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5 Konzeption und die Grenzen der Linguistik

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Wie verhält es sich nun mit der Ausgangsfrage, ob die kommunikative Variation kontinual modelliert werden sollte, als eine Landschaft der sanften Übergänge, oder doch eher so, dass an manchen Stellen Abgründe oder Gräben sichtbar werden? Die Tatsache, dass wir die mediale Variation in das Nähe-Distanz-Kontinuum integriert haben, spricht dafür, dass wir die Auffassung teilen, dass es entscheidende Brüche in der kommunikativen Landschaft geben kann. Wir teilen aber nicht die Auffassung, dass die von den Gräben abgegrenzten Räume isoliert voneinander betrachtet werden sollten. Dies gilt auch für die beiden Plateaus, die durch die räumliche und zeitliche Ko-Präsenz der Interaktant*innen bzw. durch deren Fehlen voneinander getrennt sind. Nicht so sehr deshalb, weil beide intern wieder in Räume gegliedert sind, die konzeptionell variieren und deshalb jeder Gedanke an eine kommunikative Homogenität auszuschließen ist. Die Gesprochene-Sprache-Forschung vergisst dies manchmal, weil sie sich (fast) ausschließlich auf den Bereich der phonischen Nähekommunikation konzentriert. Aber auch dann, wenn mediale und konzeptionelle Faktoren zusammengenommen werden, ergeben sich keine Räume, deren fundamentale Andersartigkeit kommunikative und sprachliche Regeln schafft, die nur für diese, nicht aber für die anderen, gültig wären. Denn es gibt Brücken zwischen den Räumen, die die Kontinuität über die medialen und konzeptionellen Differenzen hinweg sicherstellen.

Vielleicht sollten wir dennoch zuerst von den Gräben und den Abgründen sprechen. Denn es könnte der Eindruck entstehen, die Metapher der Brücken sei nichts anderes als der Versuch, die Unterschiede zwischen den Räumen herabzuspielen und die Vorstellung einer kommunikativen Landschaft zu privilegieren, die nur sanfte Übergänge und allseitige freie Zugangsmöglichkeiten kennt. Deshalb hier noch einmal mit aller Klarheit: Mediale Differenzen schaffen unabhängig von ihrer jeweiligen konzeptionellen Überformung Unterschiede im Formulieren, im Grad der Sprachlichkeit der Kommunikation und in der Zahl und Art der möglichen semiotischen Dimensionen, die keine konzeptionelle Variation aufheben oder ausgleichen kann. In der physisch geteilten Sprechsituation ist die sprachliche Kommunikation eingebettet in die Semiotik, genauer in die Indexikalität der Stimme und in die Kommunikation über körperliche Gesten. Die Nähekommunikation kann daher, wenn sie phonisch ist, sprachlich Inhalte übermitteln, aber nicht ohne die Interpretationsanweisungen der übrigen Modi, und da die übrigen Modi schwerer zu kontrollieren sind als unsere sprachlichen Äußerungen, sind sie aus der Perspektive der Rezipient*innen womöglich die wichtigeren. Auch die Distanzkommunikation kann den multimedialen Raum und die Präsenz der Körper nicht zurücklassen. Kontrollmechanismen sind notwendig, um die mimischen und gestischen Indizien in Situationen der sozialen Distanz zu verringern. Auch ein gemeinsam akzeptiertes Neutralitätsgebot ist denkbar, das in sachbezogener Kommunikation dafür sorgt, dass die Körperlichkeit der Kommunikationspartner*innen keine Rolle spielen sollte. Aber ist dies in letzter Konsequenz wirklich denkbar?

Mit der Schrift wiederum geht die face-to-face-Situation und mit ihr gehen die medialen Dispositive der Phonie verloren, unabhängig von der Konzeption. Es gehen also alle kommunikativen Modi außer der Sprache und aus der Lautsprache der Laut, also die Prosodie annähernd unweigerlich verloren. Wir könnten dies als die Entkörperlichung (das dis-embodiment) der Sprache bezeichnen. Lautsprache ist unausweichlich an die Körperlichkeit ihrer Produzent*innen gebunden, sie bringt in der Klangqualität der Stimme die Individualität des Körpers, in der Prosodie die Stimmung der Produzent*innen zum Ausdruck, welche sich parallel in deren Gesten manifestiert. Die Domäne der Körperlichkeit und damit auch die Authentifizierbarkeit des Kommunikats über die parallelen Modi sind in schriftlosen Kulturen auch in rituellem Sprechen gegeben. Erst die Schrift schaltet sie ab. Die Sprache sucht sich nach ihrer Entkörperlichung neue Körper – die Stele, die Tafel, den Körper des Buchs. Sie findet in den visuellen Dimensionen des graphischen Plateaus neue analoge Ausdrucksmöglichkeiten. Aber es sind nicht mehr die Körper der Kommunizierenden, die die sprachlichen Kommunikate stützen und interpretieren, und die neuen graphischen (und bildlichen) Umgebungen der sprachlichen Kommunikate auf dem graphischen Plateau sind weit eher kontrollierbar als es die körperlichen waren.

Nicht weniger einschneidend als die Entkörperlichung ist die damit einhergehende offline-Produktion. Die Produzent*innen eines Schriftstücks haben alle Zeit der Welt zu formulieren, können ihre Formulierungen beliebig revidieren. Die Kognition kann die Emotion weithin kontrollieren, und ihre Arbeit bleibt für die Rezipient*innen unsichtbar. Aber die Produzierenden der Textstücke haben in keinem einzigen Modus mehr eine Rückmeldung über das, was in den Rezipierenden auf der Basis des Kommunikats entsteht. Sie können die Rezeption imaginieren und sich an diesem Entwurf orientieren. Aber die Möglichkeiten, sich der geteilten Aufmerksamkeit, der gemeinsamen Ausrichtung auf das kommunikative Anliegen, der emotionalen Zu- oder Abwendung der Partner*innen zu versichern, fehlen. Kommunikation unter den Bedingungen der zeiträumlichen Trennung ist anders, und man sollte diese Andersartigkeit nicht in einem der konzeptionellen Parameter verstecken, sondern sie voll entfalten. Auch, damit sichtbar werden kann, dass die medialen Konstellationen niemals alleine wirken, sondern immer nur im Verbund mit eben diesen Parametern.

Vor diesem Hintergrund ist der Gedanke an eine sanfte, gering konturierte kommunikative Landschaft von vornherein ausgeschlossen. Wenn wir eine Modellierung des Gesamts aller Kommunikate vorschlagen müssten, wäre es ein Modell, das die Vielförmigkeit herausstellt und die Unterschiede nicht verdeckt. Texttypolog*innen und Gattungstheoretiker*innen wissen, dass die Gesamtheit der kommunikativen Ereignisse niemals, auch nicht auf der Ebene der gesellschaftlich geronnenen Muster und Vorerwartungen, umfassend und abschließend geordnet werden kann. Die Vielfalt der Einflussfaktoren ist zu groß, und die daran geknüpfte Variation ist allenfalls gerichtet, niemals aber linear. Es ist besser, Plateaus, strukturierte Räume der Variation, anzusetzen, die durchaus klare, auch mediale Grenzziehungen aufweisen können. Wichtig ist allein der Gedanke, dass die mediale Variation nicht isoliert, sondern immer im Zusammenhang mit den konzeptionellen Faktoren gesehen werden muss und dass kein vollständiger Bruch zwischen den einzelnen kommunikativen Domänen angesetzt werden darf. Es ist ein Kontinuum im schwachen Sinne des Wortes, eine typisierbare, aber allenfalls um prototypische Zentren herum zu ordnende Variation, die aber gemeinsam bezogen bleibt auf die sprachliche Kommunikation, die also den Raum des Sprachlichen nie vollständig verlässt.

Denn die Sprache ist es, die die Verbindung zwischen den einzelnen Plateaus sichert. Dies gilt von Anfang an, vor jeder medialen Differenzierung der Kommunikation durch die kulturell-technische Entwicklung und über die konzeptionellen Differenzen hinweg. Sprache ist immer schon situationstranszendierend; sie ist als Zeichensystem immer situationsentbunden und immer rational in dem Sinne, dass sie begrifflich ist, digital und nicht analog. Menschliche Sprache ist von sich aus Distanz, Distanz zunächst einmal der Sprecher*innen von sich selbst. Für Handlungsanweisungen brauchen wir sie nicht, der Warnschrei ist älter als die Sprache, in authentischer Nähe kommen wir auch ohne Sprache zurecht (siehe Humboldt 1973: 5). Wir entbinden uns selbst im Sprechen aus der Situation des Sprechens. Menschliche Sprache ist Distanz auch deshalb, weil jede Kommunikation, auch die nicht-sprachliche Kommunikation, damit zurechtkommen muss, dass ihr Erfolg niemals gesichert ist. Nur wir selbst verstehen sicher, was wir meinen und was wir sagen – auch wenn wir selbst nicht mehr damit einverstanden sind, sobald wir es gesagt haben. Die anderen konstruieren einen Sinn auf der Basis ihrer eigenen kognitiven und emotiven Systeme, und dieser Prozess ist uns als Produzent*innen vollständig entzogen. In der face-to-face-Situation bauen wir auf die Zeichen der Bereitschaft zur Kommunikation, die uns das Gegenüber gibt (oder nicht gibt). Wir nutzen die (körperliche) Nähe, die wir gerade jetzt, aber keineswegs immer zum Gegenüber haben, um mit ihm oder ihr Sinn zu konstruieren. Wenn wir schreiben, konstruieren wir unsere Kommunikate mit Sorgfalt; weil wir die Distanz zum anderen für aufhebbar halten durch die Kommunikation, die wir betreiben.

Auch das sprachliche Repertoire ermöglicht das Hin und Her zwischen den medialen Räumen. Wir finden auf beiden Seiten des Grabens nicht nur identische Signifikanten, sondern auch identische Kollokationen und Konstruktionen. Die sprachlichen Formen werden in der phonischen Nähekommunikation auf verschiedenen Ebenen nicht unbedingt vollständig ausgeführt, sie erscheinen als fragmentarisch und das Nähesprechen daher als ein Konglomerat von Fragmenten. Nähe und Distanz – und Phonie und Graphie – können außerdem eigene Wortformen und Konstruktionen entwickeln. Aber der Überschneidungsbereich ist doch unübersehbar groß. Wir würden für phonische Nähe und schriftliche Distanz, genauer für deren Überschneidungsbereich, daher in jedem Fall eine einzige Grammatik postulieren.1 Die Erfindung der Schrift und andere mediale Umbrüche schaffen keine neuen Sprachen, sie schaffen nur zusätzliche, neue Formen, die auf dem bisherigen Repertoire aufruhen (siehe Tophinke 2016: 307). Dies gilt für den Distanzbereich, aber auch für die kommunikative Nähe. Der Chat hat die Smileys (Vorgänger der heutigen Emojis) entstehen lassen. Smileys sind so etwas wie Bilder von Gesten. Handelt es sich hier also wirklich um etwas, das sich, semiotisch und pragmatisch, fundamental von den Gesten, der Mimik, den Bewegungen unterscheidet, die phonische Nähekommunikation schon immer prägen? Außer der Kommunikationsform, also außer dem Chat, ist nichts neu am Chat.2

Hinsichtlich der Frage, ob es im Anschluss an die mediale Variation einen entscheidenden, fundamentalen Bruch für das Sprachliche, das Formulieren und das Verstehen gibt, sind wir also auf der Seite von Koch und Oesterreicher und setzen mit ihnen ein – im strengen Sinne des Wortes – Kontinuum der Variation des sprachlichen Handelns und der sprachlichen Formen zwischen den Polen der Nähe und der Distanz an. Wir gehen davon aus, dass auch dann, wenn raumzeitliche Verschränkung, maximale Vertrautheit und maximale Freiheit der kommunikativen Entwicklung die Fokussierung des Sprachlichen weder sinnvoll noch notwendig erscheinen lassen, Sprache bereits unter genau den Bedingungen funktioniert, die auch für die Distanzkommunikation gelten. Sprache funktioniert in der kommunikativen Nähe zwar insofern anders, als ihr Anteil an der Kommunikation insgesamt geringer ist, weil sie anders eingesetzt wird, weil indexikalischer Zeichengebrauch über den symbolischen dominiert. Der extremen Nähekommunikation eine noch nicht propositionale, weil nur Zeigfeld bezogene ‚Sprache‘ zuzuschreiben und zu behaupten, dass erst die Schrift sprachliche Zeichen bewusst und manipulierbar werden lässt (siehe Knobloch 2016: 84), verfehlt jedoch den Gegenstand. Sprache ist nicht an Exteriorisierung gebunden und insofern auch nicht an einen bestimmten Exteriorisierungstyp. Sprachliche Strukturen sind im Bewusstsein vor jeder Exteriorisierung gegeben oder sind jedenfalls für das Bewusstsein unmittelbar zugänglich (siehe Humboldt 1973: 31, 33, 37). Das Bewusstsein symbolisiert seine Inhalte für die anderen und für sich selbst durch die Sprache, aber nicht erst im Sprechen. Schreiben eröffnet also auch die Möglichkeit der Kommunikation mit sich selbst, des effektiveren Denkens, weil die Exteriorisierung die Reflexion intensiver und genauer machen kann. Die Distanz, hier die kognitive Distanz, ist in der Sprache schon immer angelegt. Es ist falsch, die geringere Relevanz des Sprachlichen in der extremen Nähekommunikation so auszudeuten, als sei es eine andere Sprache – eine Vorsprache? –, die hier zum Einsatz kommt.

Wir haben unsere Revision des Nähe-Distanz-Kontinuums darauf konzentriert, nur einen Teilaspekt des Modells weiterzuentwickeln, den Aspekt der Verschränkung von Kommunikationssituation, konzeptioneller Variation und Medialität. Wir haben damit die Kritik an der – aus unserer Sicht gegebenen – Amedialität bzw. an der – vermeintlichen – Vagheit der kommunikativen Parameter aufgenommen. Wir müssten an dieser Stelle die ‚Modularisierung‘ des Nähe-Distanz-Kontinuums noch weiter fortsetzen. Wir müssten zeigen, über welche Vermittlungsstufen unser klar auf das (Einzel-)Kommunikat ausgerichtete Modell mit dem Gedanken des ontogenetischen und phylogenetischen Variationskontinuums zwischen Nähe- und Distanzsprachlichkeit verknüpft werden kann. Dies umso mehr, als wir meinen, dass genau dieser Gedanke der eigentliche Bezugspunkt des Modells von Peter Koch und Wulf Oesterreicher ist.3 Das Nähe-Distanz-Kontinuum schwankt bekanntlich zwischen dem Ziel, Kommunikate bzw. Diskurstraditionen zwischen Nähe und Distanz zu verorten und dem Anliegen, einen Erklärungsrahmen für die Entstehung und Entwicklung konzeptioneller Variation zu entwickeln. Für das Einordnen von Diskurstraditionen ist die Betonung des Kontinualen der konzeptionellen Variation oft gar nicht zielführend, manchmal sogar verunklarend. Für die Frage, wie und warum Schrift zum Ausbau der Distanzsprachlichkeit führt, welche sozialen Bedingungen gegeben sein müssen, damit Situationsentbindung, Themenzentrierung, emotionale Distanzierung greifen können und die Bedingungen für ein Sprechen oder Schreiben entstehen, das das Begriffliche und die Syntax zur Verdichtung des Gesagten und Gemeinten nutzt, ist der Gedanke des Kontinuums dagegen entscheidend.

Sind die Begriffe von Nähe und Distanz also insgesamt erhellend oder verschalten sie miteinander, was nicht zusammengehört? Bezogen auf die prozessualen Aspekte der Kommunikation, der in der geteilten Situation und der über den Abgrund zwischen zwei Situationen, erscheinen Nähe und Distanz zunächst in gewissem Sinn deskriptiv. Hier sind sie nicht von vornherein Metaphern. Soziale Nähe ist an prozessuale Nähe in keiner Form gebunden, wenn sie uns in prozessualer Nähe auch nicht überraschen kann. Soziale Nähe ist bereits Metapher. Mit der Entfernung aus prozessualer Nähe ist aber in jedem Fall eine soziale Entfernung verbunden insofern, als die Gewissheit der raum-zeitlichen Koinzidenz der Körper entfällt. Diese Entfernung gilt es womöglich zu kompensieren, je nach Interesse, aber dafür bleiben dann vor allem die Mittel der Sprache, also der Kognition. In prozessualer Nähe ist soziale Distanz natürlich auch herstellbar, auch soziale Distanz gehört zu unseren möglichen Zielen. Soziale Distanz herzustellen bedeutet gerade, die raum-zeitliche Koinzidenz der Körper zu limitieren, und das gelingt am besten durch die Kontrolle körperlicher Manifestationen, durch Sprache, durch Kognition. Unter der Bedingung sozialer Fremdheit tendieren wir also dazu, die geteilte Situation mental bereits zu verlassen. Wir setzen auf Kognition – wir sprechen, als wären wir nicht da. Wie oben ausgeführt, kann kognitive Distanz zur gegebenen Situation ferner auch unser eigentliches Ziel sein. Wir befassen uns gerade nicht mit der Fliege über unserem Bildschirm, sondern mit der Relativitäts- oder mit jeder anderen Theorie, wir suchen soziale Distanz und formulieren für ein generalized other. Distanz ist hier selbstverständlich Metapher, aber unsere Entfernung vom konkreten Gegenüber und aus der Situation, in der wir uns befinden, korrelieren. Körper und Blick und Stimme sind jetzt abgeschaltet. Auch diese Zusammenhänge, die zwischen sozialer Fremdheit und kognitiver Distanz zu den Gegenständen sollen hier nur angedeutet sein. Nähe und Distanz sind mehr als eine Metapher. Sie beschreiben in re korrelierte Dimensionen der Kommunikation.

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