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Meinem Vater

HENNING MANN

Auf Schalke gehe ich jetzt seit über 21 Jahren, genauer gesagt seit dem Heimspiel 1989 gegen Blau-Weiß 90 Berlin, als uns der Sieg den Verbleib in der zweiten Liga sicherte. Über 66.000 Zuschauer waren aufgrund ermäßigter Eintrittspreise ins Parkstadion gekommen und erlebten die Rettung und den Start in eine neue, erfolgreichere Zukunft.

Das konnte damals natürlich noch keiner wissen. Am wenigsten wohl ich, doch das wäre mir in diesem Augenblick auch völlig egal gewesen. Ich habe noch heute das Bild von den Massen vor Augen, die sich in den Kurven sowie auf der Gegengeraden breitmachten. Ich bin heute noch im Besitz der Eintrittskarte: Haupttribüne, Block C, Vater-und-Sohn-Ticket, 10 DM, das stelle man sich heute mal vor. Ich weiß noch, wie fasziniert ich war von den Anfeuerungen aus der Nordkurve, von den blau-weißen Schals und Fahnen und von der tollen Stimmung, die natürlich aufgrund des Klassenerhaltes in Euphorie und Ekstase endete.

Ich war gefangen, infiziert vom blau-weißen Virus, der mich bis heute nicht losgelassen hat, mich mein ganzes Leben begleiten wird und den ich versuchen werde, auch an meine Tochter weiterzugeben (da bin ich auf einem guten Weg, auch wenn der Kuranyi-Wechsel ein böser Rückschlag dafür war)! Wem habe ich das Ganze zu verdanken? Meinem Vater!

Meinem Vater, der schon zu Zeiten der Glückauf-Kampfbahn auf Schalke gegangen ist.

Meinem Vater, der die Meisterschaft 1958, den Pokalsieg 1972, aber auch den Bundesligaskandal und den ersten Abstieg live miterlebte und daher wusste, was Höhen und Tiefen auf Schalke sind.


Meinem Vater, der es nicht hinnehmen wollte, dass sein Sohn ein „babyblauer“ (O-Ton meines Vaters zu den Bochumer Nachbarn, hat sich bis heute in unserem Sprachgebrauch total festgesetzt) wird. Dahin war ich nämlich auf dem besten Wege: Mein Onkel war VfL-Fan und nahm mich im Alter von sieben oder acht mal mit zu einem Bundesligaspiel. Das schien ich wohl recht toll gefunden zu haben, die genauere Erinnerung daran fehlt mir aber, von Emotionen und Gefühlen wie oben beschrieben weiß ich auch nichts mehr. Gab wohl keine, weil ich von vornherein die richtigen Gene hatte. Jedenfalls wollte mein Vater damals Schlimmeres verhindern und nahm mich alsbald mit auf Schalke. Mission erfüllt, würde ich heute sagen oder den Satz zitieren, der mal bei einem Spiel gegen den Club als Spruchband gezeigt wurde: „Tradition ist nicht Asche bewahren, sondern die Weitergabe des Feuers!“

Meinem Vater, der mich mit meiner ersten Schalke-Mütze ausstattete. Ein ganz komisches Ding, solche Mützen gibt es heute gar nicht mehr. S04-Abzeichen in der Mitte, sehr flach und am ehesten noch mit einer Kapitänsmütze vergleichbar, wenngleich ohne eigenen Schirm. Ich kann sie gar nicht genau beschreiben, in den Neunzigern waren die Dinger aber weit verbreitet! Sah wahrscheinlich verboten aus, aber ich war stolz wie Oskar!!

Meinem Vater, der mir durch lustige und skurrile Geschichten, die er selber mit und bei unseren Blauen erlebt hat, deutlich gemacht hat, dass „auf Schalke gehen“ eben mehr ist als 90 Minuten Fußball zu gucken. Hier jetzt Beispiele zu nennen, würde den Rahmen wohl etwas sprengen, stellvertretend sei der Ordner in Block H des Parkstadions genannt, der „seinen Jungs“ zu jedem Heimspiel selbstgemachte Frikadellen mitbrachte und immer traurig war, wenn mal keiner von denen auftauchte!

Meinem Vater, den die Liebe zu seinem Verein viel Geld kostete. Da wurden z. B. mal 1000 DM gewettet, dass Schalke bis 1999 Deutscher Meister wird, nur um den stichelnden Kollegen den Wind aus den Segeln zu nehmen (Zeitpunkt der Wette war der erste Abstieg). Es hat nicht geklappt, er hat gezahlt, aber das war es ihm wert!

Meinem Vater, der nach außen sehr ruhig und emotionslos wirkte, sich aber nirgends so schön ärgern oder freuen konnte wie auf der Tribüne.

Meinem Vater, der sich persönlich vom Stadiongang immer mehr verabschiedete, da seine Kumpels alle nicht mehr gingen und er ja schließlich den „Job“ an mich weitergegeben hatte.

Meinem Vater, der am 24. Februar 2010 nach schwerer Krebserkrankung, aber zu diesem Zeitpunkt doch recht plötzlich, verstarb. Etwas über 48 Stunden später sollte Schalke im Derby gegen Lüdenscheid antreten. Ein Spiel, das mich immer schon Tage vorher in seinen Bann zieht und die Vorfreude von Stunde zu Stunde wachsen lässt. Das Spiel des Jahres!

Diese Vorfreude war natürlich auf einen Schlag weg. Auch wenn der nahende Tod unübersehbar gewesen war, auf so etwas kann man sich nicht vorbereiten.

Dennoch stellte ich mir die Frage, ob ich das Spiel besuchen sollte, auch um mich abzulenken und ein wenig aus dem Alltag rauszukommen. Denn auch das ist ja ein Teil von Schalke, dieses Ausbrechen aus dem Alltagstrott! Trikot an heißt „Getz is Schalke“, und da ist dann irgendwie alles anders, auch wenn man immer die gleichen Leute trifft, dieselbe Biersorte trinkt oder am gleichen Stand seine Bratwurst isst. Dieses Gefühl zu beschreiben ist fast unmöglich, man muss es erleben und annehmen, um es zu begreifen!

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich ging zu dem Spiel, auch da mich meine Mutter und meine Frau darin bestärkten und vor allem, da ich wusste, dass mir mein Vater das Gleiche gesagt hätte: „Junge, sieh zu, dass du ins Stadion kommst!“ Für mich begann also sicherlich eines der emotionalsten Derbys meines bisherigen und zukünftigen Lebens. Und als Ivan den Ball zum 2:1 in den Winkel setze, schaute ich unwillkürlich nach oben, und ich wusste, wer hier heute zugesehen hatte! Und meine Gedanken waren: „Danke, Papa, für die Weitergabe des Feuers!“

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