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Heiliger Rasen

MARIUS FRYE

Ich kann trotz meines zarten Alters von 19 Jahren schon behaupten, bei vielen großen Momenten der Schalker Geschichte live dabei gewesen zu sein. Den 34. Spieltag der Saison 2000/2001 habe ich gesehen, ich war beim 19:04-Minuten-Schweigen gegen die Bayern dabei oder auch beim 3:3 bei den SchwachGelben. Ein Erlebnis, welches mir aber ganz besonders im Gedächtnis bleibt, spielte sich am 22. Mai 1999 ab. An diesem Tag fand der 33. Spieltag statt. Das letzte Heimspiel unserer Blauen gegen Eintracht Frankfurt. Aber von Anfang an …

Mein Vater, der schon seit fast 30 Jahren auf Schalke fährt, hat mir die blauen Gene quasi in die Wiege gelegt. Dies versichert er auch deshalb, weil bei meiner Geburt die Nabelschnur um meinen Hals gewickelt war und ich dadurch mit königsblauem Gesicht zur Welt kam. Von Anfang an nahm mein Vater mich mit ins Parkstadion. Noch heute bedauere ich, dass er mich aus Sicherheits- und/oder Sichtgründen nie mit in die Nordkurve nahm, sondern immer nur auf einen Sitzplatz. Da mein Vater nicht nur mich zum Blauen machte, sondern bis heute noch als königsblauer Missionar agiert, kam es dazu, dass er im Jahr 1999 auch meine Tante überredete, einmal mit auf Schalke zu fahren.

Das Besondere war, dass meine Tante viele Reisen gemacht und so auch einen Freund in Jamaika kennengelernt hatte, der sie zu eben dieser Zeit in Deutschland besuchte. Dieser Freund musste nun natürlich auch mit auf Schalke. So kam es am 22. Mai 1999 dazu, dass mein Vater seine Frau, seine Tochter, mich und seine Schwägerin inklusive des Jamaikaners Jerry ins Auto packte und vom beschaulichen Nordhessen gen Gelsenkirchen aufbrach.

An alle Einzelheiten dieses Tages kann ich mich nicht genau erinnern, da ich damals erst acht Jahre alt war. Ein paar Dinge sind mir aber nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Zum Beispiel werde ich nie vergessen, wie wir da so mit der ganzen Familie auf den harten Holzbänken der Haupttribüne saßen und Jerry auf einmal eine Machete aus seiner Tasche zog. Mein Vater erschrak und fragte sich, wie Jerry ein so großes Messer unbemerkt an den Ordnern hatte vorbeischmuggeln können. Na ja, denn … Das Spiel lief so dahin, wie wir es von den Schalkern kennen. Wir lagen schnell nach 15 Minuten mit 2:0 in Führung, durch Oliver Held und durch einen Hammerfreistoß von Hami Mandirali. Am Ende aber verloren wir das Spiel doch noch mit 2:3.

Mich beeindruckte total, wie am Ende des Spiels fast alle Schalker unter den 51.000 Zuschauern aufs Spielfeld rannten, um sich ein Stück „Heiligen Rasens“, wie es mein Vater nannte, oder etwas vom Tornetz mitzunehmen. Ich wollte unbedingt auch „Heiligen Rasen“ bekommen. Meine Mutter erlaubte mir allerdings nicht, auf den Platz zu rennen, da sie Angst hatte, mich nicht mehr wiederzufinden.

Nun gut. Wir gingen alle zusammen zurück Richtung Parkplatz, und ich war ziemlich bedrückt, dass ich keinen Rasen bekommen hatte. Auch wenn der Jamaikaner Jerry nur Englisch konnte, hatte er mitbekommen, wie enttäuscht ich war. Plötzlich sprach er einen Schalker an, der ein großes Stück Rasen mit sich trug. Dieser verstand zwar nicht viel Englisch, konnte aber durch Zeichensprache (ohne Einsatz der Machete!) von Jerry erfahren, dass er ihm doch bitte etwas von seinem Rasen abgeben solle.

Unter Schalkern ist das natürlich kein Problem, so dass Jerry mir tatsächlich ein Stück „Heiligen Rasens“ schenkte und mich damit superglücklich machte. In diesem Moment war ich wahrscheinlich der glücklichste Schalker, den es nach dieser 2:3-Niederlage gab.

Jerry reiste wieder zurück nach Jamaika, und ich sah ihn nie wieder, aber meinen „Heiligen Rasen“ pflanzte ich bei mir zuhause in einen Topf ein und pflegte ihn jeden Tag. So wurde dieses Stück Rasen von nun an auch jeden Samstag mein Glücksbringer, wenn unsere Blauen wieder um drei Punkte kämpften. Schließlich war er ja, wie mein Vater immer sagte, heilig.

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