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Vorwort der Herausgeber1

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Mit der Eröffnung des Sigmund-Freud-Instituts (SFI) im April 1960 durch Alexander Mitscherlich sollte die Freudsche Psychoanalyse nach ihrer Vertreibung durch die Nationalsozialisten in Deutschland wieder ansässig werden und in Frankfurt a. M. einen Ort finden, an dem sie ihren verlorengegangenen Anschluss an die internationale Psychoanalyse wiedererlangen konnte. Als Wissenschaft vom Unbewussten und Behandlungsmethode für bestimmte seelische Erkrankungen sollte die Psychoanalyse wieder öffentliche Beachtung und Anerkennung finden. Dieses Anliegen fand im Nachkriegsdeutschland der späten 1950er Jahre, jener »intellektuellen Nachkriegswüste«, wie Jürgen Habermas (vgl. Plänkers et al. 1996, S. 30; S. 337) den damaligen Zustand der BRD fasste, eine selektive, aber äußerst zugkräftige Unterstützung aus politischen wie universitären Kreisen. Hierbei spielten die damalige hessische Landesregierung unter Leitung von Ministerpräsident Georg-August Zinn sowie das renommierte Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) eine wichtige Rolle, dem in den 1950er und 1960er Jahren namhafte Intellektuelle wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas und Ludwig von Friedeburg, der später selbst Kultusminister Hessens wurde, angehörten. Die Unterstützung Mitscherlichs als designiertem Institutsgründer war mit gemeinsamen kultur- und wissenschaftspolitischen Interessen verknüpft. Als Reflexions- und Aufklärungswissenschaft sollte die Psychoanalyse zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte und zur Erforschung irrationaler, destruktiver sozialer Kräfte beitragen.

Auf diesem Gebiet hatte der 1908 geborene, fachübergreifend forschende Alexander Mitscherlich schon zum damaligen Zeitpunkt beachtliche wissenschaftliche Expertise erworben. Als habilitierter Neurologe setzte er sich in deutlicher Abgrenzung zur naturwissenschaftlich-positivistisch orientierten Ärzteschaft für eine an Sinnzusammenhängen, an biografischen und sozialen Prozessen ausgerichtete Medizin ein und konnte 1950 in Heidelberg die erste psychoanalytisch orientierte psychosomatische Klinik Deutschlands gründen, die er bis 1967 leitete.

In den 1947 und 1949 gemeinsam mit Fred Mielke veröffentlichten Büchern »Diktat der Menschenverachtung« und »Wissenschaft ohne Menschlichkeit« untersuchte er die Verflechtung der deutschen Mediziner mit dem Naziregime und zeigte auf, wie eine im Geist der Aufklärung und der Humanität entstandene Wissenschaft, aus ihren inneren objektivistischen Denk-Strukturen heraus, sich ins Verdinglichende, Dehumanisierende und letztlich Menschenverachtende verkehrte.

Genau an diesem Punkt konvergierten Mitscherlichs Arbeiten mit dem Denken von Adorno und Horkheimer, die in ihrem gemeinsamen Hauptwerk »Dialektik der Aufklärung« (1947) die Selbstzerstörungskräfte des abendländischen Rationalismus analysierten, die in den modernen, aufgeklärten Industriegesellschaften entlang ihrer instrumentellen Zielsetzungen wirksam werden. Die Autoren zeigten, wie der spezifische Rationalitätstypus der Aufklärung ins Gegenteil seiner selbst, ins Totalitäre und Irrationale umschlägt und in die Barbarei des Faschismus münden konnte.

Mitscherlich hatte diese Dialektik am Beispiel der Medizin in Nazideutschland erfasst und herausgearbeitet und damit einen wesentlichen Beitrag zu den Entstehungs- und Aufarbeitungsbedingungen totalitärer, faschistisch-rassistischer Systeme geleistet.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die führenden Mitglieder des Instituts für Sozialforschung – Horkheimer, Adorno und aus der jüngeren Generation Habermas – auf ihn aufmerksam wurden, Kooperationen mit ihm anstrebten und in ihm die geeignete Person sahen, die den Wiederaufbau der Psychoanalyse in Deutschland repräsentieren und die Verbindung von Soziologie und Psychoanalyse, die seit den 1930er Jahren ein zentrales Arbeitsfeld des IfS war, interdisziplinär weiterentwickeln sollte.


Abb.: Jürgen Habermas und Alexander Mitscherlich im Gespräch, anlässlich der Feier zu Mitscherlichs 60. Geburtstag, September 1968.

Mit freundlicher Genehmigung des Sigmund-Freud-Instituts

Aber nicht nur die Frankfurter Schule sondern auch einige wichtige Vertreter der Politik, so der damalige hessische Ministerpräsident Georg August Zinn, erkannten die politisch aufklärerische Bedeutung der Psychoanalyse und sprachen ihr prophylaktischen Wert gegen zivilisations- und freiheitsgefährdende soziale Kräfte zu. In seiner Rede zur Gründung des Instituts würdigte er den Beitrag der Psychoanalyse gegen ein erneutes Abrutschen der Gesellschaft in die Diktatur: »Ein Staat, in dem die Erkenntnis und das Verfahren der Tiefenpsychologie nicht nur bis tief in die Kliniken und ärztlichen Praxisräume, sondern auch in die Strafgesetze, in den Strafvollzug, in die Schulzimmer und die sozialen Berufe eindringen können, ist wahrscheinlich irgendwie immun gegen Diktatoren« (zit. nach Bareuther, S. 23). In dieser politisch verantwortungsvollen Funktion als Aufklärungs- und Reflexionswissenschaft erlebte die Psychoanalyse in den 1960er–1970er Jahren in Deutschland einen bislang einzigartigen Zuwachs an intellektueller Popularität, der nicht zuletzt durch Alexander Mitscherlich und das von ihm gegründete und bis 1976 geleitete Sigmund-Freud-Institut ermöglicht wurde.

Das »Institut und Ausbildungszentrum für Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin«, so der ursprüngliche Name der 1964 in »Sigmund-Freud-Institut« umbenannten Einrichtung, war in drei wissenschaftliche Bereiche gegliedert: den sozialpsychologischen, den psychologisch-grundlagenwissenschaftlichen und den medizinisch-klinischen Bereich, zu dem eine psychotherapeutisch-psychoanalytische Institutsambulanz gehörte. Die Wahl dieser dreiteiligen Institutsform zeigt an, dass die Freudsche Psychoanalyse nicht »nur« als eigenständige Wissenschaft vom Unbewussten reetabliert und interdisziplinär weiterentwickelt werden sollte. Auch als Behandlungsmethode für seelische Erkrankungen sollte sie wieder Geltung erlangen und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Mit der Einrichtung der Ambulanz trug der Institutsgründer zudem der Tatsache Rechnung, dass die Erforschung des Unbewussten in der psychoanalytischen Klinik gründet und diese als originäres Forschungsfeld unabdingbar voraussetzt. Wissenschaft als Suche nach Erkenntnis und psychotherapeutische Praxis bilden in der Psychoanalyse eine unlösbare Einheit.

Mit der damals schnell zunehmenden Popularität und Anerkennung psychoanalytischen Denkens im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs stieg auch die Nachfrage nach psychoanalytischen Behandlungen. Dadurch ergaben sich neue Anforderungen an die Institutsambulanz. Ihr damaliger Leiter Hermann Argelander schrieb 1967: »Das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut steht – wie auch andere poliklinisch tätige psychoanalytische Institute – vor der schwierigen Aufgabe, aus einer großen Zahl von Behandlungssuchenden die Patienten auswählen zu müssen, für die die vorhandenen psychotherapeutischen Verfahren2 geeignet und erfolgversprechend erscheinen« (Argelander 1967 S. 341).

Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die Psychoanalyse 1967 als analytische Psychotherapie und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in den Leistungskatalog der Krankenkassen, in die GKV-Richtlinien, aufgenommen wurde. Parallel zu diesen gesundheitspolitischen Veränderungen, denen weitere folgen sollten (z. B. die Einführung des Delegations- und Kostenerstattungsverfahren für Psychologen, das Psychotherapeutengesetz) traten die Aufgaben der Diagnostik und der Indikationsstellung in den Fokus der Ambulanztätigkeit.

Diese Ausrichtung prägt bis heute die klinische Arbeit der Institutsambulanz. Sie wurde in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich ausgebaut und auf unterschiedlichen Ebenen zum Gegenstand wissenschaftlicher Studien gemacht.

Mit ca. 500 Erstgesprächen, die wir pro Jahr mit Patienten mit unterschiedlichsten Störungsbildern durchführen, gehört die Ambulanz des SFI zu den bundesweit größten Einrichtungen ihrer Art. Sie weist gegenüber Ambulanzen im Klinikbereich als auch gegenüber Ambulanzen im Bereich psychoanalytischer Ausbildungsinstitute Besonderheiten auf, die in den folgenden Beiträgen zur Darstellung kommen sollen.

Es gilt hervorzuheben, dass das SFI in den 1960er–1970er Jahren mit der Begründung und Entwicklung eines spezifischen Verfahrens zur psychoanalytisch-psychotherapeutischen Erstuntersuchung von Patienten behandlungstechnisches Neuland betreten und wissenschaftliche Pionierarbeit geleistet hat. Das von Hermann Argelander, dem damaligen Leiter der klinischen Abteilung, begründete Erstinterview-Verfahren, in dessen Zentrum ein neu entwickeltes sinnverstehendes Verfahren, das »szenisch-situative Verstehen«, steht, stellt bis heute ein zentrales Untersuchungsinstrument dar und bildet die Grundlage unserer klinischen Arbeit. Es ermöglicht eine erweiterte Anwendung der von Freud entwickelten psychoanalytischen Methode und ist auf die initiale Begegnung zwischen Analytiker und Patient unter institutionellen Ambulanzbedingungen abgestimmt.

Das Verfahren geht in mehrfacher Hinsicht über Freuds Konzeption des Zusammenspiels von Behandlungstechnik, Übertragung und Gegenübertragung hinaus ( Kap. 1).

Hierbei geht es kurz gesagt um die Überschreitung der bei Freud angelegten intrapsychischen Perspektive hin zu einer interaktiv-interpersonellen Konzeption der Psychoanalyse. Diese akzentuiert in weitaus stärkerem Maß die Beziehungsvorgänge zwischen Analytiker und Patient und erklärt sie zum eigenständigen Gegenstand der Forschung.

Bei seiner Neuausrichtung des psychoanalytischen Verfahrens stand Argelander im wissenschaftlichen Austausch mit englischen Analytikern, vor allem mit Michael Balint und Paula Heimann. In seinen zahlreichen Studien zum szenisch-situativen Verstehen nahm er objektbeziehungstheoretische Konzepte auf (zur Bedeutung der Gegenübertragung, zur intersubjektiven Basis des analytischen Geschehens, zur Zwei-Personen-Psychologie etc.), die in England in den 1940er und 1950er Jahren entwickelt wurden und in den folgenden Jahren und Jahrzehnten die Weiterentwicklung der Psychoanalyse, auch am SFI, maßgeblich prägen sollten.

Der von Argelander eingeleitete Perspektivwechsel führte am SFI dazu, dass sich die klinische Forschung in der Institutsambulanz immer dezidierter dem interaktiven, oftmals averbal und aktional ablaufenden, affektiv geprägten Beziehungsgeschehen zwischen Patient und Analytiker, dem Hier und Jetzt der analytischen Situation, zuwendete.

Die minutiöse Erforschung der intersubjektiv strukturierten und unbewusst aufeinander bezogenen Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse, die sich, nach unserer Überzeugung, nicht nur in langwierigen Analysen, sondern auch schon im Erstinterview einstellen und seinen Verlauf prägen, begreifen wir als eine der Hauptaufgaben der Institutsambulanz.

Integraler Bestandteil der klinischen Arbeit ist deshalb die wöchentlich stattfindende Ambulanzkonferenz. Die als intervisorische Gruppensitzung angelegte Ambulanzkonferenz hat seit den Gründungstagen des Instituts »die wichtige Funktion (…) sowohl das angebotene Material wie auch die in der Gruppe während des Gesprächs auftauchenden emotionellen Konstellationen miteinander zu integrieren und daraus eine dynamische Hypothese über die Struktur des Patienten zu formulieren« (Argelander 1967, S. 342).

Die Gruppe erweist sich als ein außerordentlich sensibles Organ zur Wahrnehmung und Aufnahme jener ›emotionellen Konstellationen‹, die im Erstgespräch zwischen Analytiker und Patient unbewusst zur Wirkung kommen und dem Gespräch seine einzigartige Verlaufsgestalt geben. In der Fallbesprechung gilt der Grundsatz, dass der vorstellende Analytiker stets mehr von den aufgenommenen Beziehungs- und Austauschvorgängen, den Gefühlen und Reaktionen, die der Patient bzw. das Interview in ihm ausgelöst hat, vermittelt, als ihm selbst bewusst ist (»implizites Beziehungswissen«, vgl. Mertens 2013, S. 817). Die unbewusst gebliebenen emotionalen Reaktionen des Analytikers, seine Gegenübertragungsgefühle können im Gruppenprozess ins Vorbewusste, ins Denkbare und schließlich in Sprache gehoben werden. Der bewusst gemachten Gegenübertragung entnehmen wir entscheidende Einblicke in die innere Welt des Patienten. Damit wird die Gegenübertragung, die höchst subjektive Resonanz des Analytikers auf seinen Patienten, zum wesentlichen Werkzeug analytischer Erkenntnisprozesse. Aus unserer Sicht ist die Fallbesprechung in der Gruppe ein konstitutiver Bestandteil des analytischen Verstehensprozesses. Ihr entnehmen wir unsere psychodynamischen, diagnostischen, indikatorischen und prognostischen Schlussfolgerungen.

Parallel zu diesen behandlungstechnischen wie -theoretischen Neueinstellungen hat sich das Indikationsgebiet der Psychoanalyse in den letzten Jahrzehnten erheblich erweitert. Dieser Entwicklungstrend gilt nicht nur für die Ambulanzarbeit am SFI, sondern für die Entwicklung der Psychoanalyse überhaupt. Ihre klinische Anwendung ist heutzutage nicht mehr auf die klassischen Neurosen, die sog. Übertragungsneurosen, beschränkt. Mit weiter entwickelten Behandlungsmethoden und neuen Konzepten, vor allem aus dem Umfeld des kleinianischen und postkleinianischen Denkens, wendet sie sich verstärkt den sog. nicht-neurotischen Störungen, den Borderlinestörungen, den narzisstischen Störungen, den Psychosen, den schweren Traumatisierungen und dissoziativen Störungen zu. Bei der psychoanalytischen Erforschung und Behandlung dieser Erkrankungen stehen nicht mehr die klassischen Verdrängungsprozesse, das aufzudeckende Verdrängte und seine symbolischen Ersatzbildungen im Vordergrund der Psychodynamik, sondern ein seelisches Material, das sich auf andere und gravierendere Weise der symbolischen Repräsentation entzieht und nach anderen Gesetzmäßigkeiten individuelles Leiden verursacht und zum Ausdruck bringt: borderline-typische Zustände der Leere, der Dissoziation, der psychosenahen Verfolgungs-, Vernichtungs- und Ichverlustängste, der Verwirrung, der mehr oder weniger gravierenden Auflösung von Subjekt-Objekt-Grenzen usw. Innere Zustände dieser Art, das zeigen neuere Forschungen, kommen nicht im Medium »erzählenden Erinnerns«, der freien Assoziation und des Widerstands zum Ausdruck, vielmehr werden sie vom Patienten auf der Handlungs- und Verhaltensebene unbewusst inszeniert, agiert, werden aus dem Inneren ausgestoßen und projektiv in den anderen hineinverlagert.

Die sog. projektive Identifizierung (vgl. Frank, Weiß 2007) ist zum Schlüsselkonzept psychoanalytischer Behandlungstheorie geworden. In Abgrenzung zur Verdrängung, dem Leitmechanismus der Neurose, bezeichnet sie einen unbewussten Abwehrmechanismus, durch den eigene Anteile abgespalten und in den anderen, z. B. den Analytiker, hineinverlagert werden. Die projektive Identifizierung stellt einerseits einen archaischen Abwehrmechanismus dar, andererseits ein basales Interaktionsmodell zur Erfassung präsymbolischer, auf konkrete Entledigung bedrohlicher Gefühle ausgerichteter Austauschvorgänge zwischen Analytiker und Patient oder aber auch in entwicklungspsychologischer Perspektive zwischen Mutter und Säugling (kommunikative Funktion der projektiven Identifizierung). Durch das Konzept der projektiven Identifizierung wurde das psychoanalytische Verständnis nicht-verbaler Interaktions- und Austauschvorgänge außerordentlich erweitert und ein Zugang zu Patienten eröffnet, die früher als unbehandelbar galten.

Beim Erforschen und therapeutischen Bearbeiten dieser Vorgänge ist die Aufnahmefähigkeit des Analytikers, seine Fähigkeit die Gegenübertragung wahrnehmen, erkennen und bearbeiten zu können, besonders gefragt. Die Gegenübertragungswahrnehmung stellt das wichtigste Instrument dar, um die fraglichen, unzureichend repräsentierten inneren Zustände und Prozesse des Patienten zu erahnen, zu erfassen und ihnen im intersubjektiven Austausch eine Bedeutung verleihen zu können, die beim Patienten zum Ausgangspunkt seelischer Transformation werden kann. Neben den Arbeiten der kleinianischen Schule zur projektiven Identifizierung und zur Gegenübertragung ist die Container-Contained-Theorie des Denkens von Wilfred Bion zum wichtigen Referenzpunkt psychoanalytischer Theorie und Praxis geworden.

Die vorliegende Aufsatzsammlung hat die klinisch-wissenschaftliche Arbeit der Institutsambulanz des SFI zum Gegenstand. Die von den Ambulanzmitarbeitern verfassten Beiträge beschäftigen sich aus unterschiedlichen Blickrichtungen mit der diagnostischen Arbeitsweise des Psychoanalytikers, mit der Theorie und der Praxis des psychoanalytischen Erstinterviews. Von besonderem Stellenwert ist die am SFI begründete Methode bzw. Methodologie des »szenisch-situativen Verstehens«, die einen interaktions- und intersubjektivitätsbezogenen Zugang zur Dynamik unbewusster Prozesse im Hier und Jetzt der Erstinterview-Situation ermöglicht. Das unbewusste Zusammenspiel von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen prägt von Beginn an, so der gemeinsame Nenner der vorgelegten Beiträge, die Begegnung von Analytiker und Patient.

Ein weiterer Schwerpunkt des vorliegenden Buches gilt den umfangreichen klinischen Erfahrungen, die in der Institutsambulanz mit unterschiedlichen Patientengruppen und unterschiedlichen Störungsbildern (Folgen chronischer Traumatisierung, Borderlinestörungen, Psychosen, Zwangsneurose etc.) gesammelt werden. In den entsprechenden Beiträgen soll die psychoanalytische Ambulanztätigkeit, unter dem Aspekt störungsspezifischer Anforderungen, möglichst praxisnah und fallbezogen veranschaulicht werden.

Einen weiteren Schwerpunkt bildet das für die Institutsambulanz charakteristische Zusammenspiel von »Forschen und Heilen«, von Wissenschaft und klinischer Praxis. Hierbei geht es u. a. um die Vernetzung der Ambulanztätigkeit mit Forschungsprojekten unterschiedlicher Art (Therapiewirksamkeitsstudien, Evaluations-, Präventions- und Katamnesestudien), die das SFI in Kooperation mit anderen Forschungseinrichtungen oder Universitäten durchführt (z. B. die aktuelle »Studie zur psychodynamischen Therapie von Zwangserkrankungen«).

Abschließend werden erste Ergebnisse der im November 2018 neu eingeführten fragebogengestützten Patientendokumentation vorgestellt. Neue Forschungsperspektiven, die diese Dokumentationsform ermöglicht, werden diskutiert.

Eine Besonderheit der Ambulanz am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut liegt gerade darin, dass sie die Aufgaben einer Versorgungsambulanz mit denjenigen einer Forschungsambulanz verbindet. Dazu gehört auch die Mitwirkung in der Ausbildung und Lehre. Durch die regelmäßige Teilnahme niedergelassener Kolleginnen und Kollegen an der Ambulanzkonferenz, der Kooperation mit klinischen Einrichtungen sowie anderen, am Haus angesiedelten Ambulanzen (des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts, des Anna-Freud-Instituts für Kinder und Jugendliche sowie des Jüdischen Psychotherapeutischen Beratungszentrums) kommt eine enge Vernetzung mit dem ambulanten und stationären Versorgungssektor zustande. Diese Besonderheit spiegelt sich in den Beiträgen des vorliegenden Bandes wider.

Nach einer Einführung in die Geschichte des SFI geht Lothar Bayer den Besonderheiten der Institutsambulanz in ihrer Doppelfunktion als Forschungs- und Versorgungsambulanz nach ( Kap. 1). Gerade in dieser Verklammerung besitzt die Institutsambulanz Modellcharakter für vergleichbare Einrichtungen. Besonderes Augenmerk legt Bayer auf das von Herrmann Argelander entwickelte szenisch-situative Verstehen, das im Mittelpunkt des Erstinterviewverfahrens steht. Die unbewusst stattfindenden Beziehungs- und Austauschvorgänge zwischen Analytiker und Patient werden hier zum zentralen Untersuchungsgegenstand und zur Grundlage therapeutischer Erkenntnis- und Transformationsprozesse. Das »Argelandersche Verfahren« wird hinsichtlich seiner Verbindung zum Freudschen Denken wie zur Objektbeziehungstheorie diskutiert und an ausgewählten Beispielen erläutert.

Ralph J. Butzer stellt das Konzept des szenischen Verstehens bei Alfred Lorenzer vor ( Kap. 2). Während Argelanders Forschungsschwerpunkt in der psychoanalytisch-klinischen Praxis, insbesondere dem psychoanalytischen Erstgespräch, liegt, verwendet Lorenzer das »Szenische« als metatheoretischen Vermittlungsbegriff, der die soziale Konstitution des Unbewussten im Spannungsverhältnis von Natur und Kultur erfassen soll.

Im Rahmen der von ihm entwickelten materialistischen Sozialisationstheorie versucht er zu zeigen, wie sich im Kind von Beginn an, schon vor der Spracheinführung, soziale Interaktionen als »sinnliches Praxisgefüge« niederschlagen. Diese sog. Theorie der Interaktionsformen bildet nach Lorenzer die Grundlage einer besonderen Form der Hermeneutik, einer »Hermeneutik des Leibes«, die ihrerseits das psychoanalytische Verstehen theoretisch fassbar und soziologisch anschlussfähig machen soll. Im deutschsprachigen Raum haben Lorenzers Entwürfe als »Tiefenhermeneutik« die sozialwissenschaftliche Anwendung der Psychoanalyse beeinflusst.

Der Aufsatz von Bernd Pütz behandelt die Frage der Einrichtung des sog. Behandlungsrahmens ( Kap. 3). Die Frage ist gerade auch deshalb relevant, da psychoanalytisches Arbeiten, so die gängige Lehrmeinung, die Stabilität eines explizit geklärten Rahmens voraussetzt, das Erstinterview aber durch das weitgehende Fehlen einer expliziten Rahmenvereinbarung charakterisiert ist. Gegenüber den weitverbreiteten normativen Konzeptionen der Rahmenvereinbarung plädiert Pütz für eine dialektische Konzeption des Rahmens. Die prinzipiell kooperativ konzipierte Rahmenvereinbarung bewegt sich zwischen grundsätzlich widersprüchlichen Anforderungen (Stabilität und Flexibilität, Absichtslosigkeit und Zielorientierung, Asymmetrie und Gegenseitigkeit) und hat sich als ein in sich widersprüchliches Gebilde zu bewähren. In diesem Sinne entfaltet der Autor ein Konzept des Rahmens als Übergangsraum und gemeinsames Übergangsobjekt im Sinne Winnicotts (1953).

Felix Schoppmann beschreibt vor dem Hintergrund kleinianischer und postkleinianischer Konzepte typische Übertragungs-Gegenübertragungs-Konstellationen, die sich in Erstgesprächen mit schwerer gestörten Patienten einstellen ( Kap. 4). Sein Beitrag stellt in gewisser Weise eine Weiterentwicklung des Konzepts des »szenischen Verstehens« dar, indem er die Transformationsfunktion des Erstinterviews beleuchtet. Das vom Analytiker bereitgestellte aufnehmende Verstehen bzw. ›Containment‹ im Sinne Bions (1962) ermöglicht die Aufnahme und Modifikation abgespaltener, wenig symbolisierter Gefühlsinhalte, die der Patient via projektiver Identifizierung in den Analytiker hineinverlagert. Im besten Fall kann der Analytiker die aufgenommenen Projektionen in psychische Bedeutungen verwandeln, die er verstehen, kommunizieren und an den Patienten in erträglicherer Form als Deutungen zurückvermitteln kann. Solche Austauschvorgänge können beim Patienten zum Ausgangspunkt innerer Aneignungs- und Transformationsprozesse werden.

Carla Messmann geht in ihrem Beitrag der Bedeutung des psychoanalytischen Zweitgesprächs nach ( Kap. 5). Anhand eines Fallbeispiels einer jungen Patientin sowie weiterer kurzer Fallsequenzen wird dargestellt, wie bedeutsam ein zweites oder drittes Gespräch im Rahmen einer psychoanalytischen Sprechstunde, wie sie am Sigmund-Freud-Institut angeboten wird, sein kann. Dabei werden die Unterschiede zwischen Erst- und Zweitgespräch sowie die, für den Verstehens- und Verdauungsprozess wesentliche, Zeit zwischen den Gesprächen betrachtet und – auch vor dem Hintergrund der Einschätzung von Indikation, Prognose, Diagnose sowie psychodynamischen Überlegungen – diskutiert.

Der Beitrag von Annabelle Starck »Die Choreografin – Klinisches Beispiel einer Diskussion in der Ambulanzkonferenz« vermittelt einen Eindruck von der Arbeitsweise der wöchentlich stattfindenden Ambulanzkonferenz ( Kap. 6). Dieser auf der Grundlage von Tonbandaufnahmen erstellte Abschnitt gewährt einen unmittelbaren Einblick in den sich entfaltenden Diskussionsprozess und lässt den Leser damit zum Teilnehmer der Gruppe werden.

Um die Herstellung eines ausreichend flexiblen und zugleich ausreichend haltgebenden Rahmens, durch den ein Raum für psychoanalytisches Arbeiten auch unter erschwerten Bedingungen entstehen kann, geht es im Aufsatz von Sigrid Scheifele. Sie berichtet aus der »Flüchtlingsambulanz«, die 2015 am SFI angesichts des stark erhöhten Bedarfs an psychotherapeutischer Hilfe für Geflüchtete und Asylsuchende ins Leben gerufen wurde ( Kap. 7).

Ausgehend von drei Fallbeispielen – einer schwer depressiven afghanischen Patientin, die mit ihrem Mann und den beiden jüngsten Kindern länger als ein Jahr in einer Sammelunterkunft lebt, einem afghanischen Mann, dessen Ehe in Deutschland zerbricht, und einem in der Heimatstadt in Sippenhaft genommenen und misshandelten Syrer im fortgeschrittenen Alter – geht die Autorin der Besonderheit der Konstitution des analytischen Raums in der Arbeit mit Geflüchteten nach. Wie lassen sich Behandlungsmöglichkeiten erkunden, wenn das Außen unsicher ist, und die Perspektive auf das subjektive Leiden festgehalten werden soll? Wie kann trotz Unsicherheit des Aufenthalts, ohne intimen Lebensraum, ohne – hinreichende – Kenntnis der Sprache, bei Erschütterung der Geschlechterkultur und der elterlichen Autorität ein analytischer Prozess in Gang kommen?

Annabelle Starck stellt die aktuelle »Studie zur psychodynamischen Therapie von Zwangserkrankungen« vor ( Kap. 8). Anhand von Fallbeispielen aus den Erstinterviews mit Studienteilnehmern arbeitet sie spezifische Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamiken bei zwangserkrankten Patienten heraus. Ihre Arbeit ist ein Beispiel einer Forschungskooperation der Institutsambulanz mit den Universitäten Gießen und Göttingen. Dabei geht es um Evaluation der Wirksamkeit psychodynamischer Verfahren und der ihnen zugrundeliegenden spezifischen Prozesse.

Abschließend präsentiert Anna Lea Docter erste Ergebnisse der im November 2018 eingeführten fragebogengestützten Patientendokumentation ( Kap. 9). Die sich dadurch eröffnenden Forschungsperspektiven werden erläutert und beispielhaft diskutiert. Besonderheiten der Patientenpopulation werden dargestellt und im Kontext bisheriger Forschungsergebnisse betrachtet. Die Häufigkeitsverteilungen der im Untersuchungszeitraum erstellten Diagnosen und Indikationen werden dargelegt und erörtert. Ein besonderes Augenmerk gilt der Erhebung der Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik und den sich daraus eröffnenden Forschungsperspektiven.

Unser Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen an der Entstehung und Gestaltung des vorliegenden Buches mitgewirkt haben. Die Beiträge repräsentieren nicht nur die unterschiedlichen Aufgabenbereiche der Institutsambulanz sondern auch die lebendige Vielfalt an wissenschaftlichen, behandlungstechnischen und behandlungstheoretischen Perspektiven, die die klinische Arbeit und Forschung am Sigmund-Freud-Institut seit 60 Jahren auszeichnet.

Die Idee, das vorliegende Buch zu schreiben, ist dem besten Wortsinne nach das Ergebnis einer Gruppenarbeit. Sie ist hervorgegangen aus der wöchentlich stattfindenden Ambulanzkonferenz.

Danken möchten wir allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Ambulanzkonferenz, die mit ihrer klinischen Erfahrung und wissenschaftlichen Kreativität in der allwöchentlichen Arbeit am Fallmaterial zur Vertiefung und Verfeinerung psychoanalytischer Verstehensprozesse und Erkenntnisbildung beitragen: Ralph J. Butzer, Anna Lea Docter, Reinhard Hildisch, Alexandra Litinskaya, Beate Lorke, Carla Messmann, Bernd Pütz, Sigrid Scheifele, Felix Schoppmann, Annabelle Starck, sowie den Praktikantinnen und Praktikanten: Laura Harth, die die Transkripte erstellt hat, Stefan Coels, der an der Patientendokumentation mitarbeitete, sowie Sofie Schleicher und Anja Wedemeier. Danken möchten wir auch Frau Kroll, der Ambulanzsekretärin, die einen großen Teil der Verwaltungs- und Organisationsaufgaben durchführt und den Klinikern den Arbeitsalltag erleichtert.

Last but not least danken wir Herrn Dr. Ruprecht Poensgen und Frau Dipl.-Psych. Annika Grupp für ihr engagiertes und zugleich geduldiges Lektorat sowie dem Kohlhammer Verlag für seinen Einsatz für die Wissenschaft vom Unbewussten.

Lothar Bayer, Heinz WeißIm November 2020

Literatur

Adorno, T. W. & Horkheimer, M. (1947). Dialektik der Aufklärung. Frankfurt, Fischer (1969).

Argelander, H. (1967). Das Erstinterview in der Psychotherapie. Psyche-Z Psychoanal., 21 (5), 341-368.

Bareuther, H. et al. (Hrsg.) (1989). Forschen und Heilen. Frankfurt: Suhrkamp.

Bion, W.R. (1962). Lernen durch Erfahrung. Frankfurt: Suhrkamp (1992).

Frank, C. & Weiss, H. (2007). Projektive Identifizierung. Ein Schlüsselkonzept der psychoanalytischen Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta.

Leuzinger-Bohleber, M. & Plänkers, T. (2019). The struggle for a psychoanalytic research institute: The evolution of Frankfurt’s Sigmund Freud Institute. Int. J. Psychoanal., 100 (5), 962-987.

Mertens, W. (2013). Das Zwei-Personen-Unbewusste – unbewusste Wahrnehmungsprozesse in der analytischen Situation. Psyche-Z Psychoanal., 817f.

Mitscherlich, A. & Mielke, F. (1947). Diktat der Menschenverachtung. Heidelberg: Schneider.

Mitscherlich, A. & Mielke F. (1949). Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Heidelberg: Schneider.

Plänkers, T. et al. (Hrsg.) (1996). Psychoanalyse in Frankfurt am Main. Tübingen: edition diskord.

1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden die generische Geschlechtsform Maskulinum oder Femininum verwendet. Sie bezieht sich auf Personen aller Geschlechter.

2 Mit den »vorhandenen psychotherapeutischen Verfahren« meinte er die im Institut praktizierten, zum Teil in eigenen Forschungsprojekten neu- oder weiterentwickelten Verfahren: »langfristige Psychoanalysen, psychoanalytisch orientierte Psychotherapie, Kurztherapie (Fokaltherapie), Gruppentherapie und Beratungen« (vgl. ebd.).

Die psychoanalytische Ambulanz

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