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Leben mit „Andersgläubigen“

MARCUS SABEL

Sobald sich ein Mann den sogenannten besten Jahren nähert, kommt es häufig zum wehmütigen Blick zurück und der Erkenntnis, dass es durchaus schon bessere Jahre gegeben hat. Ein ständiger Begleiter der schlechteren und besseren Jahre war immer mein Verein, der FC Schalke 04.

Ich bin in einer klassischen Bergbausiedlung im sonnigen Bottroper Süden aufgewachsen. Als Ruhrpottjunge der geburtenstarken sechziger Jahre hatte ich in jener Zeit wunderbare Alternativen in puncto Freizeitgestaltung – Fußball, Fußball und wieder Fußball oder Langeweile. Dementsprechend habe ich kurz nach dem Erlernen des Laufens mit dem Fußballspielen begonnen. Gespielt wurde überall, meistens auf irgendwelchen Wiesen hinter den Häusern, bis uns irgendeine Omma verscheucht hat, weil wir wieder mit dem matschigen Ball ihre Wäsche abgeschossen haben.

Als Junge, der sich zunehmend auch nachts in seinen Träumen mit den eigenen Heldentaten und dem runden Leder beschäftigte, habe ich dann irgendwie mitbekommen, dass auch die „Großen“ Fußball spielten. Die Bundesliga wurde Mitte der siebziger Jahre hauptsächlich von Gladbach und Bayern dominiert, Frankfurt war international erfolgreich. So gab es bei den anderen „Blagen“ Anhänger eben dieser Vereine, weiterhin aufgrund der regionalen Nähe auch von Rot-Weiss Essen. Ich wurde Schalker und wusste eigentlich nicht, warum.

Bei vielen wurde ja der Schalker Virus mit der Muttermilch eingeflößt, in meiner Familie spielte Fußball kaum eine Rolle. Meine Leidenschaft für den Fußball habe ich mir von der Straße geholt, die blau-weiße Leidenschaft kam angeflogen und ging einfach nicht wieder. Sicher gab es damals Helden, die den Start des Fan-Daseins begünstigten, allen voran Klaus Fischer. Mein Gott, wie viele Fallrückzieher habe ich gemacht, egal wie weh die Knochen danach taten. Für mich war es halt seinerzeit das Größte, ein Fallrückziehertor zu machen. Da die anderen Blagen auch so langsam anfingen, die Sportschau zu schauen, und Klaus Fischer leider nicht in jedem Spiel traf, lernte ich so langsam die größte Tugend eines Schalke-Fans kennen: Niederlagen verkraften und Frotzeleien ertragen, denn in der Leidenschaft ist halt das Leiden implementiert.

Die Andersgläubigen wurden so wie ich auch älter, und der Wechsel auf eine weiterführende Schule stand an. Da meine Eltern bei diesen Dingen keine Diskussionen erlaubten, musste ich mich mit einem Essener Gymnasium anfreunden. Wie nicht anders zu erwarten, gab es dort kaum Schalker – aber viele RWE-Fans. Dummerweise ging es mit dem S04 in dieser Zeit auch noch bergab, was mein Leben in der dortigen Diaspora nicht einfacher machte. Klaus Fischer und viele andere Leistungsträger hatten mittlerweile den S04 verlassen, die zweite Liga begrüßte uns freundlich als Zuschauermagnet.

So kam der 26. September 1981, ein Zweitligaduell im Pott, RWE – S04, mein erstes Live-Spiel im Stadion. In jenen Zeiten war der Besuch eines Spiels, gerade eines Derbys, immer mit einem gewissen Risiko verbunden. Ein Spiel in dieser Zeit war Lichtjahre von jenem Eventcharakter entfernt, den wir in der heutigen Zeit finden. Ein Herr im dunklen Anzug oder eine Dame mit Stöckelschuhen, wie wir sie heute z. B. bei CL-Spielen bei uns sehen, hätten bei diesem Spiel die gleiche Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie der Papst oder Franz Beckenbauer. Es roch nach Provokationen und Aggressionen, das offene Tragen der königsblauen Kluft war gefährlich.

Als Stadionneuling ergatterte ich eine Karte für einen Stehplatz auf der Geraden unweit der Schalker Kurve, die mir damals viel zu gefährlich erschien. Mein erstes Live-Spiel ging turbulent los: Das Stadion bebte, und die Andersgläubigen jubelten, denn RWE ging nach fünf Minuten mit 1:0 in Führung. Der erste Live-Frust dauerte aber nicht lange, denn dem RWE-Torwart misslang ein Abwurf total, der Ball landete bei Norbert Elgert, der in der sechsten Minute zum 1:1 einschob. Ein königsblauer Orkan erhob sich, und ich war dabei, welch ein überragendes Gefühl. Zwischenzeitliche Herzattacken bekam ich aufgrund der spärlichen Haarpracht von Manni Drexler. Als Turm in der Abwehr musste er zahlreiche hohe Flanken entschärfen, aber irgendwie musste er vorher seinen Schädel eingeölt haben, denn die Bälle rutschten sehr oft von seiner „Platte“ ab, so dass der Ball im Strafraum wieder runterkam. Es ist aber glücklicherweise immer gut gegangen.

Das Spiel wogte hin und her, bis in der 84. Minute der Ball wieder zu Norbert Elgert kam. Es war sein Tag, und es war mein Tag: Er schoss zum 1:2 ein, und ich war im siebten Himmel. Ein Sieg bei den Andersgläubigen, die nächsten Wochen in der Schule wurden wunderbar für mich. Schalke stieg am Ende der Saison auch wieder auf, das Leben konnte wahrhaftig schön sein.

Nun gab es natürlich auch die andere Seite, die wir als Schalker in jenen Jahren nur zu gut kannten. Die achtziger Jahre waren geprägt von Auf- und Abstiegen, von finanziellen Einbrüchen und zwangsweisen Spielerverkäufen. Dann kam ein Sonnenkönig, der uns Anfang der neunziger Jahre den heutigen, sonntäglichen „Experten“ beim sogenannten Doppelpass als Trainer präsentierte: Udo Lattek. Mit diesem Trainer ging es am 12. September 1992 zum DFB-Pokalduell nach Essen, wo ich mittlerweile berufsbedingt meinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Schon bei der Auslosung hatte ich ein komisches Gefühl. Wir waren als Bundesligist natürlich der haushohe Favorit, RWE kickte mittlerweile in der damaligen Amateur-Oberliga. Die Kombination aus David gegen Goliath gemischt mit dem Lokalderby-Charakter gefiel mir überhaupt nicht. RWE hatte nichts zu verlieren, wir konnten uns nur blamieren.

Als mittlerweile erfahrener Kurvenbesucher nahm ich einen Stehplatz auf der Tribüne hinter dem Tor ein. Die Stimmung vor dem Spiel war eigenartig. Wo heute eine konzentrierte Vorbereitung im Mittelpunkt steht, war vor diesem Spiel schon eine Art Partystimmung bei den Schalkern zu spüren. War das nun jenes berühmte Unterschätzen des unterklassigen Gegners? Hatte es eine der berühmten Partys mit Udo gegeben? Ingo Anderbrügge und Kollegen hatten jedenfalls Spaß daran, beim Schusstraining den Ball möglichst hoch zu uns auf die Tribüne zu schießen. Jeder besonders hohe Schuss wurde mit lautem Johlen beantwortet.

Dann ging das Spiel los, und die Party war für uns vorbei. RWE gelang in der 26. Minute das 1:0, der Schock saß tief. In der zweiten Halbzeit rannten wir wütend an, doch es wollte kein Tor fallen. In der 89. Minute gab es dann die Szene mit Jens Lehmann, der bis an die Mittellinie aufgerückt war, um als zusätzlicher Feldspieler noch Dampf zu machen. Er vertändelt den Ball, der Essener Lipinski rennt auf unser Tor zu und wartet so lange, bis Lehmann ihn erreicht. 2:0, das war’s, die Blamage ist perfekt.

Die ersten Hohn- und Spottanrufe erreichten mich kurz nach meiner Rückkehr nach Hause. Im Fußballverein, in dem ich kickte, der in Essen natürlich von RWE-Fans dominiert war, ging es wochenlang weiter. Schalke polarisiert – ein Schalker unter Andersgläubigen erst recht. Nicht erst nach diesem Spiel kam die immer wiederkehrende Frage: Warum tue ich mir das an?

Der Vorteil eines Mannes in den besten Jahren ist, dass er schon einiges erlebt und diverse Typen von Menschen kennengelernt hat. Es gibt viele stromlinienförmige „Mainstreamtypen“, die gerne in der Masse mitschwimmen, die sich mit nichts identifizieren, womit man anecken könnte. Diese Typen ersparen sich die Diskussionen nach wieder mal einer Niederlage montagmorgens am Arbeitsplatz. Richtig glücklich und ausgelassen sieht man diese Typen jedoch fast nie. Himmel und Hölle, zu Tode betrübt oder eben himmelhoch jauchzend sind dagegen bei uns Programm, darum sind viele – so auch ich – Schalker.

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