Sie sprach davon, wie sie vor ihrem Medizinstudium darum gekämpft hatte, Menschen in Polen nach dem Krieg helfen zu können. Dann berichtete sie gefasst von dem Grauen, als sie das Konzentrationslager Majdanek einige Monate nach der Befreiung besucht hatte. Hunderttausende Juden waren dort vergast und in Öfen verbrannt worden. Sie schilderte, wie sie im Geist immer noch das verwesende Fleisch riechen konnte, obwohl Jahre vergangen waren, seit die Öfen ihre grauenvolle Arbeit verrichtet hatten. Sie beschrieb die Waggons mit ihrer entsetzlichen Fracht von Menschenhaar, Kinderkleidern und Babyschuhen. Sie war damals eine junge Frau von neunzehn Jahren.

Die bleibenden Zeugnisse der Kriegsgräuel gruben sich ihrem Bewusstsein ein als eine Verpflichtung, zu lieben und die Grausamkeit abzuwehren, wo immer sie ihr begegnete.

Sie erzählte diese Geschichte nicht zum ersten Mal. Aber vielleicht war es das erste Mal, dass sie erzählte und sich gleichzeitig selbst zuhörte. Sie hielt inne. Sie schluchzte und weinte nicht, sie stieß nur einen tiefen Seufzer aus, der voller Tränen war. In diesem Seufzer drückte sich ihre Seele aus.

Das ist es also, was dieses Buch für sie bedeutet, dachte ich. Es ist ihre Waffe, die sie benutzen wird, um die Liebe gegen Unmenschlichkeit, Grausamkeit und Unterdrückung ins Feld zu führen. Da verstand ich den Ursprung ihres Auftrags zu lieben, der die zentrale und treibende Kraft ihres Lebens wurde. Damit hatte sie meine Frage beantwortet.

*** Dr. Mwalimu Imara ist Pfarrer und emer. Professor für “Menschliche Werte und Ethik” an der Morehouse School of Medicine in Atlanta, Georgia. Zur Zeit gehört er der Fakultät des Instituts für Gestaltpsychologie in Cleveland, Ohio, an. Dr. Imara arbeitete mit Elisabeth seit dem Beginn der Bewegung von Tod und Sterben an den Kliniken der Universität von Chicago.

Zum Tee bei Elisabeth Kübler-Ross

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