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Elisa Asenbaum Der Rachen der Hexe

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Am Abend des 11. März 1936*1 ging ein junger Bursche durch das Dorf, als ihm ein Mädchen begegnete, welches seine Schürze um den Kopf geschlagen hatte. Man sah nur ihre Augen hervorblitzen, denn sie hatte die Schürze über das Haupt und seitlich bei den Ohren kreuz und quer über Mund und Nase gefaltet, das Band auf dem Hinterkopf zu einem Knoten festgezogen, schwebten die Enden flatternd im Wind.

Neugierig, wer dies sei, rief der Bursche: »He, Dirndl, nimm den Fetzen vom Birndl!«

Doch sie wollte sich ihm nicht zeigen. Er verstellte ihr den Weg und bestand, sie schickte sich an, ihn zu umgehen, da packte er sie und versuchte ihr die Schürze vom Antlitz zu reißen.

Als Antwort landete ein Milchreimer in der Fresse, die sein Gesicht gewesen war. Der Milchreimer war früher ein Milcheimer, ein Kübel mit dem man kübelt. Besser wäre es gewesen, der Bursch hätte sie nicht aufgehalten, denn sie war nicht von hier. Auch der Kübel hatte seine Geschichte und vollführte seine Bewegungen in Eigendynamik.

Der Kübel, auch Einer mit m – somit Eimer genannt, fühlte sich ziemlich gereizt, denn er war seit Jahrhunderten Gegenstand einer unabgeschlossenen Debatte. Das Mädchen hatte ein unglaubliches Schicksal, denn sie war dazu verdammt, in einem Blockuniversum zu leben. Im Blockuniversum ist das Jetzt nicht ausgezeichnet, Vergangenheit und Zukunft sind gleichermaßen vorhanden, wie ein Weltfilm von allem, von Anfang bis Ende in einem, Block in Einem gefroren, ohne Anfang und Ende. So irrte das Mädchen mit dem Eimer durch die Zeit, ohne je anzukommen. Den Eimer hatte sie im Auftrag von Newton mit Wasser zu füllen, der davon besessen war, zu beweisen, dass es einen absoluten Raum gibt. Immer wieder hängte Isaac den Eimer an eine lange verdrillte Schnur in seinem Labor, ließ ihn los und beobachtete das Wasser in ihm. Es drehten sich der Eimer und das Wasser nicht, dann drehten sich der Eimer und das Wasser mit, dann war der Eimer ausgedreht und das Wasser drehte sich weiter …, aber was ihm insbesondere bedeutungsvoll schien, war die konkave Form des Wasserspiegels, die nach einigem Rundumdrumdrumdrehen zu sehen war. Das war sein Beweis. Immer wieder schickte er sich an, dieses Eimerexperiment zu wiederholen, schickte das Mädchen abermals und abermals von Neuem, den Kübel zu füllen. Das Mädchen hatte sich erhofft, dass Newton, ein Meister der Wissenschaft, ihr das Schicksal ihres unglaublichen Seinszustandes mit dem fehlenden Moment erläutern könnte, denn sie glaubte nicht an Geister und hoffte durch Erkenntnis auf ein absehbares Ende dieses unnatürlichen Zustandes. Doch Isaac wollte das Mädchen, die ihm wie eine Magd plötzlich vor seiner Türe erschienen war, nicht zu Wort kommen lassen. Während er*2 einen Brief an Ernst Mach*3 schrieb, der an das Schuhschachtelsystem von Raum und Zeit nicht glauben wollte, und darin das Eimerexperiment als Beweis für den Absoluten Raum anführte, machte sich das Mädchen, welches den Eimer mit Wasser neu befüllen sollte, mit dem Eimer ohne Wasser aus dem Staub. Seitdem trug sie den Eimer, der Einer war, bei sich.

Unglücklicherweise wirkte sich die Begleitung des Experimentaleimers auf ihren Seinszustand schlecht aus. Ihr kurzes Verweilen in irgendeinem Jetzt wurde überhaupt nicht mehr bestimmbar, es war sprunghaft geworden. Auch wollte der Eimer nicht von ihrer Seite weichen, sie konnte ihn, den Einen, nicht abstellen, loswerden, der Henkel klebte wie verhext an ihrer Hand.

Bevor sie dem Burschen im österreichischen Burgen Lande begegnen würde, wurde sie blitzschnell zu einigen anderen Zeit-Raumpunkten katapultiert. Lichtschnell fand sie sich an weit auseinanderliegenden Zeit-Ortpunkten wieder, sodass ihr Bewusstsein mit der Geschwindigkeit des Wechsels kaum mitkam. Erinnern konnte sie sich an ein schönes warmes Land im Orient mit zauberhaftem Schloss mit runder Kuppel und vier spitzen Türmen, in das sie eintreten wollte, um diese Pracht von innen zu betrachten, als eine Horde von bewaffneten Männern auf sie stürzte und sie in einen dunklen Kerker warf. Ihr Verbrechen hatte darin bestanden, dass sie unverhüllt eine Moschee betreten wollte. Seitdem trug sie ihre Schürze im Gesicht. Danach war sie im Jahre 2002 in der USA kurz aufgepoppt, dort wurde sie alsbald als Terrorist verhaftet, da sie das Vermummungsverbot missachtet hatte. Danach fand sie sich in einer ärmlichen islamischen Familie als Braut wieder, die Schürze wieder vor dem Mund und über dem Kopf, Augenblicke später, es könnte das 21. Jahrhundert im Österlande*4 gewesen sein, wurde sie wegen geschürzter Verschleierung in einer Pause von Schulknaben als Hexe beschimpft, danach verprügelt. Da das Mädchen oft nur kurze Momente in einer Zeit und an einem Ort anwesend war, wusste sie einfach nicht, wann, wo und an welchem Ort ihres Körpers es angebracht war, diese verdammte Schürze anzubringen.

Aber in Österreich schürzte sie die Schürze wieder um ihre Taille. Doch da tat sie wieder falsch, denn ihr nächstes Jetzt war der 11. März 2020*5. Und ehe sie sich versah, lag sie in der Intensivstation und alle um sie hatten Mund und Nasenschutz als Pflicht. Das Virus war in sie eingezogen. Nur kurz, mit heftigem Gebell ihrer Lunge blickte sie in die Iris des Todes, da wurde ihr Sein wieder weggerissen in ein Jetzt des Jahres 1936. Das Mädchen schnallte ihre Schürze noch fester um ihr Gesicht, im Glauben, dass in allen Zeiten die Spuren nicht verschwinden würden, auch nicht die der Pandemie.

Als der Bursche sich ihr in den Weg stellte, wollte sie ihn warnen, doch der riss grob an ihrer Schürze, der Schutz riss, ihr Mund frei schrie sie ihm ins Gesicht: »Weg vom Weg. Geh’ weg!« Mit dem Eimer wollte sie ihn wegdrängen. Doch der Eimer hatte inzwischen durch das ewige Reisen durch die Zeit immensen Schwung geladen, der eine wahnsinnige rotierende Beschleunigung seiner selbst bewirkte; der Rand des Einen war meilendick massig angeschwollen, sodass er mit Wucht gegen des Burschen Gesicht donnerte. Der Geschlagene, im Gesicht heftig blutend, suchte schreiend das Weite.

Am nächsten Morgen war der Mund des Burschen knapp an das linke Ohr gerückt, an dem Ort, wo der Mund gestern gewesen war, war eine offene Wunde bis in den Rachen zu orten. Sie blutete rund um die Uhr, er hustete und spuckte gräulich. Seine Lungen wurden schwach und sein Herz war mit Unwissenheit und Rache gefüllt. Um Mitternacht war ihm, als ob er unter freiem Himmel in einem überdimensionalen Eimer schwimmen würde. Die Fixsterne begannen sich zu drehen, bis sie sich zu rotierenden Lichtkreistreifen schlossen. Er war an dem tiefsten Punkt in der konkaven Mitte des Einen angelangt und wusste, er müsse sein junges Leben lassen, denn er sank. Als er vor seinem Tode den Heiligen Geist anrufen wollte, sang ein mehrstimmiger Chor aus seinem schräg sitzenden Mund:

»Wir sind körperlos

wir bestehen aus Strängen

Information ohne Körper

wir vermehren uns

wenn es passt

im geborgten Leben!

Wir sind reine Information

leben im geborgten Leben

wir sind Plan

Plan ohne Dienstleister

null Energieverlust

wir sind der reine Geist!

Wir besitzen keine Hülle

wir dringen ein

in das Lebendige

wir passen uns an

an das Lebendige

wir sind es, die Geister!«

1*11. März 1936, zwei Jahre vor Hitlers Einmarsch in Österreich.

2*»Wenn ein Eimer an einer sehr langen Schnur hängt und beständig im Kreis gedreht wird, bis die Schnur durch die Zusammendrehung sehr steif wird, dann mit Wasser gefüllt wird und zusammen mit diesem stillsteht, und dann durch irgend eine plötzliche Kraft in entgegengesetzte Kreisbewegung versetzt wird und, während die Schnur sich aufdreht, längere Zeit diese Bewegung beibehält, so wird die Oberfläche des Wassers am Anfang eben sein wie vor der Bewegung des Gefäßes. Aber nachdem das Gefäß durch die allmählich auf das Wasser von außen übertragene Kraft bewirkt hat, daß auch dieses Wasser merklich sich zu drehen beginnt, so wird es allmählich von der Mitte zurückweichen und an der Wand des Gefäßes emporsteigen, wobei es eine nach innen gewölbte Form annimmt (wie ich selbst festgestellt habe), und mit immer schnellerer Bewegung wird es mehr und mehr ansteigen, bis es dadurch, daß es sich im gleichen Zeittakt dreht wie das Gefäß, relativ in diesem stillsteht.«

Quelle: Newton, S. 49, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1988, S. 4, Kapitel 2, Rückschau auf Newton und Leibniz.

3*»Der Versuch Newtons mit dem rotierenden Wassergefäß lehrt nur, daß die Relativdrehung des Wassers gegen die Gefäßwände keine merklichen Zentrifugalkräfte weckt, daß dieselben aber durch die Relativdrehung gegen die Masse der Erde und die übrigen Himmelskörper geweckt werden. Niemand kann sagen, wie der Versuch quantitativ und qualitativ verlaufen würde, wenn die Gefäßwände immer dicker und massiger, zuletzt mehrere Meilen dick würden. Es liegt nur der eine Versuch vor, und wir haben denselben mit den übrigen uns bekannten Tatsachen, nicht aber mit unseren willkürlichen Dichtungen in Einklang zu bringen.«

Quelle: Mach, S. 226, Die Mechanik in ihrer Entwicklung – historisch-kritisch dargestellt, Nachdruck der 9. Auflage von 1933, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1988, S. 8, Kapitel 3, Machs Kritik.

4*Das Verbot der Gesichtsverhüllung trat am 1. Oktober 2017 in Österreich in Kraft: https://www.bmi.gv.at/news.aspx?id=4D794D417A3630647947773D.

5*März 2020, Ausbruch der Corona-Pandemie in Österreich.

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