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4. Eine relationale Perspektive

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Wie viele Inszenierungen postmigrantischen Theaters wirkt die Hamletmaschine des Gorki Theaters von Beginn an sehr sprachbetont: Monologisches, dialogisches und chorisches Sprechen steht im Vordergrund, weshalb es naheliegt, in der Analyse von der textuellen Dimension der Aufführung auszugehen. Hamletmaschine ist ein Stück aus dem Jahr 1977 von Heiner Müller und der Form nach eine fragmentarische Textfläche, die nicht in ihrer Kürze (von etwa neun Druckseiten), wohl aber in ihrer postdramatischen, die dramatische Figuration konsequent überschreitenden Anlage auf die späteren Stücke von Elfriede Jelinek vorausweist. Der Text beginnt mit den markanten Sätzen: „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa.“1 Dieser Auftakt lässt heute an die Situation der Geflüchteten an den Grenzen Europas denken, ansonsten aber erscheint Müllers Stück nicht prädestiniert als Textgrundlage für eine postmigrantische Inszenierung. Es ist ein metatheatraler Text, der klassische europäische Theatertraditionen reflektiert, darunter vor allem das Shakespeare-Theater mit Hamlet und weiteren kanonischen Figuren sowie die antike griechische Tragödie mit den an sie anschließenden Diskursen über die Vergeblichkeit theatralen Handelns. Die Grundidee der Inszenierung des Exil Ensembles besteht darin, diesen vierzig Jahre alten Text über eine zerstörte, gewaltsame und zukunftslose Welt und die Rolle des Künstlers darin zu collagieren mit neuen Texten des syrischen Theatermachers Ayham Majid Agha, der, selbst Mitglied des Exil-Ensembles, auf der Bühne auch als Akteur zu sehen ist. Seine Texte handeln von Erfahrungen im vom Bürgerkrieg geschüttelten Syrien. Mit der Insertion der Texte von Agha erhält die textuelle Dimension der Aufführung zugleich eine multilinguale Struktur, denn die neu eingefügten Textfragmente sind auf Arabisch oder Englisch belassen, während die Müller-Texte primär auf Deutsch gesprochen werden.

Um sich den affektiven Relationen der Aufführung analytisch zu nähern, gilt es nun, zwei Verhältnisse zu fokussieren, in die der neu konstituierte Theatertext in dieser Inszenierung eintritt, nämlich einerseits das Verhältnis von Sprache und Raum und andererseits das Verhältnis von Sprache und Körper. Die hervorstechendste Regie-Idee ist es, den auf der Bühne gesprochenen Text, die aus Müller- und Agha-Material kompilierten Textflächen, nicht nur akustisch, sondern auch visuell zu verräumlichen. Die sieben Schauspieler*innen agieren auf der weitgehend leeren, in Schwarz getönten Bühne hinter einer Art Gaze-Schirm, auf den der gesprochene deutsche, arabische oder englische Text in unterschiedlichen Lichtintensitäten und in verschiedenartigen Lineaturen projiziert wird. Zugleich sind oben rechts und links der Bühne aber auch – wie in allen Aufführungen des Gorki Theaters üblich – Übersetzungen des gesprochenen Textes als Übertitel zu lesen. Diese Konstellation hat weitreichende Folgen: Durch die filigrane Projektionstechnik sieht man die Schriftzeichen in drei verschiedenen Sprachen als Einschreibungen auf den Körpern der Schauspieler*innen. Im Zusammenspiel der agierenden Körper und der stetig wechselnden, fließenden Schriftprojektionen ergibt sich der Eindruck größter dynamischer Komplexität. Die gesprochene Sprache wirkt nicht nur auf die Körper geworfen, sondern zugleich auch von diesen gelöst, denn die Bewegung des Schriftbilds erscheint mit der der Körper nicht synchronisiert. Der multilinguale Text schiebt sich als lichtstarke Projektion auf dem Gaze-Schirm buchstäblich zwischen Akteure und Zuschauer. Auf diese Weise wird der potentiell trennende Charakter der Sprache, aber zugleich auch die ästhetische Schönheit der verschiedenartigen Schriftzeichen erfahrbar. Schrift und Sprache affizieren die Körper der Schauspieler*innen und die Wahrnehmungstätigkeit der Zuschauer*innen gleichermaßen, aber in unterschiedlicher Richtung.

Die Art der Projektion wird entscheidend dadurch geprägt, dass alle Darsteller*innen auf der Bühne in clownesken Ganzkörper-Masken aus Gummi agieren (Kostüme: Eva-Maria Bauer). Da zudem die Stimmen in der indirekten Wiedergabe über Mikroports teilweise wie durch Lachgas verzerrt klingen, erhält die gesamte Inszenierung einen grotesken Grundton. Die in den Medien viel diskutierte Zusammensetzung des Exil Ensembles aus nach Deutschland geflüchteten Schauspieler*innen aus Syrien, Palästina, Afghanistan und anderen Regionen des nahen und mittleren Ostens ist unter den Gummi-Kostümen und durch die Transformation der Stimmen schlicht nicht mehr wahrnehmbar. Die Körper scheinen sich aber nicht nur der Zuschreibung von Nationalitäten und anderen Identitätsmerkmalen zu entziehen, sie sind auch nicht lesbar im Hinblick auf individuell zurechenbare Emotionen. Neben der Maskierung der Gesichter ist es die Form der Inszenierung als Groteske, die es unmöglich macht, einzelnen Akteuren bzw. Figuren ernsthaft bestimmte Emotionen zuzuordnen. Es wäre auch unklar, auf welchem kulturellen Repertoire diese Emotionszuschreibung hier fundiert werden könnte. Gaze-Schirm, Schrift-Projektionen und Clowns-Kostüme unterstreichen als dreifache Barriere zwischen Publikum und Schauspieler-Körper die radikale Indirektheit und Unzugänglichkeit des sichtbaren Ausdrucks. Zugleich wirken die Gummi-Kostüme in mehreren Richtungen affizierend: Sie sorgen für den Grundton der Groteske, der das gesamte Bühnenarrangement dominiert. Sie bestimmen die mimischen und gestischen Ausdrucksmöglichkeiten der Schauspieler*innen. Und sie prägen entscheidend auch die Erfahrungen der Zuschauer*innen, denn ganz gleich wie man je individuell auf aggressive clowneske Fratzen und gummihaft eingeschnürte Körper reagiert: In jedem Fall sind es Eindrücke, die das affektive Vermögen der Wahrnehmenden über den gesamten Zeitraum der Aufführung beschäftigten. Das politische Potential der Aufführung ergibt sich aus eben dieser sinnlich-räumlichen Erfahrung: dass eine künstlerische Auseinandersetzung mit Krieg, Gewalt und Flucht nur in komplexer sprachlich-ästhetischer Vermittlung und damit höchst indirekt, gebrochen und offen für Missverständnisse vielfältigster Art möglich ist.

Eine so ausgerichtete Analyse würde also gerade nicht darauf abzielen, einzelnen Akteuren bestimmte Emotionen zu unterstellen oder überhaupt die emotionale Dimension des Theaters in den Vordergrund zu rücken. Es geht vielmehr um den Versuch, durch eine relationale Sicht auf das Geschehen nach dessen affizierenden Potentialen zu fragen. Die Beziehungsverhältnisse der Aufführung sollen analysiert werden, ohne sich dabei auf die personalen Interaktionen auf der Bühne oder die Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum zu beschränken. Die materiellen Arrangements wären in einem umfassenden, nicht mehr anthropozentrischen Sinne zu erfassen. Affekttheorie, Objekttheorie, spekulativer Realismus und andere theoretische Impulse der letzten Jahre verweisen auf die Notwendigkeit, eine Schreibweise zu überwinden, die alle Elemente einer Aufführung stets auf die Position des*der Schreibenden zu beziehen tendiert. Aufführungen sind affizierte und zugleich affizierende Konstellationen, die sich in permanenter Bewegung befinden und in dieser Bewegung die Positionen des Agierens und Zuschauens immer wieder neu verteilen. So käme es für affektorientierte Aufführungsanalysen darauf an, sich von vornherein auf Relationen und Konstellationen statt auf die eigenen subjektiven Empfindungen zu konzentrieren. Es liegt auf der Hand, dass beides nicht einfach voneinander zu trennen ist. Aber gerade in politischer Hinsicht bedeutet es einen Unterschied, ob man subjektive Empfindungen, den eigenen, individuellen Standpunkt stark macht – oder aber Relationen und Verdichtungen betont, die den eigenen Standpunkt immer auch destabilisieren können.

Eine Differenz zu betonen zwischen solchen Schreibweisen, die das eigene Empfinden in den Mittelpunkt rücken, und anderen, die sich auf das Beschreiben von Relationen im Aufführungsraum konzentrieren, darf den Blick nicht davor verschließen, dass Aufführungsanalysen immer an spezifische Perspektiven und Positionen gebunden sind. Die Perspektivik des Beschreibens ist unhintergehbar, und man würde hinter die Standards schon der frühen, semiotischen Aufführungsanalyse zurückfallen, wenn man die Abhängigkeit des Analysierens von der eigenen sozialen und kulturellen Situiertheit leugnen wollte. Aus der Anerkennung dieser grundsätzlichen Perspektivik aufführungsanalytischen Schreibens lassen sich aber unterschiedliche Konsequenzen ziehen. Man kann sich umso entschiedener auf die sprachliche Repräsentation des eigenen Erlebens festlegen.2 Eine andere Vorgehensweise, für die ich hier plädieren möchte, relativiert die eigene Position durch eine relationale Perspektive – und interessiert sich darüber hinaus für die Frage, wo sich die verschiedenen Perspektiven auf die Aufführung manifestieren bzw. an welchen Materialien sie untersucht werden können.

Eine Theateraufführung, das sei hier nur als Ausblick angedeutet, bringt solche Materialien selbst hervor. Aufführungen sind nicht nur auf Diskurse bezogen, sie generieren auch ihrerseits Diskurse, und diese generative Seite von Aufführungen müsste in der Analyse stärker beachtet werden. Was bedeutet es, Aufführungen als diskursgenerierende Ereignisse zu konzeptualisieren? Es bedeutet ernst zu nehmen, dass das Hier und Jetzt der Aufführung in allen Richtungen diskursive Erweiterungen hervorbringt. Die Texte, in denen sich diese Weiterungen niederschlagen, reichen von frühen Interviews mit dem Dramaturgen oder der Regisseurin über Programmhefte, Notizen und Diskussionsprotokolle von den Proben, Vorabberichte der Presse, Publikumsgespräche, begleitende Podiumsdiskussionen bis hin zu Rezensionen, Blogs und weiteren Rezeptionsdokumenten. Durch Interviews mit Teilnehmenden hat die Theaterwissenschaft die Möglichkeit, die Palette der aus der Aufführung heraus entstehenden Texte sogar noch zu erweitern. Sicher kann man einwenden, dass auch diese Materialien bei weitem nicht alle Perspektiven auf die Aufführung abdecken und erneut nur die Sichtweise eines ohnehin schon dominanten ‚Theatermilieus‘ reproduzieren. Gleichwohl zeigt sich, dass die von der Aufführung generierten Texte von innerer Vielstimmigkeit geprägt sind und auf Machtkonflikte und Deutungskontroversen hinweisen, die einer internalistischen Sichtweise verborgen bleiben würden.

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