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ОглавлениеMitten in das Schalker Herz
KEES JARATZ
In den Siebzigern, als Jugendlicher, ging ich mit Freunden zusammen zu den Heimspielen ins Wedaustadion. Auch zu einzelnen Auswärtsspielen machten wir uns auf, doch so eine Fahrt in der Clique blieb auf die engere Region um Duisburg beschränkt. Der Besuch der Spiele in Düsseldorf, Uerdingen und Essen war keine Frage für uns. Nach Schalke, Dortmund, Bochum oder Köln fuhren wir schon nicht mehr so selbstverständlich. Wenn aber Erwachsene oder große Brüder sich zur Fahrt mit dem Auto bereit erklärten, nutzten wir auch einzeln die Chance, selbst wenn nicht alle aus dem Freundeskreis mitfahren konnten oder wollten.
Am ersten Samstag im Dezember 1977 fand das Auswärtsspiel gegen den FC Schalke 04 statt. Es war das letzte Spiel der Hinrunde, und allzu viel erhoffte ich mir nach den Ergebnissen der Vorjahre nicht. Bei den drei Niederlagen in den Spielzeiten zuvor war der MSV zweimal mit fünf Gegentoren nach Hause gefahren. Andererseits lag eines der beeindruckendsten Spiele der MSV-Geschichte gerade knapp einen Monat zurück. Das war jener legendäre MSV-Heimsieg gegen den FC Bayern München, bei dem Bernard Dietz den MSV nach zweimaligen Rückstand in der 78. Minute mit 4:3 in Führung brachte und als bis dahin einziger und damit viermaliger Torschütze des MSV für die Möglichkeit des Sieges sorgte. Fünf Minuten später brachte ein Tor von „Ronnie“ Worm die endgültige Entscheidung. Das 6:3 von Norbert Stolzenburg war dann noch das Sahnehäubchen in diesem Spiel.
Ich hatte bis zu jenem Dezember also eigentlich eine der besseren MSV-Spielzeiten meines noch nicht ganz so langen Fan-Daseins gesehen. Warum mein Stiefvater mir anbot, nach Gelsenkirchen zu fahren, weiß ich nicht mehr. Seine Heimat war Oberhausen, und am MSV-Geschehen nahm er erst Anteil durch meine Mutter und mich. Ich weiß nicht einmal, ob er vor diesem Samstag überhaupt je ein Spiel des MSV Duisburg in einem Stadion gesehen hatte. Jedenfalls stand am Samstagmorgen plötzlich die Frage im Raum: Sollen wir nach Gelsenkirchen fahren? Da sagte ich nicht nein.
Mein Stiefvater wusste, dass immer wieder bei Heimspielen des FC Schalke 04 auf der A 42 vor der Abfahrt zum Parkstadion ein Stau entstand. Auch für diesen Samstag befürchtete er ihn, und so brachen wir in Meiderich schon sehr früh auf. Viel zu früh. Problemlos kamen wir auf den Parkplatz, wo sich noch kaum Autos befanden, und nur vereinzelt schlenderten Zuschauer zusammen mit uns zum Stadion. Dort waren noch nicht einmal sämtliche Kartenkontrolleure an den Eingängen verteilt, und von Weitem sahen wir, wie die Kartenverkäufer in den Kassenhäuschen noch geschäftig allerlei andere Dinge erledigten. Nur wenige waren schon dazu bereit, Eintrittskarten zu verkaufen.
In der blau-weißen Schalker Umgebung fiel mein weißblauer Duisburg-Schal von etwa zwei Metern Länge nicht weiter unangenehm auf. Ganz im Gegenteil, wie sich herausstellte. Ich wollte in Richtung eines Kassenhauses laufen, als mich ein Mann ansprach. Ob ich mir ein paar Mark verdienen wolle, fragte er. Eintritt für das Spiel müsste ich auch nicht zahlen, fügte er hinzu, und mein Platz befände sich sogar auf der Sitzplatztribüne. Ich müsste nur vor dem Spiel am Eingang die Eintrittskarten der Zuschauer abreißen. Er würde auch dafür sorgen, dass ich auf jeden Fall so früh gehen könne, dass ich zum Anpfiff an meinem Platz sei.
Ich zögerte. Doch aufmunternde Worte von meinem Stiefvater zusammen mit der Aussicht, das erste Mal einen Sitzplatz einzunehmen, gaben schließlich den Ausschlag für meine Zustimmung. So stand ich kurz danach an einem Eingangstor. Die Schalker Zuschauer freuten sich am vermeintlichen Blau-Weiß des Schals um den Hals des ungewohnt jungen Kartenabreißers. In meinen jugendlichen Augen sahen die anderen Kartenabreißer alle nach Rentnern aus. Aber wahrscheinlich war es damals nicht anders als heute, und auch Männer im mittleren Alter rissen die Karten ab. Nur Sicherheitsunternehmen gab es eben nicht als Subunternehmer, und Fan-Utensilien waren ausschließlich eine Angelegenheit von Jugendlichen. Deshalb fiel der Schal am Stadioneingang besonders auf. Denn erwachsen waren damals nahezu alle Zuschauer ab Anfang 20.
Richtig wohl fühlte ich mich nicht in meiner Haut. Keineswegs wagte ich all den Männern zu widersprechen, die mir väterlich und erwartungsfroh den Schalke-Sieg verkündeten. Dafür hielt sich der Ansturm in Grenzen, und das eigentliche Entwerten der Eintrittskarten überforderte mich nicht. Kurz vor dem Spiel durfte ich dann mit einer ersten Gruppe von Kontrolleuren zu meinem Tribünenplatz gehen. Er befand sich nahe an einer Kurve, auf dem Oberrang der Tribüne, etwas abseits von den anderen Zuschauern. Unter all den älteren Männern, die sich schon seit Jahren zu kennen schienen, kam ich mir ziemlich einsam vor. Mir dieses Fußballspiel anzusehen, wurde so anders als das Gemeinschaftserlebnis Stadionbesuch, das ich bislang kannte.
An die erste Halbzeit des Spiels habe ich deshalb auch nur verschwommene Erinnerungen. Ich meine, es war ausgeglichen, und der MSV gestaltete das Spiel offen. Mit dem 0:0 zur Halbzeitpause war ich zufrieden. In der Pause wurde das Geld ausgezahlt. Ich weiß nicht mal mehr, wie groß die Summe gewesen ist. 20 Mark? 15? Ich weiß es nicht mehr.
Die zweite Halbzeit begann. Ich war wieder auf meinem Platz und wusste allmählich nicht mehr, ob ich vor dem Spiel die richtige Entscheidung getroffen hatte. Auf dem Stehplatz hätte es mir sicher mehr Spaß gemacht, das Spiel zu sehen. Andererseits wusste ich auch: Am Montag in der Schule konnte ich eine gute Geschichte erzählen.
Und diese Geschichte wurde noch besser. Ob es tatsächlich ganz so gewesen ist, kann ich wieder nicht beschwören, aber in meiner Erinnerung blieb das Spiel zäh, und viele Chancen gab es nicht. Dann aber erhielt Kurt Jara etwa Mitte der zweiten Halbzeit in zentraler Position an der Mittellinie den Ball und begann, in die gegnerische Hälfte zu dribbeln. Er nahm immer mehr Fahrt auf und setzte schließlich irgendwann zu einem Schuss an.
Kurt Jara gab seinem Körper vor diesen Weithschüssen mit einer sehr typischen, weit ausholenden Armbewegung Schwung. In meiner Erinnerung taucht diese Armbewegung immer wieder auf. Dabei weiß ich nicht mal genau, ob ich sie für das Schalke-Spiel nicht aus einem Heimspiel oder aus einem Sportfoto in meine Erinnerung hineinkopiert habe.
Jedenfalls weiß ich mit Sicherheit, Volkmar Groß im Tor der Schalker war bei dem Schuss chancenlos. Dieses Führungstor durch Kurt Jara in der 72. Minute wurde später zum Endstand des Spiels, und es war ein Tor, bei dem ich mich unter all den älteren Schalker Herren nicht laut zu freuen wagte. So erhielt ich an diesem Nachmittag in Gelsenkirchen neben freiem Eintritt und dem zusätzlichen Taschengeld noch eine überraschende Übung in Selbstbeherrschung. Wahrscheinlich war die so anstrengend, dass ich weder den Rest des Spiels im Gedächtnis behalten konnte noch die Zeit nach dem Abpfiff, als ich zum Parkplatz zurückging, um meinen Stiefvater wiederzutreffen.
Bei der Rückfahrt setzt die Erinnerung wieder ein. Endlich konnte ich den von mir nicht erwarteten Auswärtssieg genießen und die erste und einzige Siegprämie, die ich als Zuschauer erhalten habe. Eine Siegprämie vom gegnerischen Verein, dem FC Schalke 04.