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2. Zur Virulenz des Subjektivismus-Problems

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Der eingangs skizzierte Subjektivismus-Vorwurf gegen die Aufführungsanalyse begegnet in jüngerer Zeit dringlicher als zuvor. Diese Virulenz hat auch mit veränderten Forschungsinteressen zu tun. Längst beschränken Theaterwissenschaftler*innen ihre Studien nicht mehr auf die vertrauten Theaterformen der eigenen Region. Mit der verstärkten Globalisierung des Theaterbetriebs (u.a. durch internationale Gastspiele, Tourneen und Festivals) ist Interkulturalität eine allgegenwärtige Dimension in Aufführungen geworden. Es vermehren sich damit auch Erfahrungen des Nicht-Verstehens, mit denen in semiotischen Analysen nicht leicht umzugehen ist: Kann man Zeichenprozesse analysieren, wenn einem der zugrundeliegende Code gar nicht geläufig ist? Inszenierungen des postmigrantischen Theaters, Debatten über Blackfacing, Minstrel Shows und andere kolonial geprägte Darstellungsformen und eben die transkulturelle Öffnung von Gastspielen und Festivals regen zum Nachdenken darüber an, wer aus welcher Perspektive über ein szenisches Geschehen scheiben kann. Die Frage nach der Perspektivgebundenheit bzw. Positionalität des Analysierens stellt sich in ähnlicher Weise sicher auch Kunsthistoriker*innen und Filmwissenschaftler*innen, aber ein spezifisches Problem der Aufführungsanalyse scheint doch daraus zu resultieren, dass Aufführungen anders als Filme oder Bilder ihr Publikum immer schon miteinschließen: Wenn wir über eine Aufführung schreiben, schreiben wir auch über ein Publikum, das integraler Teil dieser Aufführung ist und dessen Mitglied wir wiederum selbst sind – ohne es allerdings repräsentieren zu können. Wie unterscheidet sich die eigene Perspektive von derjenigen anderer Zuschauer*innen? Was ist die eigene Position nicht nur zu, sondern auch in der Aufführung, und wie hebt sie sich von anderen darin etablierten Positionen ab?

Auf dem derzeit stark bearbeiteten Feld von Theater und Migration, in der Beschäftigung mit migrantischem bzw. postmigrantischem Theater (um diese problematischen Bezeichnungen hier einmal als Kürzel zu verwenden) wird oft die Forderung erhoben, in aufführungsanalytischen Texten die eigene Perspektive gründlicher und expliziter zu problematisieren. Es ist meines Erachtens eher nicht die ästhetische Form der betreffenden Aufführungen, die die eigene Perspektive problematisch werden lässt, zumal die verwendeten Formen einerseits ganz unterschiedlich ausfallen können, andererseits oft recht leicht zugänglich sind. Entscheidend für die politische Frage nach der Positionalität des Schreibenden ist vielmehr die Beteiligung von Gruppen, die in die drängenden identitätspolitischen Kämpfe der Gesellschaft verwickelt sind. Beteiligung kann bedeuten, dass die betreffenden Inszenierungen thematisch auf diese Gruppen eingehen; sie kann aber auch darin bestehen, dass Mitglieder dieser Gruppen an der Aufführung mitwirken, sei es als Darsteller*innen oder als Zuschauer*innen. Sobald eine dieser Formen der Beteiligung gegeben ist, wird ein anspruchsvoller Fragenkatalog aufgerufen: Welche sozialen Gruppen konstituieren die Aufführung insgesamt, und welche dieser Gruppen ist in der Lage, die kulturellen Codes zu entschlüsseln, die in die Inszenierung eingegangen sind? An wen richtet sich die Inszenierung, für welche Zielgruppe wurde sie gemacht, bei wem möchte sie etwas bewirken? Wer ist aufgrund welcher biographischer Prägungen in der Lage, die Erfahrungen, die in der Aufführung verhandelt werden, nachzuvollziehen? Welchen Gruppen gibt die Aufführung Raum, welche anderen Gruppen bleiben in ihr unsichtbar? Wie geht eine Inszenierung, die von identitätsbezogenen Ein- und Ausschlüssen handelt, mit den Ein- und Ausschlussmechanismen des Theaters um? Wie man diese Fragen beantwortet, hängt nicht unwesentlich von der sozialen Position ab, auf der man sich selbst befindet. Eine Inszenierung, die identitätspolitische Grenzziehungen problematisiert, fordert die diversen Identitätskonstruktionen der Zuschauer*innen in unterschiedlicher Weise heraus. Welche Identitätskonstruktion organisiert den Blick des*der Analysierenden? Kann und sollte er*sie das offenlegen?

Das Problem liegt hier weniger im Sollen als im Können: Wenn man sich von psychoanalytischen Subjektmodellen nicht gänzlich verabschieden möchte, muss man damit rechnen, dass das Subjekt seine identitären Prägungen gerade nicht vollständig überschauen kann, sondern dass diese, bis in die Feinheiten der sexuellen Orientierung, weitgehend im Unbewussten operieren. Deshalb kann es vermessen wirken, wenn ein*e Autor*in glaubt, die eigene Subjektposition ebenso vollständig wie sortiert offenlegen zu können. Die Forderung, das Beschreiben von Aufführungen mit einer möglichst vollständigen Explikation der eigenen sozialen, kulturellen und politischen Situiertheit zu verbinden, birgt enorme Schwierigkeiten und kann in den resignativen Rückzug aus der Aufführungsanalyse münden. Jedenfalls fällt auf, dass in vielen Büchern und Aufsätzen zu Themen wie Theater und Migration, politisches Theater oder angewandtes Theater kaum mehr aufführungsanalytisch argumentiert wird. Nicht immer wird ausdrücklich gefordert, kunstwissenschaftliche Betrachtungsweisen durch ethnographische und sozialwissenschaftliche Verfahren zu ersetzen, aber die Praxis vieler Autor*innen auf den genannten Feldern weist in diese Richtung. So entstehen Bücher über Theater, in denen man nur noch wenig darüber erfährt, was auf der Bühne zu sehen ist und im Aufführungsraum geschieht.

Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive ist das zu beklagen, denn Fragen nach Diversität und Perspektivik entziehen dem aufführungsanalytischen Blick sicher nicht die Legitimation – wohl aber deren Selbstverständlichkeit. Es sind vor allem zwei Herausforderungen, mit denen Aufführungsanalysen in der Beschäftigung mit postmigrantischen Inszenierungen umzugehen haben: Zum einen handelt es sich hier um ein Theater, das sich geradezu programmatisch gegen unidirektionale Fremdzuschreibungen wendet. Postmigrantisches Theater ist entstanden als eine Kritik an der Selbstgewissheit, mit der Angehörige einer angeblich alt-eingesessenen Bevölkerungsmehrheit Menschen mit Migrationshintergrund bestimmte Einstellungen, Lebenshaltungen und Gefühle unterstellen. Von daher wäre es unangebracht, wenn die Aufführungsanalyse sich nun – in semiotischer Tradition – darum bemühen würde, den von den Akteuren stimmlich, mimisch und gestisch gebotenen Zeichen einzelne Bedeutungen zuzuschreiben. Die erste Herausforderung besteht also darin, ein schlichtes Ausdeuten individueller Anzeichen für bestimmte Gefühlslagen zu vermeiden. Zum anderen hat postmigrantisches Theater eine markant politische Stoßrichtung, die in einer rein phänomenologischen Perspektive leicht verfehlt werden kann, zumindest wenn sich diese Perspektive darin erschöpft, dass man das eigene ‚leibliche Spüren‘ in der Inszenierung genau registriert und beschreibt. Denn mit welchem Recht ließe sich dieses Spüren in der Analyse über die Erfahrungen anderer Aufführungsteilnehmer*innen stellen? Die zweite Herausforderung liegt deshalb in der Notwendigkeit, die eigene Position und das eigene Empfinden in der Aufführung nicht zu universalisieren.

Eine Antwort auf beide Herausforderungen kann es sein, sich auf materielle Relationen zu konzentrieren und entsprechend Affizierungen zwischen Akteuren, Objekten, Stimmen, Sprachen und deren räumlichen Anordnungen herauszuarbeiten. Es mag auf den ersten Blick kontraintuitiv wirken, auf den Subjektivitäts-Vorwurf gerade mit einer Fokussierung des Affektiven zu reagieren. Aber als relationales Konzept ist Affektivität tatsächlich geeignet, die in der Aufführung gemachten Beobachtungen nicht gleich entlang einer Subjekt-Objekt-Dichotomie zu organisieren. Affektivität lässt sich nur aus einer Perspektive beschreiben, die transindividuelle Prozesse in den Blick nimmt und dabei neben menschlichen Akteuren, ihren Körpern und Stimmen, auch Dinge, Objekte, Bewegungen und materielle Arrangements berücksichtigt.1 Um diese Perspektive einzunehmen, kann es helfen, nicht konkrete Interaktionen zwischen Individuen zu beschreiben, sondern sich auf die materielle Transformation einzelner Elemente zu konzentrieren: Wie wird zum Beispiel der Text, der der Inszenierung zugrunde liegt, in verschiedene materielle Register übersetzt? In welchen Relationen steht das in sich hochdifferenzierte sprachliche Material zu anderen Materialien der Aufführung, und welche Bewegungen und affektiven Arrangements ergeben sich daraus? Eine solche Fragerichtung der Aufführungsanalyse soll im Folgenden zunächst auf der Grundlage einer knappen Begriffsbestimmung und dann an einem Inszenierungsbeispiel angedeutet werden.

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