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Die Rezeption Hermann Brochs im Makrokontext des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers von Markus Ender (Universität Innsbruck) Vorbemerkung
ОглавлениеBriefeditionen ist inhärent, dass sie aufgrund ihrer Sender-Empfänger-Spezifik autorenfokussiert sind. Dieses Prinzip hat für gedruckte Editionen ebenso Gültigkeit wie für digitale; letztere unterscheiden sich jedoch in einem wesentlichen Aspekt, der unter den Begriff „digitales Paradigma“1 subsumiert werden kann, von der „analogen“ Editorik. Das Paradigma umreißt im Kern das Prinzip, dass eine digital Edition bestimmte Merkmale und Funktionsprinzipien aufweist, die bedingen, „dass sie nicht ohne wesentliche Informations- und Funktionsverluste in eine typografische Form gebracht werden kann – und in diesem Sinne über die druckbare Edition hinausgeht.“2 Mit der Möglichkeit, jene Beschränkungen, die analoge Repräsentationen mit sich bringen, durch die Re-Medialisierung der Briefe in den digitalen Raum zu überwinden, wird Nutzer*innen ein Werkzeug an die Hand gegeben, Netzwerkmodelle in großen Textmengen zu erkennen und gewinnbringend einsetzen zu können. Der multidimensionale Zugang, den digitale Editionen auf den Forschungsgegenstand eröffnen, bietet breiten Raum für alternative Blickwinkel auf kulturelle Repräsentationen und lädt zu divergierenden Fragestellungen ein. Vor der Folie des digital aufbereiteten Makrokontexts des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers betrachtet, zeitigt die von 1913 bis 1938 reichende Korrespondenz Hermann Brochs mit Ludwig von Ficker, bei der aufgrund diverser Faktoren weder eine wechselseitige noch eine kontinuierliche Briefabfolge existiert, ungewöhnliche Ergebnisse.
Stellt sich die Frage nach den Verflechtungen zwischen Ficker als Herausgebersubjekt, seiner Zeitschrift Der Brenner und dem Autor Hermann Broch vor dem Hintergrund des Gesamtbriefwechsels, so liegt auf der Hand, dass vorderhand die unmittelbare Korrespondenz Brochs mit dem Brenner-Herausgeber Ludwig von Ficker in den Mittelpunkt der Betrachtungen von Interesse erscheint. Doch bereits der Terminus „Briefwechsel“ führt hier in die Irre, denn die Korrespondenzstücke Fickers an Broch müssen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt sämtlich als verschollen gelten.3 Die erzwungene Exilsituation Brochs und die häufigen Ortswechsel, die damit einhergegangen waren, hatten zur Folge, dass nach mehr als sieben Jahrzehnten von einem definitiven Verlust der Briefe ausgegangen werden muss. Dieser Befund bleibt trotz voranschreitender Digitalisierungen und Erschließungsmaßnahmen in Archiven, die oftmals zu überraschenden Entdeckungen führen können, bis dato unverändert.4 Die Kommunikationsstruktur erscheint folglich nur monologisch, weshalb Zusammenhänge und Ableitungen größtenteils aus Drittbriefen und aus dem weiteren Umfeld des Briefwechsels erschlossen werden oder in letzter Konsequenz sogar spekulativ bleiben müssen. Als wenig zuträglicher Umstand kommt hinzu, dass der Briefbestand – verglichen mit anderen Korrespondenzen von Brenner-Mitarbeiter*innen, bei denen die im Archiv erhalten gebliebenen Korrespondenzstücke zum Teil in die Hunderte gehen – ausgesprochen schmal dimensioniert ist5 – insgesamt sind nur 18 Briefe und Karten von Broch an Ficker überliefert.
Die literarische Freundschaft zwischen Ludwig von Ficker und Hermann Broch ist bereits vor mehr als einem Jahrzehnt von Sigurd Paul Scheichl im Detail in einem Aufsatz aufgearbeitet worden.6 Auch den Einfluss, den Broch auf „den Kurs einer Zeitschrift, die im Jahr 1910 angetreten ist, auf das damals überall in Europa anzutreffende Unbehagen über die politische Stagnation neue Antworten zu geben“7, ausgeübt hat, hat Johann Holzner untersucht. Die Überlegungen, die Scheichl und Holzner anstellen, dienen als Impuls, weiterzudenken; durch eine Ausweitung der Untersuchung auf das gesamte Umfeld des Ficker-Broch-Briefwechsels können die Befunde ergänzt und neue Erkenntnisse generiert werden. Dieses Feld wird im vorliegenden Fall durch die Kommentierte Online-Edition des Gesamtbriefwechsels Ludwig von Fickers, die am Forschungsinstitut Brenner-Archiv seit 2012 im Zuge zweier FWF-Projekte entsteht,8 konstituiert. Die Briefe Hermann Brochs an Ludwig von Ficker können damit systematisch vor der Folie einer Korrespondenz, die über sechs Jahrzehnte andauert und tausende Briefe umfasst, kontextualisiert und inter-pretiert werden.
Für einen bestimmten Personenkreis im Gesamtbriefwechsel lässt sich durch eine Suche im Personenregister, deren Ergebnisse in ein diachrones Raster übertragen werden, feststellen, dass mit gleichbleibender Frequenz auf das Werk oder auf die Person selbst Bezug genommen wird. So erfolgen beispielsweise bis zu Fickers Tod kontinuierlich Referenzen auf Georg Trakl; die Häufigkeit der Erwähnungen liegt bei Trakl als einem der wichtigsten Autoren des Brenner freilich auf der Hand. Ähnliches lässt sich für Theodor Haecker konstatieren, der ab 1914 die Kierkegaard-Rezeption im Brenner anstieß,9 die dann nach dessen Ausscheiden aus der Autorenriege des Brenner ebenfalls über Dekaden regelmäßig perpetuiert wurde. In anderen Fällen sind demgegenüber deutliche Fluktuationen festzustellen, was die absolute Zahl an Erwähnungen im Briefwechsel betrifft. Ein repräsentatives Beispiel für eine solche temporäre Rezeption kann in der Person Ferdinand Ebners festgemacht werden; auf Ebner wurde im Briefwechsel in Abständen von jeweils etwa zehn Jahren mit großer Intensität verwiesen, die Referenzen verebbten jedoch schnell wieder.
Wird eine Registersuche im digitalen Gesamtbriefwechsel auf die Person Hermann Broch angewandt, fallen die Ergebnisse zunächst ausgesprochen ernüchternd aus: In absoluten Zahlen gemessen, finden sich im Falle Brochs nur sehr wenige direkte Bezüge. Diese konzentrieren sich zudem sämtlich auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – eine Ausnahme stellen lediglich jene vier Briefe Carl Dallagos an Ludwig von Ficker dar, die zwischen 1913 und 1914 verfasst wurden. Eine rein quantitative Analyse liefert somit kaum ein aussagekräftiges Ergebnis, da im Gesamtbriefwechsel sehr spät und nur in seltenen Fällen von Broch die Rede ist. Es muss also darum bestellt sein, Zeiträume, Personen, Inhalte und Diskursformen auf qualitativer Ebene zu untersuchen und aus Kontexten, Gegen- und Drittbriefen sowie über bibliographische Verweise zu erschließen, auf welche Weise und mit welchem inhaltlichen Impetus die Person Brochs und sein Werk rezipiert wurden. Dabei ist zu konstatieren, dass in diachroner Perspektive eine Verschiebung von der Ablehnung, die Broch in der Auseinandersetzung mit Dallago in der Frage nach dem Verhältnis von Philistrosität und Künstlertum entgegenschlug,10 hin zu affirmativer Zustimmung stattfindet.