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1.3 Das Erstinterview 1.3.1 Zur Anwendung der psychoanalytischen Behandlungsmethode in der diagnostischen Praxis
ОглавлениеIm Zentrum der Ambulanztätigkeit des SFI steht das sogenannte Erstinterview. Es dient einer ersten Verständigung zwischen Analytiker und Patient hinsichtlich einer möglicherweise vorliegenden seelischen Störung und der Möglichkeit bzw. der Notwendigkeit, diese psychotherapeutisch oder psychoanalytisch zu behandeln. Es eröffnet meist einen initialen Zugang zu den seelischen Konflikten, die hinter den Symptomen und Beschwerden stehen, und gestattet einen ersten Einblick in die vorhandenen Entwicklungsmöglichkeiten des Patienten, in seine Ressourcen, sich auf ein psychoanalytisches Arbeitsbündnis mit dem Ziel, unbewusste Konflikte und Strukturen aufzudecken, einlassen und davon profitieren zu können. Als unser zentrales Untersuchungsinstrument erfüllt das Erstinterview diagnostische, indikatorische und prognostische Funktionen (Eckstaedt 1995, Argelander 1970) und bildet die Grundlage für die Behandlungsempfehlung, die wir in aller Regel dem Patienten geben.
Die Erfahrungen, die die Patienten im Erstinterview machen, haben einen entscheidenden Einfluss darauf, ob sie sich anschließend in eine psychoanalytische oder psychotherapeutische Behandlung begeben werden. Ihre Entscheidung wird maßgeblich davon beeinflusst, ob sie sich im Erstinterview in ausreichendem Maß vom Analytiker verstanden und dadurch gehalten fühlen (Kerz-Rühling 2005).
Das 50-minütige Erstinterview stellt eine situationsangepasste Anwendung des von Sigmund Freud begründeten psychoanalytischen Untersuchungs- und Behandlungsverfahrens (Argelander 1968) dar und sollte sowohl am Gesprächsauftrag des Patienten (Hohage 1981) als auch an seinen störungs- und persönlichkeitsabhängigen Gegebenheiten und Möglichkeiten ausgerichtet sein. Die Art und Weise, wie wir am SFI dieses Erhebungs- und Erkenntnisinstrument, in Abgrenzung zu anderen diagnostischen Verfahren (tiefenpsychologische Anamnese, Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD II, Kernbergs strukturiertem Interview, vgl. Mertens 2015) einsetzen, wie wir seine methodologischen Voraussetzungen, seine Funktionen und Erkenntnisziele verstehen, geht in wesentlichen Zügen auf Hermann Argelander zurück, der als Wissenschaftler und Ambulanzleiter des SFI in den 1970er und 1980er Jahren höchst einflussreiche Studien zur Fundierung eines psychoanalytischen Interviewverfahrens vorgelegt hat.
In diesen Studien ging es ihm vor allem darum, die Freudsche psychoanalytische Methode3 auf die Besonderheiten eines ambulatorischen Erstgesprächs zu übertragen und diese in einer relational-intersubjektivistischen Perspektive weiterzuentwickeln. Ich komme darauf zurück.
Am prägnantesten lassen sich die Eigenarten eines psychoanalytischen Erstgesprächs in Abhebung zu einer psychiatrischen Anamnese- und Erhebungssituation verdeutlichen. Lorenzer sprach angesichts dieser Differenz von der »radikalen Umkehrung des Arzt-Patient Verhältnisses« (Lorenzer 1984a, S. 117). »Hatte sich ehedem der Patient einem vorab festgelegten medizinisch-diagnostischen Schema fügen müssen …, so kehrt sich nun die diagnostisch-therapeutische Situation um. Der Patient erhält das Recht, in freier Themenwahl sein Leiden selbst darzustellen« (ebd., S. 118). Der Patient soll seinen Einfällen folgen dürfen, egal ob er mit der Aufzählung seiner Symptome, seiner Krankengeschichte, seiner Kindheit, seinen Beziehungskonflikten, mit aktuellen oder weit zurückliegenden Problemen beginnt, ob er frei und spontan spricht oder von einem Notizblatt abliest.
Der sich im klassischen medizinischen Setting als objektiver, außenstehender Beobachter verstehende, sich seinem Gegenstand mit standardisierten Mitteln, festen Schablonen und deskriptiven Klassifikationssystemen nähernde Diagnostiker verwandelt sich im psychoanalytischen Erstgespräch in einen subjektiv und interaktiv »beteiligten« (Argelander 1967, S. 350) Zuhörer, der sich der ungewöhnlichen Situation »überlässt« (Argelander 1970, S. 42). »Der Erstinterviewer kritisiert und urteilt nicht, sondern nimmt alles hin, wie es angeboten wird, und forscht nur nach seinem Sinn« (ebd.).
Diese empathisch-mitschwingende Beteiligung des Psychoanalytikers und seine Prozessverwobenheit werden nicht als störend, sondern als konstitutiv für den Erkenntnisprozess betrachtet.
Die Gestaltungsfreiheit, die der Analytiker bereitstellt, eröffnet nicht nur den Raum für das subjektive Erzählen des Patienten, sondern auch für die Besonderheiten des Interaktionsgeschehens, das sich auf je einmalige Weise herstellt. Es vollzieht sich oft unbewusst und nimmt unterschwellig Einfluss auf die Reaktionen, die Erwartungen, die Empfindungen und die Befindlichkeit der Akteure. Hinter der möglichst unvoreingenommenen, aufnehmenden Haltung des Analytikers steht die erfahrungsgestützte Überzeugung, dass diese zumeist unwillkürlich und unreflektiert ablaufenden interaktiven Prozesse sinnhaft strukturiert sind, dass sie einer unbewussten Sinnstruktur folgen, die sich im weiteren Gesprächsverlauf konturieren und ins Bewusstsein treten wird.
Die Grundhaltung der ›gleichschwebenden Aufmerksamkeit‹, als Bereitschaft auch auf das vermeintlich Nebensächliche, Nicht-Intendierte (z. B. der Versprecher oder das unwillkürlich auftretende Handlungsmuster) zu achten, gilt als die einzige Möglichkeit, etwas vom Patienten zu verstehen, das über sein Selbstverständnis und sein bewusstes Erleben hinausgeht. Im analytischen Erstgespräch geht es ums Erschließen unbewusster Konflikt- und Sinnstrukturen, um die Erfassung dessen, was der Patient nicht weiß und der Analytiker zunächst ebenso wenig weiß.