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2 Erste Orientierungen in den Bereichen Fachdidaktik– Angewandte Linguistik – Linguistik

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Eine „Beratungswoche Erstsemester“, wie sie heute von zahlreichen Hochschulen angeboten wird, gab es im Sommersemester 1969 nicht. Und dies nicht nur wegen der insgesamt unruhigen Zeit.

Als Student fühlte man sich vor dem ersten Semester fast verloren. Die Anschläge am Informationsbrett des Romanischen Seminars der Universität Kiel – überwiegend in französischer Sprache abgefasst – waren in Unkenntnis der internen Organisation sowie der damit verbundenen Anforderungen für einen Studienanfänger kaum verständlich.

Auf zwei Wegen versuchte ich, Orientierungen für das Studium im ersten Semester zu bekommen. Mit dem Vorlesungsverzeichnis in der Hand wandte ich mich erstens an eine Beratungsstelle für das Lehramt an Gymnasien, die vom schleswig-holsteinischen Kultusministerium eingerichtet war. Die freundliche Dame riet mir, doch auf jeden Fall Veranstaltungen von Professor Raasch zu besuchen. Er sei sehr freundlich, er verfüge selber über Schulpraxis, und seine Seminare seien für Studienanfänger gut verständlich und sehr nützlich.

Geleitet von der diffusen aber wohl richtigen Vorstellung, dass ein Studium mit der Verfügbarkeit über Fachbücher verbunden sei, klopfte ich zweitens vor Semesterbeginn an die Tür des Büros der Wissenschaftlichen Hilfskräfte am Romanischen Seminar an und fragte, welche Bücher sie mir als künftigem Erstsemester zur Anschaffung raten könnten. Einer der Mitarbeiter, Peter Scherfer1, beriet sich kurz mit den anderen beiden Kommilitonen, um mir dann die Anschaffung der folgenden drei Bücher zu empfehlen: Das einsprachige Wörterbuch Le Petit Larousse, die Grammatik von Maurice Grevisse mit dem Titel Le bon usage sowie die deutsche Übersetzung eines Buches von André Martinet mit dem Titel Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft.

Zu Beginn des Studiums im Sommersemester 1969 konnte ich noch nicht ahnen, dass sowohl die personale Empfehlung als auch der Buchtipp sich bald als richtungweisend für das weitere Studium herausstellen sollten.

1969 erfolgte von Albert Raasch die Veröffentlichung des Buches „Französischer Mindestwortschatz“. In dem von ihm im SS 1969 angebotenen Seminar „Wortschatz der französischen Gegenwartssprache“ wurde nicht nur das Wissen der Studierenden für die sprachwissenschaftlichen Grundlagen der Bestimmung und Auswahl eines Grundwortschatzes – auch in ihrer historischen Dimension – gelegt, sondern auf dem Wege der Analyse des Wortschatzes in Lektionstexten gängiger Lehrbücher für das Fach Französisch wurde auch das Bewusstsein geschärft z.B. für Fragen danach, was eigentlich ein Wort sei, welchen Unterschied es zwischen code oral und code écrit gebe, und welche Bedeutung der Authentizität von Lehrwerktexten, gerade auch unter dem Gesichtspunkt der Berücksichtigung unterschiedlicher niveaux de langue, zukomme.

Der Brückenschlag von dem Einzelwort hin zu komplexeren lexikalischen Strukturen erfolgte in dem von Albert Raasch parallel angebotenen Seminar mit dem Titel Ausgewählte Probleme der Angewandten Sprachwissenschaft. Das Wissen um die Grundlagen der strukturalistischen Syntaxtheorie wurden am Beispiel der Arbeiten von André Martinet und Lucien Tesnière vermittelt, und zugleich wurde immer wieder der Bezug zum schulischen Fremdsprachenunterricht hergestellt.

Dieser Studienbeginn war geprägt von dem Kennenlernen „systemlinguistischer“ Arbeiten. Fachdidaktische Bezüge im Sinne eines Einbezugs unterrichtsbezogener Fragestellungen und Exkurse gab es, aber sie erfolgten gleichsam als post scriptum unter Rückbezug auf linguistische Arbeiten und Erkenntnisse. Bei den Studierenden bildete sich ein erster, naiver Eindruck vom Gegenstandsbereich der „Angewandten Linguistik“.

Die Herausbildung eines überzeugenden Praxisbezugs war folgendem Umstand geschuldet. Die Einrichtung von Sprachlabors an Schulen und Hochschulen war verbunden mit einem methodischen Vorgehen, der so sogenannten pattern practice im Rahmen der Sprachausbildung. Die Einbeziehung der behavioristischen Lerntheorie in die Diskussion um syntaktische bzw. semantische Einheiten ergab insgesamt einen plausiblen theoretischen Rückhalt mit deutlicher Praxisanwendung.

Das theoretische Wissen um die Bedeutung prosodischer Einheiten, das ausgebildete Bewusstsein für den Unterschied von syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen in einer Äußerung im Vergleich zu anderen waren wichtige Voraussetzungen für erfolgreiches Arbeiten in der Übung zur Aussprache sowie der Übung zur Grammatik, die freitags im Sommersemester 1969 jeweils halbstündig um acht Uhr morgens (!) von Professor Raasch angeboten wurden. Beide Übungen fanden im neu eingerichteten Sprachlabor der Universität statt und dienten der Verbesserung der Sprachkompetenz der Studierenden. Zum besseren Verständnis dieses neuen Mediums erfolgte auf Anraten eines Kommilitonen der Kauf des gerade erschienenen Buches von Reinhold Freudenstein zum Unterrichtsmittel Sprachlabor.

Grundlage der Übungen im Sprachlabor waren Sprachprogramme zur französischen Aussprache und Grammatik, die die Studierenden über Kopfhörer zugespielt bekamen und die sie autonom bearbeiten konnten. Einhilfe, Korrektur und gegebenenfalls klärende Hinweise der überwiegend nach dem traditionellen Muster des 4-Phasen Drills angelegten Übungssequenzen erfolgten zusätzlich durch Professor Raasch.

Dieser nutzte die ruhige und konzentrierte Arbeitsatmosphäre im Sprachlabor auch für Informationen z.B. zu einzelnen Vortragsveranstaltungen der Deutsch-Französischen Gesellschaft-Kiel oder zu Hinweisen auf Begegnungsprogramme des 1963 ins Leben gerufenen Deutsch-Französischen Jugendwerks.

Es geschah im Anschluss an eine sensibel übermittelte sprachliche Korrektur, dass Albert Raasch mich auf ein Austauschprogramm für deutsche und französische Lehramtsstudierende aufmerksam machte. Mein Interesse war geweckt, und so konnte ich im Herbst 1969 zu einem vierwöchigen Studienaufenthalt an die Ecole Normale d’Instituteurs de Paris fahren. Vor der Abreise erhielt ich von Professor Raasch noch die Anregung, doch mit Professor André Martinet von der Sorbonne Kontakt aufzunehmen. Dass dieser sicherlich gut gemeinte Ratschlag angesichts der Schwierigkeiten, die allein das Verstehen des Buches von André Martinet mit der ungewohnten Terminologie mit sich brachte, von mir als Student im Anfangssemester eher zurückhaltend aufgenommen wurde, werden Kenner des linguistischen Strukturalismus verstehen.

Aber im Verlauf des Aufenthaltes in Paris wurde mit der Hilfe der französischen Gasteltern schließlich ein Brief an Professor Martinet formuliert, in dem ich mit Bezugnahme auf die intensive Rezeption der „Grundzüge“ an der Universität Kiel um ein Interview bat. Dass ich auf meine schriftliche Anfrage wenig später zu einem Gespräch mit Professor Martinet in sein Haus in Sceaux eingeladen wurde und mit ihm ein dreiviertelstündiges Interview führen konnte, gehört zu den unerwarteten positiven Erfahrungen in meinem Leben. Im Gespräch äußerte er sich u.a. auf die Frage, welches die Kriterien seien, die einen Linguisten als Strukturalisten auszeichnen, wie folgt:

Eh bien, à mon sens, c’est étymologiquement, si vous voulez, le fait de considérer qu’une langue est une structure, c’est-à-dire quelque chose où toutes les parties dépendent les unes des autres. Je pense que c’est ceci qui est fondamental, même si certaines écoles structuralistes comme les écoles bloomfieldiennes n’ont pas pris conscience aussi nettement que les écoles européennes de ce travail particulier du structuralisme. (Leupold 1970: 114)

So sehr einerseits das Paradigma eines dem Strukturalismus verpflichteten linguistischen Ansatzes der Sprachbeschreibung dominierte, so deutlich zeichneten sich andererseits durch die Arbeiten von Chomsky u.a. zur Transformationsgrammatik neue Herausforderungen für den Unterricht ab. Und die Arbeiten zur linguistischen Pragmatik von Wunderlich, Austin und Searle beeinflussten Anfang der 1970-er Jahre zunehmend stärker die linguistische und fachdidaktische Reflexion.

Die Menschen verstehen: Grenzüberschreitende Kommunikation in Theorie und Praxis

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