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1.3.4 Indikationsstellung, Behandlungsvorbereitung und Prognose

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Mit dem Anspruch auf diagnostische Klärung und Aufdeckung der verborgenen, bislang nicht bewussten Sinnzusammenhänge hinter der Symptomatik sind noch nicht alle Funktionen des Erstinterviews erfüllt. Argelander unterscheidet zwei Phasen des Erstgesprächs mit unterschiedenen Aufgabenschwerpunkten, einen diagnostischen und einen, der der Behandlungsvorbereitung gilt. Letzterer umfasst die Indikations- und Prognosestellung (Argelander 1970). Die Unterscheidung dieser beiden Arbeitsschwerpunkte ist nicht als strikte Trennung zu verstehen: die diagnostisch psychodynamischen Überlegungen beeinflussen die indikatorischen Erwägungen und umgekehrt. Sie präzisieren sich wechselseitig und sollten in eine störungs- und persönlichkeitsorientierte Behandlungsempfehlung münden. »Dem Patienten nützen die besten diagnostischen Erkenntnisse nichts, wenn sie nicht in einen konkreten Behandlungsvorschlag einmünden, der seine äußere und innere Realität berücksichtigt« (ebd., S. 100). Das heißt vor allem, dass der Analytiker die Frage zu klären hat, ob im vorliegenden Fall eine psychotherapeutische Behandlung indiziert ist und wenn ja, ob eine analytische Psychotherapie oder ein anderes, ein tiefenpsychologisch fundiertes oder verhaltenstherapeutisches Verfahren einzuleiten ist. Es gilt weiter zu klären, ob die psychotherapeutische Behandlung, falls indiziert, als Einzel- oder Gruppentherapie, als Krisenintervention, als Kurz- oder Langzeittherapie, als ambulante oder stationäre Maßnahme erfolgen soll, oder ob eine psychiatrische, neurologische oder pharmakologische Behandlung zu empfehlen wäre.

Zur Beantwortung dieser Fragen sind weitere Abklärungen erforderlich. Von besonderer Bedeutung für die differentielle Indikation ist es, die »Bereitschaft (des Patienten d. V.) zu einer richtig verstandenen Mitarbeit« (ebd.) einzuschätzen. Die Erkundung der Behandlungsbereitschaft ist eine unerlässliche Vorbereitung einer fundierten Behandlungsempfehlung, insbesondere wenn es um die Indikationsstellung einer psychoanalytischen Behandlung geht. In diesem Fall sollte so weit wie eben möglich eruiert werden, ob und in welchem Ausmaß beim Patienten die Bereitschaft/Fähigkeit vorliegt, sich auf eine konfliktaufdeckende, wenig strukturierte Gesprächsführung einzulassen, ob der Patient zur Betrachtung unbewusster, konflikthafter innerer Strebungen im interaktiven Austausch mit dem Analytiker fähig ist. Anders ausgedrückt: Der Psychoanalytiker sollte sich ein Bild von der ›Übertragungsbereitschaft‹ des Patienten und seiner Fähigkeit verschaffen, eine emotionale Beziehung und eine affektive Kommunikation mit dem Analytiker aufnehmen und nutzen zu können.

Die Behandlungsbereitschaft eines Patienten wird im Verlauf des Erstinterviews nicht nur erkundet, sie kann auch angeregt, gefördert und motiviert werden. Das diagnostische Interview kann zu diesem Zweck einen probehaften psychotherapeutischen Charakter annehmen (ebd.). In diesem Sinne wird es, nach Argelander, zu einer begrenzten Behandlungserfahrung. Hierbei gilt es, auf die umschriebenen Ziele (Diagnostik, Indikationsstellung, Probatorik) und die Limitierungen des Erstinterview-Settings (50 Minuten, max. sechs Folgegespräche) zu achten und behutsam mit den Begrenzungen umzugehen, die der Patient ggf. durch den Gesprächsauftrag setzt (»Über einen bestimmten Vorfall in meiner Biografie kann ich erst sprechen, wenn ich mich in Therapie befinde und ein Vertrauensverhältnis aufgebaut habe«). Der Behandler sollte außerdem im Blick behalten, was es für den Patienten bedeutet, wenn er, was die Regel ist, an einen anderen Behandler weitervermittelt wird, oder es gar unklar bleibt ob und wann eine psychotherapeutische Weiterbehandlung stattfindet (Haeberle 2002).

Unter Beachtung dieser Bedingungen kann der Interviewer zur Untersuchung der Behandlungsbereitschaft eine »kurze Passage echter psychotherapeutischer Widerstandsarbeit« (Argelander 1970, S. 103) einleiten. Dazu nutzt er seine im Gespräch gewonnenen psychodynamischen Einsichten und formt aus diesem Material erste Deutungen und Interventionen (ebd.). Diese können eine besondere Funktion im Erstinterview einnehmen. Im besten Fall ermöglichen sie für den Patienten eine »dosiert zugespielte Teilnahme … am (analytischen d. V.) Erkenntnisprozess als Probeerfahrung« (Argelander 1970, S. 101). Der Analytiker seinerseits kann der Art und Weise, wie der Patient die Intervention aufnimmt, entscheidende Hinweise zur Behandlungsbereitschaft und -eignung entnehmen und wichtige Informationen für die Indikations- und Prognosestellung sammeln.

Argelander gibt ein Beispiel:

»Ein Herr, anfangs 60, Jurist in hoher Staatsstellung, kam, um in familiären Angelegenheiten Rat und Hilfe zu erlangen« (Argelander 1970, S. 18). Der Patient wirkt äußerst hölzern, pedantisch, kontrolliert. Mit einer Akte bewaffnet referiert er geflissentlich Befunde und Fragen und wirkt äußerst unergiebig in Hinblick auf psychologisch relevante Zusammenhänge. »Erst nach 25 Minuten ging der Ratsuchende auf seine Familienverhältnisse ein. […] von seiner Frau und den kleinen und teilweise auch schon erwachsenen Kindern gab er kaum mehr als die Personalien an. Nun schwieg er und schaute erwartungsvoll auf den Interviewer. […] Dieser war durch den langen und unergiebigen Sermon etwas verärgert, hatte das Stereotyp des trockenen Juristen diagnostiziert und fragte deshalb bewußt freundlich und milde, ob es denn nicht für Kinder, vor allem für Söhne schwer sei, einen so erfolgreichen und tüchtigen Vater zu haben, man könne ihn kaum erreichen, geschweige denn, ihn etwa überflügeln. […] Das Gegenüber stutzte zunächst nach dieser unerwarteten und scheinbar auch nicht zur Sache gehörigen Bemerkung. Dann aber ging ein Leuchten über sein Gesicht, und er begann zu erzählen« (ebd., S. 18–19).

Die Deutung reflektiert die Verlaufsgestalt des Interviews und ist situationsbezogen außerordentlich treffsicher. Die in der Deutung enthaltene »Reaktionsbildung«, »auf die Verärgerung bewusst freundlich und milde zu reagieren«, korrespondiert der zwanghaften Persönlichkeitsstörung, die hinter der Symptomatik der Beziehungsstörung liegt, wegen der der Patient die Ambulanz konsultierte. Durch die Deutung erfährt das Gespräch eine markante Wendung, was darauf schließen lässt, dass sie gelungen war und der Patient die Deutung verwerten konnte. Aus diesem Verlauf leiten sich weitere diagnostisch und indikatorisch wichtige Informationen über die psychischen Strukturen des Patienten ab: über die Ichfähigkeiten, die emotionale Flexibilität, die Stärke seiner Persönlichkeitsstörung, die Chronifizierung und Starrheit seiner störungsspezifischen Verhaltens- und Erlebensmuster usw. Der Patient sei, so Argelander, durch die Deutung »menschlicher und die Schilderung seiner Beziehungspersonen lebendiger« (ebd., S. 26) geworden. Er habe die mit seiner Erkrankung verbundenen Eigenschaften »Perfektionismus, Unerreichbarkeit, Überlegenheit« (ebd.) erleichtert fallen lassen können. Diese Erleichterungsreaktion zeige die unbewusste Motivation des Patienten, eine Behandlung zu beginnen und spreche für seine Entwicklungsmöglichkeiten, d. h. für eine günstige Prognose. Die Deutung habe es dem Patienten erlaubt, seine innere Problematik wahrzunehmen (ebd.) und freier zu thematisieren. Es gilt als behandlungstechnische Regel in der Psychoanalyse, dass sich die Stimmigkeit einer Deutung, ihre Verwertbarkeit durch den Patienten, in der Vertiefung und Fortführung des Assoziationsflusses anzeigt. Ob ein Patient eine Intervention als relevante Bedeutung aufgreifen kann, erkennt der Analytiker daran, dass der Patient Material, das ihm zugehörig und klärend erscheint, unmittelbar anfügt und auf diese Weise zu neuen seelischen Verknüpfungen und neuen Einsichten kommt.

Die o. g. Reaktion des Patienten zeigt außerdem, dass er mit Hilfe der Deutung seinen Widerstand bis zu einem gewissen Grad lockern konnte, wodurch eine günstigere Voraussetzung entsteht, Unbewusstes bewusst zu machen. Die geschilderte Reaktion steht beispielhaft dafür, dass der Patient die Intervention des Analytikers, die Art wie er denkt und arbeitet, mit einem Gewinn an innerer Freiheit und Erleichterung aufnehmen kann. Damit ist der wichtigste Indikationshinweis erreicht. Der Verlauf eines Erstinterviews, die Qualität der sich entwickelnden Zusammenarbeit, die höchst individuelle, störungs- und persönlichkeitsbedingte Art und Weise, wie ein Patient eine analytische Deutung aufnehmen kann, gelten, hier besteht Einigkeit unter Analytikern, als die wichtigsten indikatorischen und prognostischen Kriterien in psychoanalytischen Erstgesprächen. Kerz-Rühling, die langjährige frühere Leiterin der Ambulanz des SFI, schreibt: »Die Indikation zu einer bestimmten Form von ambulanter oder stationärer Psychotherapie erwies sich vor allem als abhängig von der initialen Arbeitsbeziehung zwischen Patient und Therapeut (…) Eine Psychoanalyse wurde u. a. empfohlen, wenn die therapeutische Arbeitsbeziehung sich im Interview gut entwickelt, d. h. wenn ein gemeinsames Krankheitsverständnis zwischen Therapeut und Patient erreicht wurde« (Kerz-Rühling 2005, S. 591). Mit Blick auf Argelanders Fallbeispiel könnte man ergänzen, dass eine ›gute Entwicklung der Arbeitsbeziehung‹ daran ablesbar wird, wie der Patient die Interventionen des Analytikers aufnimmt und ob sich situative Erkenntnis- und Entwicklungsschritte anschließen.

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