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Die Alternative der Verlässlichkeit
ОглавлениеAuch wenn die Philosophie keinen direkten Beitrag zur Lösung der Probleme, die sich mit der Corona-Krise verbinden, leisten kann, denke ich, dass sich die philosophische Reflexion auf Vertrauen und Misstrauen in Zeiten von Corona für eine indirektere und längerfristige Strategie fruchtbar machen lässt, die das Potenzial hat, unser demokratisches Miteinander auch über die Zeit der Pandemie hinaus stabiler zu machen. Der Vorschlag, den ich an dieser Stelle abschließend skizzieren möchte, ist ein Aufruf zu begrifflicher Behutsamkeit, die im besten Fall zu einem etwas nüchterneren Umgang mit Vertrauen in sozialpolitischen Kontexten führen sollte.
Vertrauen wird typischerweise als eine emotional aufgeladene Einstellung verstanden, die wir Personen gegenüber einnehmen, mit denen wir eine Geschichte direkter Interaktionen teilen. Die angestammte Sphäre von Vertrauen stellen über die Zeit bestehende persönliche Beziehungen wie Freundschaften oder Liebesbeziehungen dar, möglicherweise auch weniger intime Beziehungen mit persönlichem Charakter wie etwa unser Verhältnis zur langjährigen Hausärztin oder dem Bäcker um die Ecke. In solchen Zusammenhängen können wir in gewisser Hinsicht nichts dafür, dass wir unseren Beziehungspartnern vertrauen – wir tun es einfach, genauso wie wir anderen Personen einfach nicht vertrauen, obwohl sie einen vertrauenswürdigen Eindruck machen und es möglicherweise auch sind. Vertrauen stellt sich in solchen Kontexten einfach ein oder eben nicht. Wird unser Vertrauen enttäuscht, etwa dann, wenn ein Freund ein ihm anvertrautes Geheimnis ausplaudert, ist es zudem angebracht, starke emotionale Reaktionen an den Tag zu legen: Wir grollen dann, fühlen uns betrogen und hintergangen. Es ist sehr schwer, in solchen Situationen Vertrauen wiederherzustellen, und nicht selten führen Vertrauensbrüche dieser Art zum Ende der jeweiligen Beziehung.
Davon ist ein Begriff zu unterscheiden, für den man zwar im Alltag oft das Vokabular des Vertrauens verwendet, der in der philosophischen Diskussion aber in den meisten Fällen mithilfe des Verbs ›sich verlassen‹ bezeichnet wird. Wenn wir uns auf jemanden lediglich verlassen, dann gehen wir davon aus, dass diese Person in Zukunft etwas tun wird, das wir schon heute in unsere Pläne einbauen können: So kann ich mich darauf verlassen, dass die anderen Verkehrsteilnehmerinnen keine waghalsigen Fahrmanöver ausführen werden, weil ich unterstellen kann, dass sie ebenso wie ich ein Interesse daran haben, mit heiler Haut an ihr Ziel zu kommen; oder ich kann mich darauf verlassen, dass einer der Hausbewohner die geleerten Mülltonnen wieder an ihren Ort rollen wird, weil ich beobachten konnte, dass er dies in den letzten Jahren Woche für Woche getan hat. Von Vertrauen in dem obigen Sinn kann hier keine Rede sein: Ob ich mich auch in Zukunft darauf verlassen werde, dass jemand die Mülltonnen zurückstellen wird oder ob ich die Dinge doch lieber selbst in die Hand nehme, ist eine Frage meiner Entscheidung. Auch kann ich in der Regel Gründe für meine Vorhersage benennen und diese Gründe immer wieder einer kritischen Überprüfung unterziehen. Schließlich werde ich mich in dem Fall, in dem meine Vorhersage doch nicht eintritt, nicht verletzt oder hintergangen fühlen wie im Fall von Vertrauensbrüchen: Es wäre absurd, wenn ich mich von dem Menschen, der sich ansonsten um die Mülltonnen gekümmert hat, hintergangen fühlen würde, sollte er eines Tages keine Lust mehr darauf haben, die Tonnen zurückzustellen.
Die Pathologien des Misstrauens in Zeiten von Corona lassen die Vermutung aufkommen, dass einige von uns in unserem Verhältnis zu politischen Repräsentanten, unseren Mitbürgerinnen, aber auch zu den Experten aus der Wissenschaft zu sehr dem emotional und normativ aufgeladenen Paradigma des Vertrauens verhaftet sind. Wer in einer Ehe hintergangen wurde, muss sich für die Unfähigkeit zu vertrauen nicht rechtfertigen. Einige der demonstrierenden Corona-Skeptiker benehmen sich wie solche verletzten Eheleute, die den Dialog mit dem Ehepartner abbrechen, weil sie keine gemeinsame Sprache mehr finden können. Politikern könne man nicht vertrauen, heißt es dann, und sachliche Kritik habe keinen Sinn, weil ›die da oben‹ ohnehin tun werden, was sie wollen. Das exaltierte Misstrauen von Corona-Skeptikern mutiert dann schnell zu blindem Vertrauen in die Behauptungen von Quacksalbern, Ex-Prominenten und Rechtspopulisten, die im Grunde kein Interesse daran haben, sich mit dem Rest der Gesellschaft auf konstruktive Weise zu verständigen. Genau das sollte in einer demokratischen Gemeinschaft aber nie passieren, weil Demokratie auf Diskurs angewiesen ist, und dieser Diskurs bestimmte Mindeststandards für die Qualität von Argumenten und die Wahrheit empirischer Behauptungen voraussetzt.
Wer sich weigert, soziale und politische Phänomene durch die Linse des Vertrauens zu betrachten, ist zumindest teilweise vor den beschriebenen Gefahren gefeit. Sich stattdessen an der Kategorie der Verlässlichkeit zu orientieren, ist hierbei nicht lediglich ein begrifflicher Trick, sondern stellt eine echte Alternative zum Vertrauen dar. Wer sich auf etwas verlässt, macht eine Annahme über die Zukunft, die sich bewahrheitet oder eben nicht. Wenn sie sich nicht bewahrheitet, hat er keinen Grund, in einem moralisch relevanten Sinn enttäuscht oder empört zu sein – anders als derjenige, dessen Vertrauen missbraucht worden ist. Die immer wieder kritisch-prüfende, flexible und gewissermaßen nicht zu verletzende Haltung des Sich-Verlassens nehmen wir ohne Mühe in einer ganzen Reihe von Interaktionskontexten ein, und wir sollten sie meines Erachtens auch als die Standardeinstellung im politischen Kontext betrachten. Entsprechend sollte es uns in der Corona-Krise primär darum gehen, Verlässlichkeit herzustellen, anstatt die passive und emotional aufgeladene Haltung des Vertrauens anzustreben.
Die Struktur der demokratischen Entscheidungsfindung stellt dabei bereits Mechanismen bereit, die auf die Sicherung einer solchen Verlässlichkeit abzielen. So wird etwa das Handeln von politischen Entscheidungsträgern zu einem wesentlichen Teil dadurch verlässlich gemacht, dass sie in regelmäßigen Abständen abgewählt werden können. Ein anderer gut etablierter Mechanismus, der uns dabei hilft, uns auf unsere Politikerinnen, aber auch auf die Arbeit von Wissenschaftlern zu verlassen, besteht in der kritischen Aufmerksamkeit, die beiden Personengruppen von Seiten erfahrener und gut informierter Journalistinnen zukommt. Diese Kontrollfunktion der Medien ist zentral für unser demokratisches Miteinander, hat aber nicht viel mit Vertrauen zu tun, das sich im Gegensatz zum Sich-Verlassen nicht gut mit Überwachung und skeptischen Nachfragen verträgt.
Neben diesen zwei klassischen Weisen, Verlässlichkeit herzustellen, steht uns eine ganze Reihe anderer, zum Teil flexibel an die jeweilige Situation anzupassender Maßnahmen zur Verfügung. Sollte sich etwa herausstellen, dass Biotech-Unternehmen nicht sorgfältig genug bei der Prüfung potenzieller Impfstoffe vorgehen, können wir die Auflagen für eine Zulassung erhöhen. Sollte sich herausstellen, dass das Gegenteil der Fall ist und wir ihnen mehr Flexibilität lassen müssen, können bestehende Regulierungen wieder zurückgefahren werden. Über das Für und Wider solcher Maßnahmen sollte sachlich diskutiert werden. Die Entscheidungen, die letztlich gefällt werden, haben dabei selten einen definitiven Charakter und müssen sich immer neu an den faktischen Gegebenheiten orientieren. Das ist gerade das Schöne an der Orientierung an Verlässlichkeit: Wir sind nicht gezwungen, uns ein für alle Mal und pauschal darauf festzulegen, dass jemand Böses im Schilde führt, und können stattdessen versuchen, eine unsichere Situation aktiv mitzugestalten.
Es ist nicht zuletzt auch die Aufgabe jedes einzelnen Bürgers, im Rahmen seiner Möglichkeiten für Verlässlichkeit zu sorgen. In der Pandemie kann das geschehen, indem man sich etwa die Mühe macht, sich im Hinblick auf konkrete Fragestellungen, die mit Corona zu tun haben, möglichst gut zu informieren. In einem weiteren Schritt kann man die auf diese Weise erworbene Kompetenz auf der Ebene der Kommunalpolitik, in öffentlichen Debatten oder auch nur bei Diskussionen im Freundes- und Familienkreis zum Einsatz bringen, um auf konstruktive Weise darüber zu streiten, wie wir als demokratische Gemeinschaft mit der Krise umgehen sollten. Politikerinnen, die mit mündigen und informierten Bürgern rechnen müssen, werden typischerweise verlässlicher sein als Entscheidungsträger, die von ›Wutbürgern‹ umgeben sind. Tatsächlich wird die hier angedeutete Forderung vielerorts bereits erfüllt: Millionen von Bürgerinnen nehmen angesichts der Krise im Großen wie im Kleinen die Haltung informierter und kritischer Diskussionsteilnehmer ein, ohne sich von den emotionalisierten Appellen selbsternannter Querdenker beeindrucken zu lassen. Sie arbeiten auf diese Weise an der Verlässlichkeit der für die Bewältigung der Krise relevanten Akteure, und es ist auch ihnen zu verdanken, dass bislang die schlimmstmöglichen Corona-Szenarien nicht eingetreten sind.
Diejenigen Bürger, die ich im Blick habe, gehen nicht einfach davon aus, dass die Entscheidungen der Regierung oder die Ergebnisse der Wissenschaft über jeden Zweifel erhaben sind. Sie sind nicht naiv und sie können politischen Maßnahmen mit Gründen skeptisch gegenüberstehen. Sie sehen aber, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass politische Entscheidungsträgerinnen mit einer überwältigenden Mehrheit der Wissenschaftler und Medienvertreter im Bunde sind, um die Krise für eigene Zwecke zu nutzen. Es ist schwer plausibel zu machen, welches Interesse hinter einer solchen Verschwörung stehen sollte, ganz abgesehen von der logistischen Herausforderung, die damit verbunden wäre. Solche nüchternen Abwägungen sind charakteristisch für Personen, die sich in erster Linie auf andere verlassen möchten. Ob Vertrauenswürdigkeit als politische Kategorie ganz durch Verlässlichkeit ersetzt werden sollte, mag an dieser Stelle offenbleiben. Was die Corona-Krise betrifft, sind wir jedenfalls gut beraten, sie nicht voreilig als eine Geschichte des enttäuschten Vertrauens aufzufassen.