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II. Kontext: „Anima naturaliter Christiana“ – Erweiterung des Ethik-Konzepts

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Auch Dante verstand Vergils Dichtungen – und besonders die Aeneis – als Ausdruck einer „anima naturaliter Christiana“. In einem Selbstkommentar von 1942 zu seinem Roman hat Hermann Broch (im Sinne Haeckers) Dante als einen Dichter bezeichnet, der Vergil als den „ahnenden Künder des Christentums“ (KW 4, 467) verstanden habe. Die partielle Identifikation von Broch mit Dante hatte nicht zuletzt mit dem gemeinsamen Schicksal von Vertreibung und Exil zu tun. Das Motto aus dem „Inferno“, das Broch seinem Roman voranstellte, ist ein Hinweis auf den Subtext von Dantes Commedia.25

Haeckers Erinnerung an Vergil als „anima naturaliter Christiana“ hat Broch nicht einfach übernommen, sondern angereichert. Dabei ist es ihm besonders um die Individualisierung von Freiheit und Menschenwürde zu tun, woraus die Forderung nach Abschaffung der Sklaverei folgt. Parallel zum Vergil-Roman hat Broch in den frühen 1940er Jahren an seiner Massenwahntheorie (KW 12) gearbeitet. In ihr erkannte der Autor, dass in Hitlers Staat eine „neue Sklavenschicht“ im Entstehen begriffen war (KW 12, 40). Im nationalsozialistischen Deutschland sei der Zustand der „Vollversklavung“ für Juden und politische Gegner bereits eingetreten. Ihr konkreter Ausdruck wie ihr „Symbol“ sei das „Konzentrationslager“ (KW 12, 468). Wenn Broch das Konzentrationslager beschreibt, nimmt er Formulierungen vorweg, die sich ein halbes Jahrhundert später in Giorgio Agambens Studien26 finden. Broch schreibt:

Das Konzentrationslager ist die letzte Steigerung [...] jeder Versklavung. Der Mensch wird seines letzten Ich-Bewußtseins entkleidet; statt seines Namens erhält er eine Nummer und soll sich auch nur mehr als Nummer fühlen. Er ist zur Leiche geworden, bevor er noch gestorben ist [...]; der magische Gott der Versklavung ist [...] ein Aasfresser, der zehntausende, hunderttausende von Leichen braucht und auch nach Millionen noch unbefriedigt bleibt, der Nimmersatt, dem Hitler diente und mit dem er sich identifizierte [...]. Dies ist die Magie-Religion der Versklavung, und Hitlers Schatten geht in jedem Totalitärstaat um. (KW 12, 485).

Nach Broch ist man nur mit Hilfe des „Menschenrechts“ in der Lage, „Versklavung“ als „Rechtswidrigkeit“ (KW 12, 508) zu definieren. Die Menschenrechte, meinte er, müssten international anerkannt werden und global einklagbar sein. In der „Massenwahntheorie“ fasst Broch zusammen: „Der Satz von der unbedingten Verwerflichkeit der menschlichen Versklavung“ habe „als ‚irdisch absolut‘“ zu gelten und sei „an die Spitze des empirischen Menschenrechtes“ zu stellen (KW 12, 472). Er forderte die Etablierung eines internationalen Gerichtshofes für Menschenrechte, der den Vereinten Nationen, der UNO, zugeordnet werden solle (KW 11, 390).

Auch im Tod des Vergil steht das Thema der Versklavung im Vordergrund. Gleich zu Beginn seines Romans schildert Broch den Arbeitsalltag der Sklaven in der Hafenstadt Brundisium:

[...] die [..] Sklaven [waren] in langer Schlangenreihe [...] wie Hunde paarweise mit Halsringen und Verbindungsketten aneinandergekoppelt [...]. [D]ie beaufsichtigenden Schiffsmeister [schwangen] [...] auf gut Glück die kurze Geißel über die vorbeiziehenden Leiber, ohne Wahl und einfach drauflos, hinschlagend mit der sinnlosen [...] Grausamkeit uneingeschränkter Macht, bar jedes eigentlichen Zweckes, da die Leute ohnehin hasteten, was ihre Lungen hergaben, kaum mehr wissend, wie ihnen geschah [...]. (KW 4, 26)

In der Mitte von Brochs Roman kommt der Erzähler erneut auf das Elend der Sklaven zu sprechen, wenn Vergil eine „Menge“ beobachtet, die „jubelnd vor Lust, ein Kreuz umdrängte, an das schmerzbrüllend, schmerzwimmernd, ein unbotmäßiger Sklave angenagelt“ war, ein Anblick, der die apokalyptische Vision vom Ende des antiken Roms evoziert:

[...] und er sah, wie der Kreuze mehr und mehr wurden, wie sie sich vervielfältigten, fackelumzüngelt, flammenumzüngelt, ansteigend die Flammen aus dem Geprassel des Holzes, aus dem Geheul der Menge, ein Flammenmeer, das über die Stadt Rom zusammenschlug, um abebbend nichts zurückzulassen als geschwärzte Ruinen, zerborstene Säulenstümpfe, gestürzte Statuen und überwuchertes Land. (KW 4, 234)

Der erinnerten Realität der „Tragsklaven“ (KW 4, 34) und dem imaginierten Untergang Roms stehen hoffnungsvolle Traumgesichte des sterbenden Vergil gegenüber. In ihnen bildet sich die „Stimme“ eines Sklaven heraus. Der Sklave in den Fieberphantasien des Brochschen Vergil ist keine im Kontext des Romans als real vorzustellende Person wie etwa Augustus oder der Dichterfreund Plotius Tucca. Der Sklave artikuliert neue ethische Vorstellungen, die sich im Bewusstsein des sterbenden Autors formen. Es artikuliert sich eine innere Stimme der Hoffnung auf eine Zeitenwende, in der sich die Wertmaßstäbe Roms verkehren. In seinen politischen Schriften hält Broch fest, dass „das Christentum“ anfänglich eine „Sklavenreligion“ war, „vielfach verbunden mit einer ausgesprochenen [...] Non-Resistance-Bewegung“ (KW 12, 479). Dem Sklaven in Brochs Roman ist die „Gnade“ zu teil geworden, „den Bruder im Bruder zu wissen“. „Held“ sei nicht, wer „mit klirrender Waffengewalt“ auftrumpfe, sondern derjenige, „der die Entwaffnung erträgt“ (KW 4, 252). Die Stimme des Sklaven weist Vergil die Position zwischen den Epochen zu: „Du sahest den Anfang, Vergil, bist selber noch nicht der Anfang, du hörtest die Stimme, Vergil, bist selber noch nicht die Stimme: [...] noch nicht und doch schon, dein Los an jeder Wende der Zeit“ (KW 4, 253). Vergils besondere kulturhistorische Stellung als „anima naturaliter Christiana“ zwischen den Epochen wird durch die Formel „noch nicht und doch schon“ unterstrichen.

In seinen Fieberträumen hört Vergil das Gebet des Sklaven, das christliche Erwartungen ausspricht und Bildsymbole der Evangelisten benutzt: „Unbekanntester, Unerschaubarster, Unaussprechlichster [...]. Löwe und Stier sind zu Deinen Füßen gelagert, und der Adler schwebt auf zu Dir. [...] Du schickst den aus zum Heile, der sich nicht auflehnt.“ (KW 4, 253) Der Engel wird nicht eigens erwähnt, wenn die Bildsymbole der Evangelisten genannt werden, aber die Stimme des Sklaven selbst steht für den Engel, der als „Mittler“ zu dem bezeichnet wird, „der den Ruf empfangen“ (KW 4, 399) soll. In den religiösen Kontext gehört auch das Bekenntnis des Sklaven: „wir werden auferstehen im Geiste“ (KW 4, 346). Die Sklavenstimme deutet nicht nur auf den neuen Glauben hin, der die kommende Kulturepoche Roms bestimmen wird, sondern markiert auch einen revolutionären politischen Kurswechsel: Abgewertet wird die soziale Ordnung des cäsaristischen Roms, wenn „der Staat“ als „lächerlich und irdisch“ (KW 4, 342) bezeichnet wird gegenüber dem „Ewigen“ des Glaubensreiches, das „ohne Tod“ sei (KW 4, 344). In den Fiebervisionen erteilt der Sklave dem Cäsar Augustus „die Erlaubnis zum Sprechen“ (KW 4, 389), und die Verkehrung der Rolle von Herr und Knecht ist evident, wenn der Cäsar als verelendeter Sklave geschildert wird. Da heißt es: „Nun erhob sich der Augustus von seinem Lumpenlager; er wankte unsicheren Schrittes daher, an seinem Halsring baumelte [...] ein Kettenende“. Vergil sieht den „zwergig“ gewordenen „Cäsar“ ins „Nichts“ schrumpfen (KW 4, 397).

Das sind Fieberphantasien, und man könnte sie in einem Zusammenhang mit den Saturnalien im antiken Rom sehen, bei denen – mit Bachtin27 zu sprechen – „karnevalistisch“ die Standesunterschiede aufgehoben und die Rollen von Herren und Knechten vertauscht werden. Augustus verweist in Brochs Roman während seines Gesprächs mit Vergil die „Freiheit“ des Staatsbürgers auf den befristeten Zeitraum der „Saturnalien“ (KW 4, 342). Das sieht Vergil anders. Er formuliert sein Testament um, dessen Neuerung in der Freilassung seiner Sklaven besteht. Der Cäsar weiß die Geste seines Autors nicht zu würdigen, wenn er feststellt, dass zur „Wirklichkeit Roms“ der Sklavenstand gehöre. Er habe zwar „das Los der Sklaven gebessert“, aber „der Wohlstand des Reiches“ benötige „Sklaven“, die „sich in diese Wirklichkeit einzuordnen“ hätten. Gegen jene, die „die Ordnung trotzig zu stören wagen“, müsse „hart“ vorgegangen werden (KW 4, 346), wobei er an das Schicksal des Spartacus erinnert. Vergil bleibt aber bei seinem Vorsatz, den der Cäsar zwar missbilligt, aber als Ausnahme genehmigt. So enthält denn das zweite Testament des Vergil, das es – wohlgemerkt – nur in Brochs Roman gibt,28 die zusätzliche Klausel: „Der Erlaubnis des Augustus gemäß, bin ich befugt meine Sklaven freizulassen; dies soll sofort nach meinem Ableben geschehen, und jeder dieser Sklaven hat für jedes Jahr, das er in meinen Diensten verbracht hat, ein Legat von hundert Sesterzen ausbezahlt zu erhalten.“ Im Tod des Vergil ist von einem „ersten“ und einem zweiten „Testament“ die Rede, wobei man erfährt, dass das „erste [...] ungeschmälert in Kraft“ bleibe (KW 4, 410). Hier wird auf das alte und das neue Testament der christlichen Religion angespielt, nach der das „alte“ ebenfalls Gültigkeit behält.

Hermann Broch und Der Brenner

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