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3 Situationsentwürfe, Kommunikationsbedingungen, Versprachlichungsstrategien und Kommunikate – eine Präzisierung des Nähe-Distanz-Kontinuums
ОглавлениеWir haben zwei problematische Aspekte des Nähe-Distanz-Kontinuums benannt, die das Arbeiten mit dem Modell behindern. Dies sind die mangelnde Berücksichtigung der medialen Variabilität der Kommunikation und die sehr offene, zu Missverständnissen geradezu einladende Auswahl und Relationierung der Parameter, die die Variabilität der kommunikativen Bedingungen zu beschreiben suchen (siehe Koch/Oesterreicher 2016: 12). Es sind, wie bereits angesprochen, Aspekte, die zur Ablehnung des Modells geführt haben oder Weiterentwicklungen angeregt haben, die, recht betrachtet, Gegenentwürfe sind. Im Folgenden werden wir die Kritik als Ausgangspunkt für den Versuch einer Präzisierung des Modells nutzen. Wir berücksichtigen dabei beide Kritikpunkte, den Hinweis auf das Fehlen des Mediums und die Kritik an der mangelnden Strukturierung der mehrdimensionalen situativen Variation. Beginnen müssen wir mit dem umfassenderen Aspekt, nämlich mit der Beobachtung, dass Peter Koch und Wulf Oesterreicher bei der Dimensionierung der situativen Variation einen wesentlichen Schritt übersprungen haben, der, sobald er ins Modell eingebaut ist, die Kritik an der Parameterauswahl und -zusammenstellung entscheidend nuanciert.
Das Nähe-Distanz-Kontinuum ist bekanntlich aus der Fusion zweier Forschungsansätze entstanden. Der erste Ansatz ist Ludwig Sölls Unterscheidung zwischen dem medialen und dem konzeptionellen Aspekt der Gegenüberstellung von geschriebenem und gesprochenem Französisch (siehe Söll 1985; siehe Koch/Oesterreicher 1985: 17f.). Es ist zu betonen, dass Söll in der Tradition einer ausschließlich auf sprachliche Merkmale konzentrierten varietätenlinguistischen Forschung steht und dass er seine Unterscheidung von code écrit und code parlé unmittelbar aus medialen Kommunikationsbedingungen, etwa aus der physischen Nähe vs. Distanz, herleitet (siehe dazu Selig 2018: 259). Die Söll’sche Unterscheidung steht in diesem Punkt also dem Modell von Ágel und Hennig (siehe Ágel/Hennig 2006) näher als dem Nähe-Distanz-Kontinuum. Der zweite Traditionsstrang, der in das Nähe-Distanz-Kontinuum eingeht, kommt aus der historischen Soziolinguistik. Er ist, anders als der Ansatz von Söll, texttypologisch basiert. Es handelt sich um die Modellierung sprachlicher Kommunikation, die Hugo Steger und seine Mitarbeiter*innen im Anschluss an die Analyse eines Korpus von Texten der gesprochenen deutschen Gegenwartssprache vorgeschlagen haben. Sie formulieren ein Modell, das explizit Textlinguistik und Soziolinguistik miteinander verknüpft, indem es situative Merkmale zu „Redekonstellationen“ gruppiert, die die sprachliche Gestalt des jeweiligen „Textexemplars“ nicht direkt, sondern vermittelt über die Ebenen des „Redekonstellationstyps“ und der „Textsorte“ bestimmen (Steger et al. 1972; siehe Koch/Oesterreicher 1985: 19–21). Unseres Erachtens liegt nun gerade in der Kombination des Söll’schen Ansatzes, der ohne Verweis auf Text bzw. Textsorten auskommt, und dem textsortenzentrierten Ansatz von Steger einer der größten Vorteile des Nähe-Distanz-Kontinuums.1 Denn mit dem expliziten Verweis auf die textsortenbezogene Strukturierung der Variation bereits auf der Ebene der Situationsbedingungen bietet sich die Möglichkeit, die Abhängigkeit der Versprachlichungsstrategien von den Kommunikationsbedingungen nicht als eine lineare, von den einzelnen Bedingungen direkt zu den einzelnen sprachlichen Konsequenzen weitergereichte Determinierung zu konzeptualisieren. Stattdessen wird die zentrale Rolle der Textsorten/Gattungen/Diskurstraditionen hervorgehoben, die bereits vor den einzelnen Kommunikationsakten aus ihren je zu verhandelnden Zielsetzungen heraus Parameterwerte zu Konfigurationen bündeln, die konventionalisiert sind und Sprecher*in und Hörer*in einen holistischen Zugriff auf die Kommunikationssituation erlauben.
Kommunikation erscheint im Rahmen derartiger Überlegungen als ein Handeln, das sozial verfestigte Ensembles von Zielsetzungen, Bedingungen und Kommunikationsstrategien nutzen kann, um spezifische Kommunikationssituationen mit den ihnen eigenen Relevanzsetzungen zu generieren. Selbstverständlich nur im Sinn eines Entwurfs, der mit den aktuellen situativen Parameterwerten abgeglichen werden muss, und der durch den Fortgang der Kommunikation jederzeit revidiert werden kann; ebenso unterscheiden sich die einzelnen Muster hinsichtlich ihres Spezifitätsgrads und hinsichtlich ihrer zeitlichen Projektionsfähigkeit. Der Verlauf und die Gestaltung eines persönlichen Gesprächs werden nicht durch ein durchgehendes Ablaufmuster bestimmt, sondern durch die Dynamik der Gesprächssituation. Das Bewerbungsgespräch, die universitäre Vorlesung oder die Gerichtsverhandlung sind dagegen durchaus als vollständige Skripte abgespeichert und gewähren entsprechend weniger gestalterischen Freiraum. Um der Dynamik der Verschränkung von Situationsmuster und situativen Gegebenheiten ebenso wie der zeitlichen Offenheit der Determinierung Rechnung zu tragen, sprechen wir deshalb vom „Situationsentwurf“, der die Gesamtheit der funktionalen, sozialen, kognitiven, situativen, medialen und prozessualen Bedingungen integriert und erst durch die Interaktion aller Parameter im Rahmen einer vollständig, also auch hinsichtlich der kommunikativen Funktion bestimmten Situation über die konzeptionelle Ausrichtung entscheidet (siehe Tophinke 2016: 306). Jede analytische Zergliederung dieses Gesamtzusammenhangs in seine einzelnen Dimensionen muss den Schritt zur übergeordneten Ganzheit immer mitbedenken und für die Argumentation offenhalten.2
Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben immer wieder betont, dass nicht der einzelne Parameter, sondern erst das Gesamt aller Parameter die Konzeption bestimmen kann (siehe vor allem Oesterreicher/Koch 2016: 24–25; siehe auch Selig 2017). Das Nähe-Distanz-Kontinuum kennt also die zentrale Rolle, die der Textsorte/Gattung/Diskurstradition im kommunikativen Handeln zukommt. Im Modell selbst gibt es aber nur noch die unkommentierte Liste der Parameter, und die Reihung der Diskurstraditionen entlang des konzeptionellen Kontinuums illustriert die konzeptionelle – und medienunabhängige – Variation, wird aber nicht dazu genutzt, noch einmal die Funktion der Diskurstraditionen zu spezifizieren. Die entscheidende Rolle, die sie der Bündelung der Kommunikationsbedingungen in den Diskurstraditionen zuweisen, kommt auch in dem Theorieelement zum Ausdruck, das wegen seiner Sperrigkeit so gar nicht überzeugen kann: in der Visualisierung des konzeptionellen Profils einer Diskurstradition durch die ‚Blitze‘, die die Parameterwerte miteinander verbinden (siehe etwa Oesterreicher/Koch 2016: 30). Die Autoren waren immer überraschend gleichgültig gegenüber der offensichtlichen Diskrepanz zwischen dem Aufdecken der Heterogenität der Parameter im analytischen Zugriff und dem homogenisierenden – synthetisierenden! (siehe Oesterreicher/Koch 2016: 25) – Einordnen auf der eindimensionalen Nähe-Distanz-Skala. Sobald man sich klarmacht, dass es für diesen abschließenden Schritt auf den gesamthaften Situationsentwurf ankommt, nicht auf die einzelnen Parameter, wird diese Gleichgültigkeit leichter verständlich.
Die nicht selten arbiträr erscheinende Bündelung von Kommunikationsbedingungen in den Diskurstraditionen erklärt auch, weshalb das Modell darauf verzichtet, eine interne Relationierung der Parameter vorzunehmen: Die Parameter und Parameterwerte müssen offen für äußerst variable Zusammenstellungen und ganz unterschiedliche Relevanzsetzungen sein. In dieser Hinsicht ist die Formulierung im Modell und die theoretische Herleitung also durchaus konsistent. Auch die Vollständigkeit der Parameter stellt sich vor dem Hintergrund einer diskurstraditionellen Argumentation als weniger dramatisch dar: Es ist klar, dass die Parameter nur eine Auswahl aus den Gegebenheiten darstellen, die für die Definition einer Diskurstradition notwendig sind. Ausgewählt wurden Parameter, die Koch und Oesterreicher als unmittelbar relevant für die „Formulierungsaufgabe“ (Koch/Oesterreicher 2011: 6), also die sprachliche Form der Kommunikate einstufen. Beispielsweise gibt es keinen Versuch, die thematische Prägung der Textsorten, etwa die Zuordnung zu bestimmten gesellschaftlichen Handlungsbereichen oder die rhetorische Funktionalität, die argumentative, narrative, appellative, persuasive Ausrichtung, in das Modell zu integrieren. Vollständig ist das Modell dagegen in der Hinsicht, dass es sozial-emotive Parameter integriert. Die kognitiven Dimensionen der Kommunikation und die sozialen werden bewusst zusammen modelliert. Denn Kommunikation kann nicht a-sozial konzipiert werden. Die Verschiebung der sozialen Relationen zwischen den Interaktant*innen durch die Adressierung eines „generalisierten Anderen“ (Maas 2016: 98) kann eine Konsequenz sozialer Fremdheit sein, sie kann aber auch das ‚Aussetzen‘ der interpersonalen Dimension in sachbezogener Kommunikation signalisieren. Umgekehrt können die sprachlichen Strategien der Distanz soziale Fremdheit erzeugen, ebenso wie die mit den distanzsprachlichen Situationen assoziierten einzelsprachlichen Varietäten. Die basalen sozialen Relationen sind immer gegeben, und nur durch ihre Integration kann ein vollständiges, nicht reduktives Modell der Kommunikation gesichert werden. Jede Auslagerung der sozial-emotiven Aspekte aus dem Nähe-Distanz-Kontinuum ist eine Verkürzung und damit Verfälschung des Modells.
Wir schlagen also vor, die relativ lose Aufschlüsselung der Parameter der situativen Variation zu belassen. Wir plädieren aber dafür, den Aspekt der Verschränkung von Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien im kommunikativen Prozess zu fokussieren und, anders als das Nähe-Distanz-Kontinuum von Koch und Oesterreicher, die Modellierung zu einer „prozessrealistischeren Modellierung der Sprech- und Verstehensvorgänge“ (Knobloch 2016: 79) zu vereindeutigen. Deshalb stellen wir der Ebene der Kommunikationsbedingungen eine Ebene voran, die die zentrale Rolle der Textsorte/Gattung/Diskurstradition für die Kommunikation herausstellt und die Unter- bzw. Einordnung der einzelnen situativen Parameter in die übergeordnete Situationsdefinition klar zum Ausdruck bringt (Abb. 1). Der Vorschlag, das Kontinuum der Kommunikationsbedingungen als Auffächerung eines Situationsentwurfs zu verstehen und den holistisch zu verstehenden Gesamtentwurf einem ausschließlich an einzelnen Parametern orientierten Zugriff vorzuordnen, präzisiert, so meinen wir, die Gedanken von Peter Koch und Wulf Oesterreicher und denkt das Modell in eine Richtung weiter, die es bereits eingeschlagen hat. Weiterhin schlagen wir vor, die Ebene des Situationsentwurfs auch dazu zu nutzen, die Variabilität der Zielsetzungen kommunikativen Handelns in ihrer Relevanz für die konzeptionelle Variation zu erfassen. Bei der Benennung der unseres Erachtens relevanten Parameter greifen wir auf Begriffspaare zurück, die bereits vorgeschlagen wurden und die unseres Erachtens die Variation der Funktionen der kommunikativen Akte sichtbar machen können.3 Es ist nicht sicher, ob der Vorschlag, funktional-inhaltliche Momente in das Nähe-Distanz-Kontinuum einzubeziehen, geteilt worden wäre. Die Schwierigkeiten, die sich dem Nähe-Distanz-Kontinuum entgegenstellen, sobald es auf literarische Texte angewendet wird, zeigen aber, dass Faktoren wie Fiktionalität bzw. Literarizität und die durch sie sanktionierten Vervielfachungen der Sprecher*inneninstanzen und imaginierten kommunikativen Konstellationen einen unmittelbaren Einfluss auf die Gestaltungsmöglichkeiten haben. Für das Voranstellen einer auf die Funktionalität der Kommunikate ausgerichteten Ebene spricht außerdem, dass auch beim Schreiben für eine mündlich-auditive Rezeption bzw. beim schriftlichen Protokollieren einer mündlichen Interaktion eine Art Verdoppelung der situativen Bedingungen durch die Imagination neuer, anderer Bedingungen gegeben ist, diese Verdoppelung sich aber allein aus der aktuellen kommunikativen Zielsetzung ableiten lässt.