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Die Rettung kam aus Russland

KARL HANISCH

Der 10. Juli 1946, damals war ich acht Jahre alt, war sportlich gesehen ein bedeutender Tag in meinem Leben. Es war der Tag, an dem meine Brüder mich zum ersten Mal mit zur Glückauf-Kampfbahn nahmen. Schalke 04 spielte damals gegen den Lokalrivalen Alemannia Gelsenkirchen. Große Erinnerungen habe ich nicht an das Spiel. Im Tor der Alemannen stand Sockel, das Tor der Schalker hütete Hans Klodt. Beide sahen imposant aus mit ihrer Schlägermütze. Schalke gewann, und ich meine, Ötte Tibulski hätte einen unberechtigten Elfmeter Richtung Eckfahne geschossen. Dieses Spiel war, wie ich später erfuhr, das zweite Spiel in der Glückauf-Kampfbahn nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Bombentrichter waren gerade erst beseitigt worden.

Altersbedingt sind meine weiteren Erinnerungen an die Schalker Nachkriegsjahre etwas verschwommen. Ich verbinde sie mit Spielen um die Meisterschaft der Britischen Zone gegen für mich damals exotische Vereine wie den FC St. Pauli und den Hamburger SV, mit Freundschaftsspielen gegen den VfB Stuttgart, mit riesigen Zuschauermengen, in denen eigentlich für mich kein Platz war. Spielernamen wie Spundflasche und Warning vom HSV und Karl Miller von St. Pauli sind mir immer noch ein Begriff. Der Ex-Schalker Kalli Barufka, der Torwart „Gummi Schmidt“ und der einarmige Torjäger Robert Schlienz vom VfB Stuttgart waren neben unseren Schalkern meine Helden. Na ja, so ganz stimmt das nicht. Vor allen anderen bewunderte ich Szepan, Kuzorra, Tibulski und Hans Klodt, die damals unser Trikot trugen.

Ich denke immer noch gerne an die schönen langen Sonntage in der Glückauf-Kampfbahn zurück: Es gab noch Vorspiele. Zuerst spielte die Jungliga-Mannschaft, dann die Reserve. Ich kann mich sogar an ein Handballspiel als Vorspiel erinnern. Unsere Handballer spielten gegen Polizei Hamburg, bei denen Otto Maychrzak spielte, bekannt als „Atom-Otto“.

Das war mein Anfang auf Schalke. Im Laufe der Zeit kam in mir ein Zwiespalt auf, den ich erst einmal verarbeiten musste. Meine Hauptlektüre zur damaligen Zeit war neben einer sehr schön illustrierten Kinderbibel ein Buch von Theodor Krein. Es hieß Die blau-weißen Fußballknappen. Alles das, was mir vorher noch nicht über die ruhmreiche Vergangenheit der Schalker erzählt worden war, erfuhr ich aus diesem Buch. Und es stimmte so gar nicht mit der Gegenwart überein. Die Gegenwart, das waren nicht Spiele gegen den 1. FC Nürnberg, den Dresdner SC, Admira und Vienna Wien oder gegen den FC Brentford, sondern Spiele in der Oberliga West gegen VfL Witten, Hamborn 07, VfR Köln, Preußen Dellbrück, den Nachbarn STV Horst und die Sportfreunde aus Katernberg, und fast alle Spiele gingen verloren.


So richtig wurde mir das 1948/49 bewusst, in einer Saison, in der wir bis auf den letzten Platz abrutschten. Zum ersten Mal spürte ich, der ich gerade zehn Jahre alt war, was Schalke für die Fans, für mich bedeutete. Zum ersten Mal zitterte ich um den Verein, und nicht zum letzten Mal ging es gut aus. Die Rettung kam … aus Russland. Vor dem letzten Saisonspiel standen wir also auf dem letzten Tabellenplatz, einen Punkt hinter Sportfreunde Katernberg. Im Spiel gegen Vohwinkel 80 musste unbedingt ein Sieg her, und gleichzeitig durfte Katernberg nicht gewinnen. Genau pünktlich, kurz vor dem Spiel, kehrten zwei Spieler aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, vier Jahre nach Kriegsende. Was Kriegsgefangenschaft bedeutete, das konnte ich mir trotz meiner zehn Jahre ziemlich genau vorstellen, denn mein älterer Bruder, der als 17-jähriger Bursche ebenfalls in russische Gefangenschaft geriet, aber wegen seines jugendlichen Alters Gott sei Dank früh freigelassen wurde, hatte mir einiges darüber erzählt.

Die beiden Spieler waren Hermann Eppenhoff und Walter Zwickhofer, die für mich das glanzvolle Schalke darstellten, das ich aus dem Kreinbuch kannte. Ich kann mich nicht erinnern, wann die Zuschauer von ihrer Rückkehr erfuhren. Egal, sie standen kurz nach ihrer Ankunft in Gelsenkirchen auf dem Platz, gaben der fast abgestiegenen Mannschaft Mut und trugen maßgeblich dazu bei, die Vohwinkeler mit 5:1 nach Hause zu schicken. Katernberg schaffte gleichzeitig gegen Rot-Weiss Essen, den damaligen Tabellenzweiten, zwar ein achtbares Unentschieden, was aber für sie nicht reichte. Sie stiegen ab, und uns stand ein Relegationsturnier mit den Zweitligisten Bayer Leverkusen und VfL Benrath bevor. Wir mussten dieses Turnier gewinnen, um in der Oberliga zu bleiben.

Wir starteten mit einem 1:0 gegen Bayer Leverkusen. Ich meine, unser trickreicher Linksaußen Grzella hat das entscheidende Tor geschossen. An das Ergebnis des Spieles der Benrather gegen Leverkusen kann ich mich nicht erinnern. Klar war jedoch, dass das abschließende Spiel gegen den VfL Benrath auf neutralem Platz in Wuppertal die Entscheidung bringen musste. Ganz Gelsenkirchen fieberte dem Spiel entgegen. Mir ist entgangen, wie mich das Ergebnis erreichte. Wurde es auf WDR übertragen? War es nur eine Nachrichtenmeldung? Keine Ahnung, und es war auch egal. Schalke hat das Spiel gewonnen, und die beiden alten Neuen, Eppenhoff und Zwickhofer, waren maßgeblich beteiligt. Nicht nur der Sieg begeisterte mich, sondern auch das unglaubliche Ergebnis. 9:0 gewannen wir, und Erinnerungen an das Endspiel gegen Admira Wien, von dem ich zigmal gelesen hatte, kamen auf.

Der Sieg, das Ergebnis und der Klassenerhalt, alles das trieb mich zum Hauptbahnhof, um die zurückkehrenden Anhänger, wie man sie damals noch nannte, und die Mannschaft zu empfangen. Wie ich es schaffte, meinen Eltern am sehr späten Aprilnachmittag zu entwischen, ist mir jetzt noch schleierhaft.

Als ich am Gelsenkirchener Hauptbahnhof ankam, war schon eine riesige Menschenmenge anwesend. Der Zug aus Wuppertal hatte anscheinend Verspätung. Es wurde dunkler und dunkler, und so langsam bekam ich ein schlechtes Gewissen: Zehn oder gerade elf Jahre alt, zwar zusammen mit vielen Menschen, aber dennoch irgendwie alleine am Bahnhof. Und meine Eltern wussten von nichts. Andererseits dachte ich, dass es doch auch ihre Erziehung war, die mich zum Empfang der Schalker am Bahnhof trieb.

Ich schob schließlich alle Bedenken von mir, denn plötzlich hatte ich die große Erleuchtung: Einer der vielen Anhänger, die zusammen mit unserer Schalker Mannschaft aus dem aus Wuppertal kommenden Sonderzug stiegen, war mein großer Bruder. Zu meiner Freude schaffte ich es, ihn in der Menge ausfindig zu machen. Er nahm mich an seine Hand, und wir liefen still und glücklich, ich ein wenig besorgt, die 30 Minuten zu unserer elterlichen Wohnung.

Niemand glaubt es mir jetzt: Ich weiß wirklich nicht mehr genau, wie meine Eltern uns bzw. mich empfangen haben. An eine Tracht Prügel könnte ich mich sicherlich erinnern. Vielleicht gab es Stubenarrest? Das ist denkbar, aber das hätte mich nach solch einem Ereignis wohl nur wenig bewegt. Ich glaube aber eher, dass meine Eltern sehr erleichtert waren, meine Mutter, weil ich glücklich wieder aufgetaucht war, mein Vater auch, weil wir nicht abgestiegen waren. Und das dank Hermann Eppenhoff und Walter Zwickhofer, die unbedingt einen Platz in unserer Ehrenkabine verdient haben.

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