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1 Die Ambulanz des Sigmund-Freud-Instituts Theorie und Praxis psychoanalytischer Erstgespräche Lothar Bayer 1.1 Einleitung – zur Geschichte des SFI

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Die klinische Arbeit in der Ambulanz des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts weist einige Besonderheiten auf, die nur vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung des Instituts verstanden werden können.

Am 27.4.1960 konnte Alexander Mitscherlich in Frankfurt am Main mit Unterstützung der hessischen Landesregierung und ihres früheren Ministerpräsidenten Georg-August Zinn, sowie des renommierten Instituts für Sozialforschung und des damaligen Leiters Max Horkheimer, das »Institut und Ausbildungszentrum für Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin« eröffnen, das 1964 in »Sigmund-Freud-Institut« (SFI) umbenannt wurde.

Die Gründung des Instituts diente vor allem dazu, die von den Nationalsozialisten als jüdische Wissenschaft verfolgte und vertriebene Freudsche Psychoanalyse in Deutschland zu reetablieren und den verlorengegangenen Anschluss an die Internationale Psychoanalytische Vereinigung wiederherzustellen.

Mit der Institutsgründung wurde zudem an das 1929 gegründete und 1933 von den Nationalsozialisten zerstörte »Frankfurter Psychoanalytische Institut« angeknüpft , dem die Psychoanalytikerin Frieda Fromm-Reichmann und die Psychoanalytiker Erich Fromm, Siegmund H. Fuchs und die beiden Gründer Heinrich Meng und Karl Landauer angehörten. Sie alle mussten unter dem Nazi-Terror fliehen und Deutschland verlassen. Landauer, der ein Schüler Sigmund Freuds und enger Vertrauter Max Horkheimers war, wurde kurz vor Kriegsende im Konzentrationslager Bergen-Belsen ums Leben gebracht.

Für Mitscherlich war die Reetablierung der Freudschen Psychoanalyse im Nachkriegsdeutschland untrennbar mit der Aufarbeitung der deutschen Geschichte und politischer Aufklärung verbunden. In seinem Verständnis hatte die Psychoanalyse mit ihren spezifischen Untersuchungsmethoden und ihrer Entdeckung unbewusster Triebkräfte einen unverzichtbaren Beitrag zur Erforschung destruktiver gesellschaftlicher Prozesse zu bieten. Diesen Beitrag sollte sie in ihre humanwissenschaftlichen Nachbardisziplinen (Soziologie, Anthropologie, Kulturwissenschaften, Friedens- und Konfliktforschung, Pädagogik etc.), aber auch in die Öffentlichkeit und ins politische Handeln einbringen. Aufklärung als Bewusstmachung unbewusster Strukturen erschien ihm als die einzig greifbare Option, um sich gegen die Gefahren einer sich wiederholenden Ausbreitung irrationaler Kräfte, nationalistischen Terrors und der Menschenverachtung zu schützen: »Die Suche nach der Wahrheit über uns selbst, ist das einzig verlässliche Mittel, um uns gegen die Inhumanitäten zu verteidigen, die uns unter der Decke der Zivilisation drohen« (vgl. Bareuther 1989, S. 286 und S. 300: Ansprachen zur Eröffnung des Instituts am 27. April 1960). Wie kaum ein anderer Psychoanalytiker hat Mitscherlich der Psychoanalyse außerklinische – soziologische, kulturkritische, politische – Aufgaben zugewiesen und als unermüdlicher Publizist psychoanalytische Erkenntnisse in die Öffentlichkeit getragen und zur Diskussion gestellt. Dabei sollte der Anspruch Sigmund Freuds zur Geltung gebracht werden, nach dem die Psychoanalyse nicht nur als fachärztliche Profession, als Therapieverfahren, »sondern wegen ihres Wahrheitsgehalts« (Freud 1933a, S. 169) Anerkennung verdiene. Als Wissenschaft vom Unbewussten, so die Einschätzung ihres Begründers, strebt die Psychoanalyse nicht nur über die engen Grenzen der Psychopathologie hinaus ins allgemein Psychologische, sondern auch über das Individualpsychologische ins Kollektive, zur Erkenntnis der kulturellen Bildungen und ihrer affektiven unbewussten Grundlagen. Mit seiner berühmten Formulierung »Der Gebrauch der Analyse zur Therapie der Neurosen ist nur eine ihrer Anwendungen; vielleicht wird die Zukunft zeigen, daß sie nicht die wichtigste ist« (Freud 1926e, S. 283) betonte Freud den genuin wissenschaftlichen Wert der Psychoanalyse und ihre Bedeutung als Subjekt- und Kulturtheorie sowie als Aufklärungswissenschaft sui generis.

Diesen Leitlinien Freuds fühlte sich Mitscherlich verpflichtet. Sie sollten in dem neu gegründeten Institut mit seinen außerklinischen, den sozialpsychologischen und kulturtheoretischen Forschungsschwerpunkten zum Ausdruck kommen und weiterentwickelt werden. In dieser besonderen interdisziplinär-wissenschaftlichen Ausrichtung findet das Sigmund-Freud-Institut seit nunmehr 60 Jahren breite internationale Anerkennung. In ihrer feierlichen Eröffnungsrede anlässlich der Einweihung des Institutsneubaus 1964 bezeichnete Anna Freud das Institut als »a new home for the new psychoanalytic era in Germany« (vgl. Plänkers 2011, S. 86).

Obwohl der Name Alexander Mitscherlichs in der Öffentlichkeit vor allem mit seinen zahlreichen und höchst einflussreichen sozialpsychologischen Studien (»Die Unfähigkeit zu trauern« (1967), »Die Unwirtlichkeit unserer Städte« (1965), »Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft« (1963)) verknüpft ist, blieb für ihn als praktizierendem Arzt und Psychoanalytiker unstrittig, dass das Herzstück des Instituts die klinische Psychoanalyse war (vgl. Plänkers ebd.). Dieser Grundeinstellung entsprach, dass neben den drei Abteilungen des Hauses: klinische Psychoanalyse, Psychologie und Sozialpsychologie von Beginn an eine psychoanalytische Ambulanz eingerichtet wurde, die bis heute unverzichtbares Zentrum der klinischen Tätigkeiten des Sigmund-Freud-Instituts ist. Sie betraf nicht nur die therapeutische Versorgung der Bevölkerung und die klinische Forschung im engeren Sinne, sondern auch die psychoanalytische Ausbildung. Die Ambulanz sollte den Ausbildungskandidatinnen und -kandidaten, die bis 1995 – bis zur Gründung des neuen Frankfurter Psychoanalytischen Instituts – am SFI ihre Ausbildung absolvierten, die Möglichkeit bieten, unter Supervision erfahrener Psychoanalytiker erste Behandlungserfahrungen zu sammeln und sich die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten der Anamnese- und Befunderhebung, der Diagnose- und Indikationsstellung im direkten Kontakt zum Patienten anzueignen.


Abb. 1.1: Anna Freud und Herrmann Argelander bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die J.W. Goethe-Universität an Anna Freud, Februar 1982 Mit freundlicher Genehmigung des Sigmund-Freud-Instituts

Die Ausbildung am Sigmund-Freud-Institut wurde nach den Richtlinien der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) und der International Psychoanalytic Association (IPA) gestaltet. Alexander Mitscherlich, der 1956 DPV/IPA-Mitglied (vgl. Plänkers ebd.) wurde, engagierte sich sehr erfolgreich für die internationale Vernetzung des neuen Instituts und konnte führende Psychoanalytiker der IPA (u. a. Michael Balint, Paula Heimann, Béla Grunberger, Jeanne Lampl-de Groot) für Forschungs- und Ausbildungkooperationen gewinnen (vgl. Hoyer 2008).

Seit 2016 übernimmt das Sigmund-Freud-Institut in Zusammenarbeit mit dem FPI wieder Funktionen in der Ausbildung zum Psychoanalytiker.

Mit seiner doppelten Verankerung in der Wissenschaft und in der klinischen Praxis entsprach die Institutsstruktur einer weiteren zentralen Vorgabe Sigmund Freuds, die er 1926 in seinem »Nachwort zur Frage der Laienanalyse« als »Junktim von Heilen und Forschen« formulierte: »In der Psychoanalyse bestand von Anfang an ein Junktim zwischen Heilen und Forschen, die Erkenntnis brachte den Erfolg, man gewann keine Aufklärung, ohne ihre wohltätige Wirkung zu erleben. Unser analytisches Verfahren ist das einzige, bei dem dies kostbare Zusammentreffen gewahrt bleibt. Nur wenn wir analytische Seelsorge treiben, vertiefen wir unsere eben aufdämmernde Einsicht in das menschliche Seelenleben« (Freud 1927a, S. 293–294). Ganz im Sinne dieses für Freud ebenso unverbrüchlichen, wie ständig durch Aufspaltungen bedrohten Junktims von Forschen und Heilen, dieser dialektischen Verzahnung von Theorie und Praxis, von Reflexion und Emanzipation ist die klinische Tätigkeit am SFI stets Ausgangspunkt wissenschaftlicher Arbeiten unterschiedlichster Ausrichtung gewesen: Die analytische Arbeit mit den Patienten stellt den nicht zu ersetzenden Erfahrungsbereich dar, durch den die Analytiker ihre Einsichten in das menschliche Seelenleben, in die unbewussten Prozesse erlangen, überprüfen, vertiefen und erweitern. Die analytische Praxis ist so gesehen der »Königsweg zur Kenntnis des Unbewußten« (Freud 1900a, S. 613 und 1927a, S. 291).

Die Forschungsprojekte, die in der Ambulanz des Sigmund-Freud-Instituts ihren Ausgang nahmen und nehmen, sind so zahlreich und vielfältig, dass sie an dieser Stelle nicht annähernd zur Darstellung kommen können. Ich verweise auf die Übersichtsarbeiten von Tomas Plänkers (2011) und Herbert Bareuther (1989). Zwei Forschungslinien mit besonderer Bedeutung für die Aufgaben der Institutsambulanz möchte ich herausstellen:

1. In den 1970er bis 1990er Jahren sind eine Reihe von Studien am SFI entstanden, die die analytischen Prozesse zwischen Analytiker und Patient selbst zum Gegenstand der Forschung gemacht haben. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Hermann Argelander, Alfred Lorenzer und Rolf Klüwer, die als klinisch tätige Psychoanalytiker und Wissenschaftler dem Institut angehörten (ebd.) und mit unterschiedlichen Schwerpunkten die Besonderheiten der psychoanalytischen Erkenntnisprozesse, die spezifischen Untersuchungsmethoden und Verstehensoperationen des Analytikers im Rahmen unterschiedlicher analytischer Settings untersucht und teilweise begrifflich neu gefasst und systematisiert haben. Diese Studien haben in den folgenden Jahren und Jahrzehnten erheblichen Einfluss auf die Anwendung der psychoanalytischen Methode in unterschiedlichen klinischen wie außerklinischen (»Tiefenhermeneutische Kulturanalyse«) Gebieten gewonnen. Auf Hermann Argelanders Arbeiten zur Technik der Psychoanalyse im psychoanalytischen Erstinterview werde ich weiter unten näher eingehen.

2. Zum anderen sind zahlreiche Studien zu spezifischen psychischen Störungen und ihrer Behandlung am SFI entstanden. Die Bandbreite dieser Forschungsarbeiten ist ebenfalls beträchtlich und reicht von Mitscherlichs Arbeiten zur Psychodynamik psychosomatischer Erkrankungen über die Erforschung traumatischer Störungen bis hin zu umfangreichen Evaluationsstudien, bspw. einer Studie über die Wirksamkeit der psychoanalytischen Langzeittherapie bei chronisch-depressiven Patienten (LAC-Studie).

Die Vielfalt der vorgelegten Studien (Plänkers 2011, Bareuther 1989) schließt analytisch-klinische Einzelfallstudien, klinisch-theoretische Konzeptforschung und empirische Studien ein, die den einheitswissenschaftlichen Ansprüchen der evidence based medicine (Leuzinger-Bohleber 2011) genügen. Das aktuelle Forschungsprojekt dieser Art ist eine Studie zur Psychodynamischen Therapie von Zwangserkrankungen, die die klinische Abteilung des Sigmund-Freud-Instituts unter Leitung von Heinz Weiß durchführt ( Kap. 6).

Die psychoanalytische Ambulanz

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