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Daniela Chana Die Spinnerin am Kreuz

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Zuerst dachte ich, es wäre nur dieses typisch matte Gefühl, das einen oft befällt, wenn endlich etwas eintritt, auf das man lange gewartet hat, und man feststellen muss, dass man sich über die wirklich großen Dinge im Leben nie so richtig freut. Am Tag nach der bestandenen Matura oder der Führerscheinprüfung oder der Hochzeit steht man doch wieder ganz normal auf, macht sich sein Brot mit Käse und Gurkerl, findet eine verschrumpelte Zitrone im Kühlschrank und staunt darüber, dass sich nicht alles überwältigend schön anfühlt. Stattdessen hat man auf einmal lauter neue Probleme.

Deswegen war ich nicht sonderlich überrascht, als mir in den ersten Tagen nach Leonardos Rückkehr nur die negativen Dinge auffielen. Gleich nachdem er zur Tür hereingekommen war und sich ausgezogen hatte, bemerkte ich, dass er Gesundheitsschuhe mit Einlagen trug. Freilich hatte ich immer den Traum gehabt, gemeinsam alt zu werden, mit Gesundheitsschuhen und Krücken und Ähnlichem, aber ich hatte mir das völlig anders vorgestellt. In meiner Fantasie wären wir gemeinsam am Frühstückstisch gesessen und er hätte liebevoll meine Hand gestreichelt und gesagt: »Na, jetzt wird es schon langsam Zeit, dass wir uns Gesundheitsschuhe kaufen, meine Liebste, und du bist immer noch so wunderschön wie am ersten Tag.« Danach wären wir romantisch Hand in Hand zum Orthopäden gegangen. Im Wartezimmer hätte ein Kind auf uns gezeigt und laut gesagt: »Schau, Mama, so ein uraltes Ehepaar!«, und ein Teenagermädchen, das gerade per SMS von ihrem Freund verlassen worden wäre, hätte uns traurig angeschaut und gedacht: »So wie die möchte ich auch einmal sein.« Nun waren wir aber unabhängig voneinander alt geworden, und was mich fast noch mehr ärgerte, war, dass ich mir trotzdem für unser Wiedersehen den kurzen Rock und die unbequemen Korksandalen mit der goldenen Schleife angezogen hatte, weil ich ihm gefallen wollte.

Ich redete mir ein, dass es nur eine Weile dauern würde, aber die Freude hat sich bis heute nicht richtig eingestellt. Stattdessen wird mir bewusst, wie viele Aspekte des Zusammenlebens ich in den Jahren ohne ihn komplett vergessen hatte, zum Beispiel sein lautes und holpriges Schnarchen. Wenn ich nachts aufstehe, um mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, ist er verärgert, weil ich ihn geweckt habe, und er bemerkt es nicht, wenn der Träger meines Nachthemds sexy von der Schulter rutscht. In meinen Jahren des Wartens hatte ich abends auf dem Balkon gern ein Glas Wein getrunken, melancholisch in den Himmel geschaut und war mit einer Flasche gut fünf Tage ausgekommen. Jetzt ist sofort nach dem Entkorken schon die halbe Flasche leer, weil Leonardo mittrinkt, und ich gehe allmählich dazu über, billigeren Wein zu kaufen. Letzten Samstag habe ich auch günstigere Steaks genommen als sonst und bei der Pasta am Montag mit dem Parmesan gespart.

Nicht zuletzt hat seine Rückkehr meinen Jahresumsatz geschmälert. Der Artikel über meinen Laden, der kurz nach Leonardos Verschwinden in der Bezirkszeitung erschienen war, hatte dazu geführt, dass die Höhe meiner Einnahmen zum ersten Mal in meinem Leben die steuerfreie Grenze überschritten hatte. Die Journalistin hatte die »melancholische Schönheit der Brautkleider einer einsamen Schneiderin« hervorgehoben und sogar behauptet, dass »in jedem Hochzeitskleid eine Träne« stecke. Seitdem war ich permanent ausgebucht gewesen und hatte nach Anproben nicht nur sanfte Blicke zukünftiger Ehefrauen, sondern auch enorme Trinkgelder erhalten. Manchmal war ich mir vorgekommen wie eine Art Glücksbrunnen, in den die verträumten Frauen eine Münze warfen, um ein schlechtes Schicksal für ihre Ehe abzuwehren.

Später hatte ich angefangen, für gemeinnützige Zwecke zu spenden und noch mehr gute Presse erhalten. »Die einsame Wohltäterin« hieß es in der Bezirkszeitung, und manchmal war es mir ein bisschen peinlich, weil ich das Gefühl hatte, dass meine Rolle doch sehr übertrieben wurde. Andere Menschen spenden auch ihr verdientes Geld und sind sicher ebenfalls manchmal einsam oder traurig. Ich rief die Journalistin an, aber sie meinte, das sei eben Marketing und wenn ich deswegen schlechtes Gewissen hätte, sei ich ja noch heiliger als sie vermutet hätte, und dann müsse sie gleich einen weiteren, viel romantischeren Artikel über mich verfassen. Ich ließ es also dabei bewenden.

Da ich selbst nach Leonardos Rückkehr etwas reserviert war, fand ich es zunächst auch nicht komisch, dass meine Katze Penelope von Anfang an den Raum verließ, wenn er hereinkam. Auch Penelope war in der Bezirkszeitung vorgekommen, und nachdem immer mehr Kundinnen nach ihr gefragt hatten, hatte ich für sie Accounts bei mehreren sozialen Netzwerken eröffnet und ihre Katzenohren und Schnurrbarthaare in das neue Logo des Ladens integriert. Manche Kundinnen zahlten sogar einen Extra-Tarif dafür, dass Penelope bei den Terminen zur Brautkleidanprobe dabei war. Die beliebtesten Modelle wurden im Katalog mit einer Katzenpfote und dem Schriftzug »Penelope’s choice« versehen. Das alles konnte sie natürlich nicht so genau wissen, aber ich bin überzeugt davon, dass sie nach Leonardos Rückkehr spürte, wie sich die Aufmerksamkeit verlagerte und ihr plötzlich jemand das Wasser abgrub. Sie merkte zwangsläufig, dass die Buchungen nachließen, weil sie seltener von verträumten Brautjungfern auf den Schoß genommen und gekrault wurde. Ich hatte den Fehler gemacht, Leonardos Ankunft sofort in Penelopes Profilen zu posten, und von heute auf morgen war das Geschäft eingebrochen. Ob Penelope sich überhaupt an Leonardo erinnerte und ihn wiedererkannte, weiß ich bis heute nicht. Sie war noch ein kleines Kätzchen gewesen, als er ging.

Erst nach und nach begriff ich, dass ich mich auch deshalb nicht so richtig freuen konnte, weil durch Leonardos Rückkehr ein Stück von mir selbst verloren ging. Das viele Weinen nachts im Bett hatte mich auf eigenartige Weise erfüllt, die mir seither schmerzhaft fehlt. Gerade in den Nächten, in denen ich besonders lang voller Verzweiflung wachgelegen war, hatte ich mich mit etwas Höherem verbunden gefühlt, als müsste ich nur die Hand ausstrecken und könnte mich geradewegs an den Gliedern einer Kette nach oben ziehen, an deren Ende die Geister von spannenden Persönlichkeiten auf mich warteten. Meine Traurigkeit und mein Schmerz hatten mir einen Platz in einer Ahnengalerie eingeräumt, in der ich eine Nachfahrin zahlloser Einsamer und Verlassener der Geschichte war. Dieses erhebende Gefühl kann ich nicht mehr haben, wenn Leonardo neben mir schnarcht und atmet oder wenn er draußen im Wohnzimmer sitzt und die Geräusche eines Action-Films zu mir hereindringen.

Auch für meinen Körper ist es schwierig, sich wieder an seine Nähe zu gewöhnen. In den Jahren des Wartens hatte ich eine Vielzahl erotischer Träume mit langen und komplizierten Plots entwickelt, die ein schwieriges Spannungsverhältnis zur Realität aufweisen. Eine Fantasie beginnt damit, dass ich von Piraten entführt werde. Der einfühlsamste Pirat, der wegen seiner traurigen Kindheit immer einen melancholischen Blick und ein Buch dabeihat, erkennt sofort, dass ich die schönste Frau bin, die ihm weltweit je begegnet ist. Nach einiger Zeit des Werbens, in der er mir seine Sprache beibringt und Gedichte vorliest, die handwerklich solide und gut komponiert sind, gebe ich seinem Drängen nach, dann gibt es ein bisschen Sex und am Ende den Heiratsantrag. Solche Träume kann man nur haben, wenn man ungestört ist. Jetzt gibt es nur noch die gleichförmige Intimität mit Leonardo, die für mich nie ein Grund gewesen wäre, mit ihm zusammen zu sein.

Der vielleicht schwerwiegendste Verlust sind jedoch die Besuche meiner Nachbarin Evelyn. Nach dem ersten Artikel in der Bezirkszeitung hatte sie mich eines Tages bei den Postkästen angesprochen. Ob ich nicht Ablenkung und ein bisschen Gesellschaft bräuchte? Sie hätte sich schon gewundert, dass sie Leonardo nicht mehr im Stiegenhaus gesehen habe.

Zuerst hatte ich nur aus Höflichkeit »Ja« gesagt und sie zu mir eingeladen, aber mit der Zeit hatte ich ihre Besuche kaum noch erwarten können. Wenn das Handy klingelte und sie schrieb, sie könne in einer halben Stunde zu mir herüberkommen, stellte ich schon mit Herzklopfen im Hals die Gläser auf das Balkontischchen, dazu Schalen mit Nüssen, Käse und Oliven, klopfte die Pölster aus und entkorkte den Wein. Penelope legte sich dann immer schnurrend auf Evelyns Platz und wartete auf sie. Wenn Evelyn da war, strich Penelope glücklich zwischen unseren Beinen herum, und wir redeten stundenlang in den Sonnenuntergang, lachten und weinten die Dämmerung herbei, manchmal die Nacht. Unser Lieblingsthema waren Träume und Fantasien, und es gelang uns dabei, die Motorengeräusche und das Hupen von der stark befahrenen Kreuzung auszublenden. Mehrmals musste ich das Handy zur Reparatur in den Shop bringen, weil ich es immer am Gerät ausließ, wenn Evelyn mir nicht schrieb oder keine Zeit hatte.

Nachdem Leonardos Rückkehr bekannt geworden war, hatte Evelyn sich nicht mehr gemeldet. Auf meine drängenden SMS hatte sie irgendwann geantwortet, dass ich ja nun wieder ausreichend Gesellschaft hätte und auch keine Ablenkung mehr bräuchte. Vielleicht war Penelope auch deswegen so sauer auf Leonardo, denn sie hatte immer glücklich gewirkt, wenn Evelyn sie zwischen den Ohren gekrault und »Mauz mauz« gesagt hatte. Um sie zu besänftigen, habe ich sie letztens in einen Katzenkorb gepackt und bin mit ihr in die Werkstatt der Künstlerin gefahren. Die Künstlerin hatte zwei Jahre zuvor in einem meiner Kleider geheiratet und danach eine Plastik von Penelope angefertigt, die bereits bei mehreren internationalen Ausstellungen gezeigt wurde und auch in Zukunft noch viele Bewunderer finden wird. Unser Traum wäre, sie dauerhaft in Wien irgendwo im öffentlichen Raum aufzustellen, zum Beispiel bei der Spinnerin am Kreuz. Penelope wirkte zufrieden, als sie ihr Ebenbild betrachtete.

Ich glaube immer noch, dass sich alles einrenken wird. Viele Paare haben nach Jahren des Zusammenlebens eine Krise, warum also nicht auch nach Jahren des Getrenntseins? Ich werde mir einen neuen USP für das Brautmodengeschäft überlegen. Und irgendwann werden wir wieder ganz andere Probleme haben.

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