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4 Romanische Sprachwissenschaft in der Anfangsphase der Romanistik
ОглавлениеWas die Neuphilologie prinzipiell von der Altphilologie unterschied, war die gleichwertige Behandlung der Sprach- und der Literaturwissenschaft. Die Altphilologie hatte die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft weitgehend an die Indogermanistik abgegeben, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre erste Blüte erlebte, und sie war so weitgehend zu einer reinen Literaturwissenschaft mit sprachpraktischen Bestandteilen („Stilübungen“) geworden. In der Romanistik bestimmte das Verhältnis der acht romanischen Schriftsprachen zum gut bekannten Latein die Aktivitäten der ersten Wissenschaftsgeneration: Zwischen 1831 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erfolgten die maßgeblichen Veröffentlichungen von Friedrich Diez und von seinem geistigen Erben Wilhelm Meyer-Lübke (1861–1936). In ihren gesamtromanischen Studien ging es prinzipiell darum, wie sich aus einer gemeinsamen lateinischen Basis eine Vielzahl romanischer Weiterentwicklungen ergeben konnten. Friedrich Diez verfolgt auf romanischem Gebiet die Erkenntnisse, die Franz Bopp auf indogermanischem Gebiet und Jacob Grimm in der Germanistik erzielt hatten, und Wilhelm Meyer-Lübke verfolgte die Ansätze der junggrammatischen Schule mit romanischem Material. Das Material ist in beiden Fällen eine historische Grammatik und ein etymologisches Wörterbuch: Zwischen 1836 und 1843 veröffentlicht Diez die drei Bände seiner Grammatik der romanischen Sprachen, denen im Jahre 1869 die dritte Auflage des ersten Bandes folgt, in der zum ersten Male klar zwischen Erbwörtern und gelehrten Elementen unterschieden wird. Durchgeführt wird eine dreifache Gliederung der romanischen Schriftsprachen: Im Osten das Rumänische (Walachische) und das Italienische, im Westen das Spanische und das Portugiesische, im Norden das Französische und das Okzitanische (Provenzalische). Freilich zeigt diese Grammatik durchaus noch die typischen Erscheinungen einer Erstlingsarbeit:
L’aspect comparatif se limite encore trop souvent à la juxtaposition de formes (le troisième volume a une allure trop comparative), et l’aspect historique n’est pas sans failles non plus: Diez estime que l’évolution linguistique est faite de processus dont les uns sont réguliers et les autres irréguliers, et très souvent il ne parvient pas à reconnaître le conditionnement linguistique des processus évolutifs. (Swiggers 2014, 48)
Ein Etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen folgt 1853 und kennt mehrere Neuauflagen. Dieses Wörterbuch muss mit Umsicht benutzt werden: Wörter, deren Herleitung in den Augen von Diez offenkundig ist, wurden nicht aufgenommen. Die Wörter sind aufgeteilt nach den „gemeinromanischen Wörtern“, wo die italienischen Wörter das Stichwort bilden, gefolgt von den spanischen und französischen Formen; eine zweite Abteilung umfasst „Wörter aus einzelnen Gebieten“, in der Reihenfolge italienisch, spanisch, französisch.
Der walachischen in der fremde erzogenen, mit den übrigen nicht aufgewachsenen tochter der römischen mutter habe ich keine eigene stelle eingeräumt, sie nur zur vergleichung zugelassen, nicht anders als die churwälsche. Die volksmundarten […] habe ich überall zu rathe gezogen, so weit die mir gestatteten hülfsmittel ausreichten, ihnen auch zuweilen beispiele halber kleine artikel vergönnt“ [IX-X]. (Diez 1853, S. IX-X)
Wenn also das etymologische Wörterbuch schwer zu benutzen ist und die Auswahl der romanischen Wörter als recht subjektiv bezeichnet werden muss, so ist doch mit Pierre Swiggers (2014, 49) festzuhalten, dass es sich um eine „réalisation remarquable“ handelt, „par la masse des matériaux réunis, par le souci de méthode et l’attitude prudente de l’auteur, enfin par la présence d’ouvertures à l’histoire sémantique des mots et à des problèmes d’onomasiologie (avant la lettre), ce qui renforce le caractère plus ‚narratif‘ (et lisible) des articles du dictionnaire“.
Der begabteste Schüler von Friedrich Diez war zweifellos der früh verstorbene August Fuchs (1818–1847), der in seinem posthum veröffentlichten Werk über Die romanischen Sprachen in ihrem Verhältnisse zum Lateinischen die Einheit zwischen Latein und Romanisch darin sah, dass das gesprochene Latein im Romanischen seine natürliche Weiterentwicklung erlebte und dass es sich dabei nicht um eine Dekadenz der eigentlich vollendeten Sprache Latein, sondern um die Weiterentwicklung der lateinischen Umgangssprache zu einer Sprachform größerer Klarheit handele.
Ein wichtiges Bindeglied zwischen Diez und Meyer-Lübke stellt Gustav Körting (1845–1913) dar, nicht weil er wissenschaftlich große Neuerungen durchgeführt hätte, sondern weil er in seinem Lateinisch-romanischen Wörterbuch (1890) von den (oft rekonstruierten) Etyma ausging, die er durchgehend nummerierte.