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1.3.3 Das szenisch-situative Verstehen

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Bei seinem Versuch, die psychoanalytische Methode Freuds aufs Erstgespräch zu übertragen, hat Hermann Argelander die Arbeitsweise des Analytikers auf innovative Weise rekonstruiert. Er hat die technisch-methodischen Eigenarten seiner spezifischen Gesprächsführung, seiner Erkenntnisinstrumente und Verstehensoperationen minutiös aufgeschlüsselt, zum Teil begrifflich neu gefasst, erweitert und für neue Anwendungen (z. B. im Erstinterview, in Beratungssituationen, in Gruppenprozessen und Balintgruppen) erschlossen.

Das bekannteste von ihm entwickelte Konzept ist das szenisch-situative Verstehen (Argelander 1970, Klüwer 1995). Dabei geht es um die Erfassung interaktiver Prozesse, insbesondere um die sich situativ ergebenden Beziehungsvorgänge zwischen Analytiker und Patient, mittels derer sich, so die zentrale Annahme, in aktualisierter Form innere, unbewusste Konfliktvorgänge artikulieren können.

Mit seinem Konzept des Szenischen nimmt er Freuds Übertragungskonzept auf, gibt ihm jedoch, stärker als Freud dies tat, eine situativ-intersubjektive Betonung. Nach Argelander ermöglicht allein die intersubjektive Beziehung zwischen Analytiker und Patient »die situationsgerechte Darstellung einer unbewußten infantilen Konfiguration« (Argelander 1970a, S. 325). In seiner Konzeption gewinnt die intersubjektive Situation selbst ein »Eigengewicht als Mitteilungsorgan« (Argelander 1970, S. 19). »Die analytische Situation ist der Raum, in dem der analysefähige Patient die Szene gestaltet (…) die (…) den unbewußten Konflikt preisgibt« (1970a, S. 343). Dem »analysefähigen« Patienten gelingt diese »Leistung« der situationsgerechten Darstellung einer unbewussten infantilen Konfiguration, da er, wie Argelander ausführt, mit dem Potential der szenischen Funktion des Ich ausgestattet ist (ebd.). Diese von Argelander neu eingeführten Konzepte waren nicht nur ein Beitrag zur sog. Ich-Psychologie, sie eröffneten dem psychoanalytischen Denken der späten 1960er Jahre in Deutschland eine weitere, weit wichtigere, neue Dimension: Anknüpfend an die Forschungsarbeiten der in London tätigen Psychoanalytiker Michael Balint (»Psychoanalyse als Zwei-Personen-Psychologie«) und Paula Heimann (»Zur Bedeutung der Gegenübertragung«) konnte Argelander die ersten Wege in ein interaktions- und beziehungstheoretisches Verständnis der Psychoanalyse bahnen und nahm im deutschsprachigen Raum als einer der ersten Analytiker jene Fragestellungen auf, die in den folgenden Jahrzehnten, in Gestalt objektbeziehungstheoretischer, relationaler und intersubjektivitätstheoretischer Konzeptionen die Entwicklung der Psychoanalyse entscheidend prägen sollten.

Freud hatte den Übertragungsprozess in erster Linie vom Verdrängten, vom nicht Erinnerbaren und dem Zur-Wiederholung-Drängenden aus verstanden. Zugespitzt formuliert, hielt er mit seinem Übertragungsbegriff an einer intrapsychischen, individuumszentrierten, ein-personen-psychologischen Sichtweise fest (Bohleber 2007). Argelander hingegen hob die situations- und beziehungsbedingten Gestaltungs- und Transformationsprozesse hervor, die in der analytischen Situation zur situationsgerechten Darstellung einer unbewussten infantilen Konfiguration (Argelander 1970a) führen und diese allererst möglich machen. Diese Gestaltungsprozesse werden, das ist der entscheidende Punkt, »durch die Eigenheiten der analytischen Situation einschließlich der Person des Analytikers hervorgerufen« (ebd., S. 326). Das Konzept der Abstinenzregel, das den Analytiker als außenstehenden »objektiven Beobachter« begreift, seine Anonymität betont (Renik 1999, Kap. 3) und ihn metaphorisch als ›Chirurgen‹, ›Spiegel‹ oder ›leere Leinwand‹ beschreibt, war damit in Frage gestellt. Bei der ›situationsgerechten Inszenierung einer unbewussten infantilen Konfiguration‹ geht es Argelander nicht mehr vorrangig um die abbildhafte Reproduktion des infantil Verdrängten, um die Wiederholung einer intrapsychischen Gegebenheit, die der Analytiker in gleichsam objektivierender Haltung aufzudecken hätte, sondern um eine in der analytischen Situation selbst erzeugte Neuschöpfung, um einen relational bedingten, intersubjektiv hergestellten, unbewusst verlaufenden Koordinations- und Transformationsprozess, den es zu untersuchen, zu verstehen und zu fördern gilt.

»Mit ›Situation‹ soll ein zusätzliches Moment erfasst werden, das im Übertragungsbegriff nicht enthalten ist. Während die Übertragung als unbewußter Vorgang sich von innen nach außen konstelliert, ist ihre situative Einpassung, die Verlaufsgestalt, die die Übertragung unter den Bedingungen der aktuellen Situation annimmt, eine frische Schöpfung des Ichs. So können neue Phänomene als Folge dieser Arbeit auftauchen oder alte verschwinden. Wichtig ist die Erkenntnis, daß das Einpassen eines latenten Konflikts in eine neue Situation (seine situationsgerechte Verarbeitung) unbewußte Ausdrucksphänomene eigener Art produziert, deren Bedeutung sowohl vom latenten Konfliktgeschehen als auch von der aktuellen Situation her – und zwar von beiden spezifisch – geprägt wird. (…) Die Gleichsetzung der aktuellen Situation mit der infantilen Szene beruht auf einem Mißverständnis. Die Deutung übersieht die Arbeit des Ichs bei der Anpassung beider Szenen in bezug auf den wirksamen, unbewußten Gehalt, der erst einer Analyse bedarf, ehe er sich seiner wahren Bedeutung erschließt« (Argelander 1970a, S. 326–328).

Wenn es dem Analytiker gelingt, eine bestimmte Verlaufsgestalt der Gesprächssituation, die ›Szene‹, zu erkennen, wirft diese Erkenntnis regelmäßig neues Licht auf all die anderen Informationen, die der Patient im Verlauf des Gesprächs auf vorbewusste wie unbewusste Weise gegeben hat. Wenn sich anhand der erschlossenen Szene neue Bedeutungen im Material eröffnen, neue Sinnzusammenhänge zwischen unterschiedlichen Mitteilungsebenen (Argelander 1970) auftun, lösen sie ein besonders starkes Evidenzgefühl aus: »nicht eine Evidenz im Sinne einer logischen Stimmigkeit des Materials, sondern eine situative Evidenz … Nach meiner Auffassung und Erfahrung hat die situative Evidenz für das psychologische Verständnis einen wesentlich höheren Stellenwert« (Argelander 1970 S. 60).4 Die von Argelander angestrebte »Psycho-Logik […], die wir zum Verständnis der Krankheit unserer Patienten brauchen, erschöpft sich nicht in der Erschließung logischer Zusammenhänge, sondern kommt erst im szenischen Verstehen zum Tragen. Sie gewinnt ihre Bedeutung, wenn wir das Material mit der Szene in Einklang bringen können, an der wir mit dem Patienten teilnehmen, und wenn die situative Evidenz die Richtigkeit unseres Vorgehens bestätigt. Der Patient verrät uns also nicht nur mit seinen Informationen einen Eindruck von dem unbewußten Kräftespiel, das seine Krankheit bedingt, sondern stellt sie in der sprachlichen Kommunikation mit dem Interviewer direkt als Szene dar« (Argelander 1970, S. 61).

Argelander zeigte an zahlreichen Beispielen, welche weitreichenden Schlüsse auf unbewusste Konflikte und Strukturen aus unscheinbaren, leicht zu übersehenden Szenen gezogen werden können. Die Entzifferung dieser Szenen ist außerordentlich ergiebig für das Verständnis störungsrelevanter psychischer Konflikte.

Zur Verdeutlichung soll ein Beispiel Argelanders zitiert werden: Es greift die Auftaktszene eines Erstgesprächs auf und zeigt sehr anschaulich, wie der Analytiker von der intersubjektiven Oberfläche ausgehend in hermeneutischen Erkenntnisschritten Informationen aus drei unterschiedlichen Quellen: szenische, subjektive, objektive Daten (Argelander 1970) zu einer Sinngestalt zusammenfügt, um sich einer stimmigen Fallstrukturhypothese anzunähern.

»Als ich Frau X im Wartezimmer abhole, begegne ich einer mittelgroßen Frau in Hose und Pullover, sie macht insgesamt einen etwas blaß-farblosen Eindruck auf mich. Ich will ihr zur Begrüßung die Hand geben, das klappt aber nicht. Im Behandlungszimmer setzt sie sich, ohne auf eine Geste von mir zu warten. Um bequem ihr gegenüber sitzen zu können, muß ich meinen üblichen Platz aufgeben. Dieser Vorgang überraschte mich etwas, ich dachte daran, sie zu bitten, einen anderen Platz einzunehmen, aber ich fügte mich in die neue Sitzordnung, die sie hergestellt hatte. Es entsteht eine längere Pause (…) Nach einer Weile sage ich ›Es fällt Ihnen im Moment schwer zu reden‹. Sie wüßte nicht, wo sie anfangen solle.

Schließlich berichtet sie, daß sie seit 5 Jahren mit ihrem Freund zusammen sei, aber nie einen Orgasmus bekommen habe. Sie erzählt von Schwierigkeiten in ihrer Wohngemeinschaft, wo die anderen ihr vorwerfen, daß sie still sei und Konflikte vermeide. Diese Kritik treffe auch zu, sie sei oftmals blockiert, könne nichts sagen, sei aber innerlich erregt, was bis zu Herzklopfen und Zittern gehen könne.

Der Entschluß eine Therapie zu machen, sei ihr nicht leicht gefallen, sie störe dabei das Gefühl, daß es etwas mit Krankheit zu tun habe. Ihr Freund habe ihr zugeraten, ihr Bruder sei aber dagegen (…) Nach einer längeren Pause meinte sie, es könnte ja sein, daß ihre Schwierigkeiten mit früher zusammenhängen. Als sie 6 Jahre alt war, hätten die Eltern ein Haus gebaut. Damals hatten die Eltern viel miteinander gestritten. Sie sei in eine Vermittlerrolle hineingeraten. Einmal habe die Mutter gedroht, den Vater umzubringen. Daran könne sie sich gut erinnern. Bei solchen Gelegenheiten kam die Mutter aus dem ehelichen Schlafzimmer ins Kinderzimmer wo sie mit dem Bruder schlief. Dann habe sie die Mutter getröstet, und diese habe in ihrem Bett geschlafen, während sie zum Vater ins Bett mußte« (Argelander 1981, S. 116-117).

In den Mittelpunkt seiner Betrachtung rückt Argelander den »Platzwechsel« (ebd., S. 117). Schlagartig, mit höchster situativer Evidenz, tritt die zunächst unbedeutend wirkende Anfangsszene mit den nachfolgenden Themen ihrer Erzählung in bedeutungsstiftende Wechselwirkung und erzeugt dadurch entscheidende Einblicke in innere Vorgänge.

Das Zusammenspiel dieser beiden Dimensionen, der szenische Gehalt der Auftaktszene und die erzählte Kindheitsszene, erzeugt eine neue Bedeutung, gibt »eine zentrale persönliche und damit spezifische Bedeutung frei« (ebd., S. 118). Szene und Erzählung treten in eine bedeutungsvolle Relation und erläutern sich wechselseitig. »In meinem Zimmer nahm sie meinen Platz ein … Ich dachte daran, sie zu bitten, einen anderen Platz einzunehmen, aber ich fügte mich in die Ordnung, die sie hergestellt hatte. (…) Die Pat. springt mit dem (… Interviewer, d. V.) so um, wie es die Mutter seinerzeit mit ihr selbst gemacht hat, (… er) erlebt die inneren Bewegungen, die sie als Kind gehabt hatte, ohne daß diese aus dem Inhalt des Berichtes selbst hervorgehen. Die Mutter nahm in ihrem Zimmer ihren Platz ein (…) Sie musste ihren üblichen Platz aufgeben. (…) fügte sich in diese neue Schlafordnung (…)« (ebd., S. 117–118). Der Gesprächsauftakt enthält weitere szenische Informationen, um die herum sich das nachfolgende Material sinnhaft ausrichten lässt. Die situativ-szenische Information lautet: »daß es ihr schwer fällt zu reden … daß sie nicht wisse, wo sie anfangen solle« (ebd., S. 119 u. 120).

Unter diesem Fokus der situativ aufgetretenen Blockade nimmt Argelander die weiteren Mitteilungen der Patientin auf: die angesprochene Orgasmusstörung (der Anlass ihrer Konsultation); die sich abzeichnende Erkenntnis, dass die Blockade eine Vermeidungsreaktion darstellt, die sich auf alle Kontaktbereiche bezieht, die emotionales Engagement fordern; die aktuellen Konflikte mit den Mitbewohnern ihrer Wohngemeinschaft und mit ihrem Partner; und schließlich das biografische Material, das durch die Konfrontation mit der Szene neue, bislang unbewusste, Bedeutungen freigibt:

Das emotionale Klima in der Familie muss »hochbrisant gewesen sein. Auf dem Höhepunkt dieser lauten Konflikte flüchtete die Mutter ins Schlafzimmer der Kinder und schickte die Tochter zum Vater ins Ehebett. […] weil die Mutter so erregt war, daß sie das Zusammensein mit dem Vater vermeiden musste. Die bewußte Absicht der Mutter war natürlich, den Vater durch die Tochter zu beruhigen, eine versöhnende Geste, die die Tochter bereits als Funktion der ›Vermittlung‹ übernommen hatte, aber offenbar nur nach außen, innerlich war sie erregt durch die indirekte Teilnahme an der konflikthaften Auseinandersetzung zwischen den Eltern. […] Es ist nicht schwer aus der Sukzession der Themen im Beginn des Gesprächs zu ›erraten‹, daß diese Maßnahme der Mutter auch für Erregungszustände sexueller Art galt. Die Mutter hatte Angst vor den Folgen emotionaler Höhepunkte und schickte die Tochter an ihrer Stelle zum Vater, nichtsahnend, was sie ihrer Tochter zumutete. Diese lag mit Zittern und Herzklopfen neben dem Vater, war blockiert und konnte nicht sprechen. Sie wußte nicht wo sie anfangen sollte. Sie hat den Vater sicher nicht durch Schmusen beruhigt, um die Gelegenheit wahrzunehmen, sich als der Mutter überlegen auszuweisen und sich dem Vater anstelle der Mutter anzubieten. Vielleicht war diese Vorstellung aber ein unbewußtes Motiv, vor dem sie entsetzt zurückwich und blockierte« (ebd., S. 120–121).

Argelander möchte mit diesem Beispiel die Methode verdeutlichen, mit der er im Erstinterview einen Zugang zu seinen Patienten sucht und zu diagnostisch und psychodynamisch relevanten Schlussfolgerungen kommt. Ausgehend von der situativen, interpersonellen Oberfläche des Interaktionsgeschehens erschließen sich innere Konfliktthemen, die sich situationsgenau – Platzwechsel, Blockade – im Übertragungsraum konstellieren. Zur weiteren Systematisierung ließen sich diese Einsichten in metapsychologischer, struktureller und genetischer Perspektive mit der Theorie der Verdrängung und des Ödipuskomplexes verknüpfen, könnten zu einer psychodynamischen Diagnose gebündelt und der symptombezogenen Diagnose einer Orgasmusstörung zur Seite gestellt werden.

Die psychoanalytische Ambulanz

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