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Peter Clar Über den See, über das Wäldchen
Оглавлениеfür Johanna Taupe
»Im 17. Jahrhundert erzählten sich die Bewohner eines Dörfchens in unmittelbarer Nähe des Faaker Sees, daß der Mittagskogel Gold berge«, liest du, in der Latschacher Pfarrkirche, dem ›Dom vom Rosental‹ (»Rož, Podjuna, Zila, nagelj, rožmarin, v sveti zemlji sniva tvoj slovenski sin« / »Rosental, Jauntal, Gailtal, Nelke, Rosmarin, in der heiligen Erde schläft dein slowenischer Sohn«), in der Kirche deiner Kindheit sitzend und blickst nach vorn, blickst auf den barocken Altar oder auf das Ovalfenster mit gelbem Glas, davor die Taube des Heiligen Geistes, oder nach links zur Kanzel, auf der du noch niemals, auch nicht vor 20, nein, 25, nein, 30 Jahren oder mehr jemanden stehen gesehen hast, wie du überhaupt noch nie jemanden auf der Kanzel einer Kirche stehen gesehen hast. In der Latschacher Pfarrkirche St. Ulrich sitzend liest du weiter (»Es gab daher viele Leute, die es zu gewinnen trachteten und bald da, bald dort Grabungen anstellten, aber immer vergebens.«), liest du von der Magd des Ischnig-Bauern und ihres plötzlichen Reichtums, liest, wie dies den Bauern und den Pfarrer Latschacher (die Sage sagt Latschacher, nicht Leitschacher) stutzig machte und sie beschlossen, dem Geldgeber (1 Dukate pro Übernachtung und Verpflegung), einem Italiener, einem »Welschen«, aufzulauern.
Wie selbstverständlich hast du dich beim Eintreten in die Kirche bekreuzigt, hast du Zeige- und Mittelfinger in das aus der Wand wachsende Weihwasserbecken getaucht, das vor 20, nein, 25, nein, 30 Jahren oder mehr noch zu hoch für dich und deinen Bruder war, so dass deine Mama, so dass deine Oma euch mit ihren Daumen das Kreuz auf die Stirn malten (Geste von Mama wiederholt an deinen ersten Volksschultagen) und dir Stirn, Kinn und Brust bekreuzigten. Wie selbstverständlich hast du dich am Mittelgang – darunter das Grab des Pfarrers Leitschacher, des Erbauers der Pfarrkirche St. Ulrich – rechts gehalten, wie selbstverständlich hast du dich in die sechste oder siebte der rechten Bankreihen gesetzt, wie damals mit deinem Bruder und Opa, deine Mama aber, deine Oma aber immer links, bei den anderen Frauen. Und so sitzt du nun, im Buch Heimat am Mittagskogel und Faaker See die Sage des Pfarrers von Latschach lesend (der Welsche hat, vom Ischnig-Bauern und dem Pfarrer überrascht, diese zu jenem Ort geführt, wo Gold zu finden ist), auf ca. jener Stelle, auf der du früher gesessen, links von dir Opa oder rechts und rechts von ihm dein Bruder oder links, und blickst nach vorn (wie damals) auf den Altar oder auf die Portraits von Johannes und den anderen Evangelisten in halbförmigen Lünetten oder blickst geradeaus, auf die Wand, auf das auf der Wand hängende Bild des gefolterten Jesus, leicht in die Knie gesunken, die Hände hinter dem Rücken gebunden, den Blick leidend nach oben gerichtet (der für uns gegeißelt worden ist). Wie oft hast du gedankenverloren dieses Bild angesehen oder die Fotos und Namen der Gefallenen des Ersten Weltkriegs auf der darunter angebrachten Tafel aus weißem Marmor, während links von dir oder rechts von dir dein Opa (der beste der Welt), während rechts von ihm oder links von ihm dein Bruder, während rund um dich die Kühle der Kirche, die Sonntagsvormittagsmüdigkeit, die Vorfreude auf das Spielen – wir waren unendlich …
Jedes Mal, erinnerst du dich jetzt (der Ischnig-Bauer, der Pfarrer und der Welsche haben mittlerweile eine Vereinbarung geschlossen, das Gold zu teilen), wenn der Messner oder einer der Ministranten mit dem an einer langen Stange befestigten, samtenen Klingelbeutel durch die Reihen ging, hatte dein Opa deinem Bruder und dir je eine 5-Schilling-Münze in die Hand gedrückt, damit ihr diese in den Klingelbeutel werfen konntet, und du erinnerst dich weiter, an den Weg zum Altar, dein Opa hinter dir (oder deine Mama oder deine Oma), eine Hand auf deiner Schulter, das Kreuzzeichen des Pfarrers, der Stolz, als du dann alt genug für die Hostie, und an das sehnlich erwartete ›Gehet hin in Frieden‹ und dann hinaus, in den sonnigen Sommertag, in den Nebelnovember, in den weißen Wintermorgen. Rechts neben der Tafel mit den Namen der Gefallenen, rechts neben dem Bild des gefolterten Jesus (der für uns gekreuzigt worden ist) siehst du nun das Epitaph für den unter dem Mittelgang der Kirche beerdigten Pfarrer Leitschacher, umrahmt von einem vergoldeten Bild des Pfarrers, von Getreideähren, einem Hostienkelch, einer Weinrebe, vor allem aber von einem sich plastisch abhebenden Totenschädel mit Flügeln – »Hic cubat, abreptum defle, tequaeso. Uiator / Ioannes Leitshaher Primus Parochus et / author aedificii« (»Hier ruht, beweine den Entrissenen, darum bitte ich dich, Wanderer, Johannes Leitschacher, der erste Pfarrer und Erbauer dieses Gebäudes«).
Das Geld für den Bau der Kirche, für den Bau des Pfarrhauses, für den Bau der Volksschule habe der Pfarrer sich selbst aus dem am Mittagskogel gefundenen Erz prägen lassen, so erzählt dir die Sage, während du unwillkürlich (wie damals) immer wieder auf den aus der Wand herauswachsenden, geflügelten Totenkopf schaust, auf die lateinische Inschrift schaust (»Quinque decem Numeres ac His / Super addito Quintum / ætatis Numerum Mox libi Crede dabit« / »20 Jahre leitete er die Kirche. Zähle 5 x die 10 und füge zu diesen Zahlen die fünfte, das wird Dir die Lebenszeit geben, glaube es«). Bald aber hätten ihm seine Neider vorgeworfen »daß er auf unehrliche Art reich geworden sei« und ihn vor Gericht gebracht, von dem er, da er die Quelle seines Reichtums nicht preisgeben wollte, zum Tode durch lebendiges Einmauern verurteilt wurde. Und du stehst auf und stehst nun im Mittelgang des Mittelschiffs, darunter das Grab des Pfarrers, und gehst ein paar Schritte nach vorn bis zu exakt jener Stelle, wo vor ein paar Jahren der Sarg deines Opas gestanden ist oder bildest du dir das ein, deine Erinnerungen verschwimmen, während du, das aber weißt du bestimmt, ziemlich genau auf jenem Platz gesessen bist, auf dem du als Kind neben ihm (links oder rechts du, rechts oder links dein Bruder) gesessen warst. Und nun siehst du dich selbst, wie du leer den leeren Worten des Pfarrers zuhörst (irgendetwas vom ewigen Leben), aber siehst dich auch deiner Mama zuhören und erinnerst dich an ihre Rede (unser junger, fescher Vati) und dann doch auch an Tränen (wie heute).
Und du blickst noch einmal zum Altar, an dem der Pfarrer Leitschacher kurz vor der Vollstreckung des Urteils tot zu Boden gesunken sein soll (Gnade Gottes) und drehst dich um, unter dir sein Grab, in dem sein Körper, zum Zeichen, dass er nichts Unrechtes getan hatte, 100 Jahre lang nicht verwest war, und gehst Richtung Ausgang, vorbei an der Kreuzigungsgruppe mit dem Schneeball auf der Brust des gekreuzigten Jesus (der Werfer verlor, da er seinen Treffer nicht bereute, auf der Stelle den Verstand, heißt es, und sei »[n]ach dem Pfingstfest (1613) […] elendiglich verstorben«), und trittst hinaus in die Frühlingssonne, vom Mittagskogel der Geruch nach Schnee (noch oder wieder) und gehst zweimal nach links (wie damals, als ihr dem Sarg hinterher – »Muass wohl fuat aus meiner Kammer, pfiat enk Gott, pfiat enk Gott«), links von dir nun die Kirche und rechts von dir die Friedhofsmauer mit der ehemaligen Totenkammer, dahinter die Karawanken. Oder du gehst zweimal nach rechts, vorbei am Mahnmal gegen den Krieg von Valentin Oman, das 2010 errichtet wurde und das du, so lange warst du nicht mehr hier, heute zum ersten Mal siehst (oder bildest du dir das ein oder erinnerst du dich falsch?), rechts von dir nun die Kirche und links von dir die Friedhofsmauer, dahinter der Pfarrhof. In diesem hatte die Dorfgemeinschaft Latschach vor rund 20 Jahren (damals noch ohne rechtsrechten Obmann, damals noch mit Chor, Volkstanzgruppe und Theatergruppe) zum ersten Mal Ernst Müllers Der Goldpfarrer von Latschach aufgeführt, du erinnerst dich an die Proben und an die Arbeiten an den Kulissen und daran, wie der Nadrag-Opa (den alle in eurer Großfamilie so nennen, auch wenn er der Opa deiner Cousins ist) als »Welscher« die Friedhofsmauer entlanglief, erinnerst dich an das Trauerlied des Chors anlässlich des verkündeten Todes des Goldpfarrers (»Ave, ave, ave Maris Stella«), den dunkelblauen Nachthimmel und den hell erleuchteten Kirchturm, und es kommt dir vor wie ein anderes Leben, ein anderes Sein.
Und an der Rückseite der Kirche bleibst du kurz stehen, schaust auf das große Kruzifix, darüber das Ovalfenster mit gelbem Glas, dahinter die Taube des Heiligen Geistes, und liest die Namen auf den Gedenktafeln, liest den Namen von Janko Mikula (»Rož, Podjuna, Zila«) und von Franc Treiber (»Nmav čriez jizaro, nmav čriez hmajnico, čjer je dragi dom z mojo zibelko, čjer so me zibali mamica moja in prapievlali haji, haja.« / »A bisserl über den See, a bisserl über das Wäldchen, wo mein liebes Zuhause mit meiner Wiege steht, wo mich Muttern wiegte und »haji, haja« sang«), die erst 2009 aufgehängt wurden. Und du gehst vorbei am Mikul-Grab und wunderst dich, warum dir als Kind niemand die Geschichte der drei von den Nationalsozialisten ermordeten Kärntner Slowen_innen erzählt hat (und erinnerst dich an die Aufbahrungshalle, den Sarg deines Opas und die Vorbeterin, die auch für »unseren verstorbenen Landeshauptmann Haider« gebetet hatte – und wunderst dich nicht mehr). Und du gehst weiter, gehst bis zum Grab deines Opas, dahinter der Mittagskogel (»fliagt a großer Vogel üban Mittagskogel / kennt ka Grenz, kennt ka Zeit«). Wie lange du schon nicht mehr hier warst (»amol mecht i a so a Vogel sein / fliagn wo’s ma grod gfollt«), denkst du dir, und erinnerst dich an Allerheiligen im Novembergrau, an Anoraks und Hauben und Hände in Taschen, an Atemwolken und Erwachsene mit hochgeschlagenen Mantelkrägen und an das Verstummen der Gespräche beim Nahen des gräbersegnenden Pfarrers. Und dann der Nachmittag bei Oma und Opa, bei Tee und Kuchen und Sasakabroten. Und am Abend, auf der Heimfahrt, noch einmal vorbei am Friedhof, das Licht Hunderter Kerzen verschwimmend im Grau, irgendwo bellt ein Hund (aber das kannst du nicht hören) oder fährt einsam ein Auto und dann / wieder Stille.
Und jetzt holst du ein Grablicht aus deiner Tasche, hast aber die Zündhölzer vergessen, hast dein Feuerzeug vergessen, weißt aber auch, dass deine Oma hinter dem Grabstein ein Feuerzeug platziert hat (vielleicht eines vom Spar) oder eine dünne Kerze, um an einem anderen Grablicht Feuer entzünden zu können, und du holst das Feuerzeug oder holst die Kerze und zündest das Grablicht an und gehst leicht in die Hocke, um sie aufs Grab zu stellen. Und wie damals, einige Tage (oder waren es Wochen?) nach dem Begräbnis, bleibst du kurz hocken, aber diesmal kommt dein ehemaliger Hausarzt, obwohl stramm deutschnational ein Freund deiner Familie, und du schüttelst im Heute den Kopf, nicht vorbei, bleibt nicht kurz stehen, schaut nicht zuerst aufs Grab und dann auf dich, sagt nicht, mit freundlichem Lächeln, nachdenklich »Dein lieber Opa« und du nickst nicht stumm zurück. Und du stehst auf und gehst weiter, den Gräbern entlang, die dir seltsam vertraut, liest hin und wieder einen neuen, doch selten einen unbekannten Namen, gehst bis zum Grab der Mutter deiner ersten Freundin. Und du erinnerst dich an den Moment, als du die Nachricht ihrer Krankheit bekamst, erinnerst dich an das Public Viewing bei der EM 2008 und du weinend im Rathauspark, erinnerst dich aber auch an Ivo Vastićs Elfmetertor, an »Wien-wird-Cordoba« (wurde es nicht) und an deinen Besuch im Krankenhaus, an dein Versprechen, auf ihre Tochter aufzupassen – und wie schnell du es gebrochen, wie wenig sie es gebraucht aber auch – und an das Begräbnis (»Vom Rupertiberg in die Turia«). Und du denkst zurück, an Paris ’98, an Hand-in-Hand und wild schlagendes Herz (wie in schlechten Gedichten) oder an ein halbes Jahr später, an geöffnete Fenster – ihr wart noch Kinder und seid es lange schon nicht mehr (»Hiša očəna, ljuba mamica, da bi jes našel še embart oba; o da bi videl jo, mamico svojo, pa bi spevlav spet haji, hajo.« / »S’ Vaterhaus, die liebe Mutter, könnt’ ich beide noch einmal aufsuchen, oh, sähe ich sie noch einmal, meine Mutter, dann sänge ich wieder haji, hajo«).
Da reißen dich Schritte aus deinen Gedanken und du drehst dich um, ein alter Mann geht vorbei, du kennst ihn vom Sehen, für ihn aber bist du fremd. Und trotzdem grüßt er dich stumm und du ihn und drehst dich zurück zum Grab, dahinter leuchtet der Mittagskogel golden im Abendlicht (als wäre es eine Klammer). Und du fängst ein Kreuzzeichen an, lässt es aber bleiben und gehst los, gehst Richtung Parkplatz, rechts von dir die Karawanken und links von dir der Kerzenautomat, die Mülltonnen, der Abfallhaufen, und in deinem Rücken die Kirche, das Ovalfenster mit gelbem Glas, dahinter die Taube des Heiligen Geistes, darunter das Kruzifix, daneben die Gedenktafeln für Janko Mikula und Franc Treiber (»K’ sem še mihen bil, sem bil dro vasev, sem večbarti k’tero pesem pev« / »Als ich noch klein war, war ich fröhlich, sang oftmals so manches Lied«).
Für die Übersetzung von Nmav čriez jizaro bedanke ich mich bei Dominik Srienc – Hvala za pomoč!