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Michaela Debastiani Der Zaungast

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Hinter dem Fluss, still und klar, steht ein Wald. Steht da seit dem Anbeginn der Zeit und atmet die Seele der Blätter, saftig und grün. Darin sprechen Tiere, haschen Zweige Nebelfetzen und wenn der Wind durch das Unterholz pfeift, klingt das Lied der Kinder des Waldes bis ans andere Ufer.

Vor dem Fluss liegen Stämme, dicht an dicht. Liegen da, seit ein Mann sie aus dem Wald geholt hat, und vergießen ihre Nadeln, harzig und frisch. Äxte haben sich an ihren Zweigen verfangen und sie nicht mehr losgelassen, bis der Boden ihre Farben aufgesogen hat. Die Ringe der Zeit tragen die Stämme voll Stolz.

»Das Feuer ist des Teufels einziger Freund«, sagt der Mann zu seinem Sohn in der Stube, wohlig und warm. »Das sagst du nur, weil du am Zaun die Frau gesehen hast«, antwortet der Sohn. Und es ist wahr! Seit der Mann die Frau am Zaun gesehen hat mit dem Reisighaar und den dürren Fingern, sieht er sie überall.

Und seit der Teufel, gierig und heiß, das Holz aus dem anderen Land an einem anderen Fluss holt, endlos und weit, schrumpft das Feuer im Kamin des Mannes. Sein Holz verbrennt nicht zu Asche, es knausert und ächzt. Übrig bleiben drei Stück Kohle im Kamin. Sie färben die Hände des Mannes schwarz.

Der Mann befiehlt den Arbeitern, mehr Holz aus dem Wald zu holen. Ein Kreischen geht durchs Unterholz. Es wächst der Stapel an Brettern neben dem Fluss. In Reih und Glied liegen sie da, die Stämme, kahl geschlagene Tannen und Fichten. Sie haben ihren Stolz verloren und die Stuben bleiben kalt und traurig.

»Wir müssen schaffen, wie der Teufel!«, ruft der Vater über das Werksgelände. »Das sagst du nur, weil du die Frau am Zaun gesehen hast«, ruft der Sohn zurück. Und es ist wahr! Seit der Vater die Frau am Zaun gesehen hat, kann er an nichts anderes mehr denken. »Siehst du sie auch?« »Klar seh’ ich sie!«

Der Vater geht zur Bank und holt einen Stapel Geld. Neben dem Fluss wachsen Kräne und Mauern, silbern und grau. Es kreischen die Sägen, es poltern die Motoren, es feuert der Mann seine Arbeiter an. »Sie verlangen ihr Säckel, sonst heizen sie uns ein«, lehrt der Vater seinen Sohn im Büro, geschmackvoll und reich.

»Das sagst du nur, weil du die Frau am Zaun gesehen hast«, wendet der Sohn ein, als der Vater die Geldscheine zählt. Und es ist wahr! Der Vater zieht den Sohn am Kragen zur Fensterfront im Werkspalast und die Scheine fliegen wie Späne. »Zur Hölle, siehst du sie auch?«, fragt der Vater. »Ja, ja«, sagt der Sohn.

Es wachsen die Geldstapel, Weihnachten naht. Der Mann sieht die Frau am Zaun bei Tag und bei Nacht. Und er denkt, dass er mehr Holz aus dem Wald holen muss, dass er die Arbeiter und die Banken bezahlen muss und dass er die Lieferanten beliefern muss, dass er in den Stuben der Leute einheizen muss.

Der Wald steht hinter dem Fluss, still und klar. Rauchige Nebel umhüllen die Wipfel und die Zweige beugen sich dem Schnee, fügsam und leise. Es sprechen die Tiere und die Glocken läuten zur Weihnachtsmesse. Der Sohn und der Vater hüllen sich in Felle, doch als sie am Zaun vorbeikommen, bleibt der Vater stehen.

»Sie ist da«, flüstert der Vater. Er rauft sich die Haare und zerfurcht sein Gesicht. »Siehst du, wie sie mich anschaut?« »Ich sehe sie!«, haucht der Sohn. Der Vater droht mit dem Besen und stampft mit dem Fuß. Der Sohn zieht den Vater weiter zur Messe und wieder nach Hause. Er bettet ihn warm und sagt ihm gute Nacht.

Wind pfeift durch das Astloch und treibt den Mann aus dem Bett. Feuer knistert im Kamin. Es zieht ihn hinaus in die rauchige Nacht. Geradewegs geht er auf den Zaun zu. Dort steht die Frau, weht mit weißem Leinengewand. Wie der Mond schimmert ihr Gesicht, umsäumt von Haar, zart wie Federn und Flachs.

Die Frau verschwindet im Wald, schweigend und still. Da hört der Mann die Kinder des Waldes singen. Er ahnt, dass die Schatten des Unterholzes auf den Lichtungen tanzen. Der Mann öffnet die nebelschweren Pforten seines Zaunes. Als er den Wald betritt, wird er empfangen wie ein lange vermisster Gast.

In der Stube holt der Mann nicht Kohle, sondern Asche aus dem Kamin. Seine Hände bleiben weiß. Die Zeit hüllt die Kinder des Waldes in stattliche Farben. Die Bretterstapel wachsen und schwinden. Wann immer der Mann seinen Sohn fragt, ob er die Frau am Zaun sieht, lächelt der Sohn und antwortet: »Ja, Vater. Ich sehe sie.« Und es ist wahr.

Sagen reloaded

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