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2 Der Purismusbegriff in der frühen europäischen Sprach- und Kulturgeschichte
ОглавлениеDie Bedeutung des Purismus für die europäische Sprach- und Kulturgeschichte kann kaum überschätzt werden und stellt – in verschiedenen historischen Phasen unterschiedlich stark, aber im Grunde bis heute – eine ideologische Konstante der europäischen Kultur dar (siehe Dessì Schmid/Hafner 2014; siehe Dessì Schmid 2017). Zunächst möchte ich den Blick auf einige wenige frühe Momentaufnahmen seiner Entwicklung richten.1
Das ästhetische Ideal der ‚Reinheit der Sprache‘ (puritas linguae) findet seinen Ursprung bereits in der antiken Rhetorik innerhalb der Stilistik (der elocutio) und gelangt dann als zentraler Bereich einer rhetorischen Ästhetik und Poetik (der Lehre der virtutes elocutionis) über das Mittelalter bis in die Neuzeit, erfährt dort aber – durch seine Rückkopplung mit den frühneuzeitlichen Normierungsbestrebungen der Volkssprachen und ihrer Literaturen – eine radikale Transformation.
Dieses Ideal geht zunächst von der Normierung des Lateinischen in den Debatten um den Ciceronianismus aus, einige zentrale Argumentationslinien dieser Debatte werden aber bald auf die Volkssprachen übertragen (man denke hier an Toffanins (1940) erfolgreiche Formel des umanesimo volgare) – zuerst auf das Italienische, sehr bald danach auf das Französische. Wenn wir davon ausgehen, dass Normierung und Normalisierung (siehe Haugen 1983) Prozesse sind, welche zwei unterschiedliche Entwicklungsbereiche betreffen (die Gesellschaft, die Sprecher einerseits und die Sprache selbst andererseits), können wir sagen, dass die Selektion der Basis der Norm und ihre Extension (die zwei Phasen der Normierung) die Sprecher betreffende Fragen sind – Sprechergemeinschaften wählen entweder bewusst (qualitativ) oder unbewusst (‚natürlich‘) das Normmodell aus und verwenden dieses in immer mehr Kontexten. Hingegen sind die erste Fixierung der Basis der Norm, ihre Kodifizierung durch Grammatiken und Wörterbücher ebenso wie ihre Elaboration (die zwei Phasen der Normalisierung) Fragen, die die Sprache als System betreffen – wobei mit ‚Elaboration‘ die weiteren Perfektionierungen der Norm gemeint sind, die durch neu übernommene Funktionen und durch ihr wachsendes Prestige erforderlich werden, etwa durch Regeln und Verfahren, die mit dem Gebrauch in verschiedenen Diskurstraditionen verbunden sind.2
Programmatisch spiegelt sich diese nach ‚Reinheit‘ strebende Haltung in der Forderung nach einem präskriptiven Ideal von Sprache auf verschiedenen Ebenen wider, aus der in verschiedenen Epochen unterschiedliche Praktiken der ‚Sprachreinigung‘ abgeleitet werden. Gemein ist all diesen Praktiken das Ziel der Reinigung der eigenen Sprache von fremden Elementen. Mit ‚eigen‘ und ‚fremd‘ ist allerdings Unterschiedliches, auch Widersprüchliches gemeint und wird – unter dem Banner der Reinheit der Sprache – vertreten oder bekämpft. Wenn ‚rein‘ ordentlich und perfekt, somit nicht vergänglich und nicht verderblich bedeutet, wenn ‚rein‘ mit ästhetisch vollkommen, klar glänzend und zierlich, mit natürlich und wahr, aber auch mit alt, würdig und authentisch assoziiert wird, so ist Purist, wer gegen Neologismen und jede niedrig markierte diastratische Sprachvarietät ins Feld zieht, aber auch wer sich Archaismen, Dialektismen oder im Allgemeinen Regionalismen widersetzt – wenn sich zu Letzterem auch illustre und extrem erfolgreiche Ausnahmen zeigen, denkt man an das radikal archaisierende Modell des Fiorentino trecentesco (siehe Dessì Schmid 2017).
Die Forschung hat sich wiederholt um eine Abgrenzung puristischer gegenüber klassizistischen oder (was zum Beispiel für Deutschland besonders wichtig ist) allgemein sprachpatriotischen Programmatiken bemüht. Allerdings hat sie – und das ist erstaunlich – die Vielfalt der Ausprägungen des europäischen Purismus äußerst selten betont. Zu einem tieferen Verständnis historischer, sprachlicher und kultureller Realitäten kann allerdings nur eine differenzierte Betrachtung führen, die sich von keiner „invertierten Teleologie“ (Oesterreicher 2007: 16) irreführen lässt. Notwendig ist also eine Betrachtung, welche die – wie Wulf Oesterreicher sie nennt – ‚Erbsünde‘ der traditionellen Sprachgeschichtsschreibung nicht begeht und sich also davor hütet, einzelne Entwicklungen nur aus der Perspektive der letztlich erfolgreichen zu betrachten, isoliert und aus ihren Kontexten gerissen, eine Betrachtung also, die weder die Pluralität der Nebenpfade der Sprachgeschichte vernachlässigt, noch nur an wohlbekannten Orten sucht. Es ist daher wesentlich, den Purismus – besonders in seiner Ausprägung in der Frühen Neuzeit – als offenes Neben- und Gegeneinander einer Vielfalt von Purismen zu beschreiben, die sich in einem Spannungsfeld von disziplinären Spezialdiskursen – der Grammatik, Rhetorik, Poetik – und gesellschaftlichen Praktiken und Perspektiven entfaltet.3
‚Reinheit der Sprache‘ konkretisiert sich nämlich in der Frühen Neuzeit in einer Fülle sozialer Praktiken, erreicht eine Vielzahl historischer Akteure und wird zum Schlüsselbegriff europäischer Spracharbeit und Sprachpolitik – eben das war zuvor mit „radikaler Transformation“ des ästhetischen Ideals der ‚Reinheit der Sprache‘ gemeint. Denn aus der Forderung nach ‚reiner Sprache‘ werden – in dem und durch den dafür zentralen Prozess der Normierung der europäischen Volkssprachen und ihrer Literaturen – Praktiken der ‚Sprachreinigung‘ abgeleitet, die institutionell (z.B. durch Höfe, Verwaltung, Schulen und ganz besonders durch Sprachakademien) umgesetzt werden. Der Purismus erlebt eine Ausweitung seiner Funktions- und Wirkungsbereiche, dringt in alle Bereiche des Sozialen ein und wird zum kulturellen Diskurs, der seine Dringlichkeit aus theologischen, philosophischen, soziologischen und politischen Impulsen bezieht. So erweist es sich einerseits als ein ziemlich kompliziertes Unterfangen, die Spuren des Purismus zu verfolgen, aber gerade diese Suche erlaubt es andererseits auch, die inter- bzw. transkulturelle Dimension der europäischen Sprachenfrage in ihren ideen-, literatur- und sozialgeschichtlichen Bedingungen in einer genuin geisteswissenschaftlichen Perspektive nachzuvollziehen.