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1. Was ist Aufführungsanalyse?

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Die Aufführungsanalyse stand keineswegs am Anfang der Fachgeschichte der Theaterwissenschaft, sondern wurde erst seit den späten 1970er Jahren in Europa und den USA entwickelt. Vorausgegangen war eine durchgreifende Theoretisierung der Theaterwissenschaft im Zeichen von Kommunikationstheorie, Semiotik und (Post-)Strukturalismus.1 Aufführungsanalyse ist ein Verfahren, mit dem kulturelle Aufführungen (Cultural Performances) im Allgemeinen und Theateraufführungen im Besonderen auf ihre Formen, Bedeutungen und Wirkungen untersucht werden können. Dabei werden Aufführungen als Ereignisse des Zeigens und Zuschauens verstanden, für die sich Akteure und Publikum zur selben Zeit am selben Ort versammeln. Zur Abgrenzung solcher Aufführungen von anderen Ereignisformen kann eine klassische Definition des Ethnologen Milton Singer herangezogen werden. Demnach zeichnen sich Aufführungen (Performances) aus durch „a definitely limited time span, or at least a beginning and an end, an organized program of activity, a set of performers, an audience, and a place and occasion of performance“.2 Die Aufführungsanalyse ist jedoch nicht aus der Ethnographie heraus entstanden, sondern wurde an professionellen Theaterformen entwickelt, die im weitesten Sinne der Kunstsphäre zuzurechnen sind. In ihrer heutigen Praxis kann man eine semiotische von einer phänomenologischen Variante unterscheiden.3

Die semiotische Variante fragt danach, wie in Aufführungen Bedeutung hervorgebracht wird. Die Aufführung wird dabei als ein Ensemble heterogener Zeichen aufgefasst, die auf komplexe Weise miteinander korrespondieren und von den Zuschauer*innen decodiert werden müssen. Die Analyse zielt darauf ab, die Zeichenstruktur der Aufführung genau zu erfassen, um dadurch Mechanismen der Bedeutungsproduktion herausarbeiten zu können. Der Blick richtet sich insofern auf die verschiedenen Zeichensysteme des Theaters (darunter das gesprochene Wort, Stimme, Klang, Mimik, Gestik, Proxemik, Raumgestaltung, Kostüme, Maske, Licht u.v.m.) und zugleich auf die erkennbaren Bedeutungseinheiten. Der*die Analysierende versucht zunächst, die Aufführung zu untergliedern (in Sequenzen, Szenen oder kleinere Einheiten), um dann die dominanten und prägenden Zeichenstrukturen ausfindig zu machen und diese auf ihre Bedeutung zu befragen. Es kann sinnvoll sein, einzelne, besonders markante Zeichen oder Zeichenkomplexe herauszugreifen und aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Neben der eigentlichen Bedeutung sind immer auch Konnotationen und Assoziationen von Interesse, so dass feine Nuancen und individuelle Varianten des Verstehens hervortreten können. Es geht weniger um das Fixieren eines ‚Sinns‘ der Aufführung als vielmehr um ein differenziertes Herausarbeiten der vielfältigen Prozesse, in denen Bedeutungen im szenischen Geschehen konstituiert, aber häufig auch wieder destabilisiert werden.4

Die phänomenologische Variante der Aufführungsanalyse ist dagegen mehr an Wirkungen als an Bedeutungen interessiert. Sie fragt nach den Erfahrungen, die in einer Aufführung gemacht werden können. Dabei kommt es entscheidend darauf an, dass der*die Analysierende seine*ihre eigene Aufführungserfahrung genau beschreibt und reflektiert. Zu diesem Zweck wird nach dem Aufführungsbesuch ein so genanntes Erinnerungsprotokoll angefertigt, in dem der*die Wahrnehmende Aspekte oder Momente der Aufführung beschreibt, die besonders nachhaltig auf ihn*sie gewirkt haben. In der Reflexion dieser „markanten Momente“5 stehen nicht Bedeutungen, sondern Erfahrungen im Zentrum, wie sie etwa mit Kategorien wie Klang, Stimme, Rhythmus, Atmosphäre oder Präsenz erfasst werden können.6 Die Subjektivität der entstehenden Beschreibungen wird dabei nicht als Problem empfunden, zumal im Konzept des Phänomens (d.h. des wahrgenommenen oder empfundenen Dings) der*die Wahrnehmende und das Wahrgenommene als untrennbar verschränkt gedacht werden.7 Ähnlich werden etwa Atmosphären aus phänomenologischer Sicht als eine von Wahrnehmenden und Wahrgenommenem gemeinsam konstituierte Erfahrung konzeptualisiert.8 Das Schreiben wird von den Phänomenen inspiriert. Eine phänomenologisch ausgerichtete Aufführungsanalyse setzt weniger auf die Lektüre einzelner Zeichen als auf das ganzheitliche „leibliche Spüren“ von Affektivität.9 Der*die Analysierende soll sich über das eigene Befinden in der Aufführung Rechenschaft ablegen.

In der Praxis werden die beiden Varianten der Aufführungsanalyse heute meist miteinander kombiniert, weil sich theaterwissenschaftliche Studien in aller Regel sowohl für die Bedeutungs- als auch für die Erfahrungsdimension von Aufführungen interessieren. Manche Forscher*innen legen Wert auf einen Unterschied zwischen Aufführungs- und Inszenierungsanalyse:10 Während in der Inszenierungsanalyse die Konzeption des auf der Bühne Gezeigten, das im Probenprozess Erdachte und Erarbeitete im Vordergrund steht, geht es in der Aufführungsanalyse um die Erlebnisse und Deutungen im Hier und Jetzt des einzelnen performativen Ereignisses. Tatsächlich lassen sich aber auch diese beiden Perspektiven in der analytischen Praxis gut miteinander verbinden. Die Wahl des Analyseschwerpunkts hängt nicht zuletzt vom Typus der gewählten Aufführung ab. Handelt es sich um eine Theateraufführung aus dem Feld der Künste, dann richtet sich das Interesse häufig darauf, die Idee der Inszenierung herauszuarbeiten und die von dieser Idee geprägten ästhetischen Mittel differenziert zu erfassen. Ist dagegen eine anders geartete kulturelle Aufführung (z.B. ein Fest, ein Ritual oder eine politische Versammlung) Gegenstand der Analyse, dann mag etwa die Frage nach den Regeln des Handelns oder nach der Agency einzelner Akteure im Vordergrund stehen. Auch die kulturelle Funktion der jeweiligen Aufführung kann als Fluchtpunkt der Analyse dienen.

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