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3 Differenz, Transzendenz und Freiheit

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Im Folgenden möchte ich jedoch keinen Abgesang auf den konfessionellen Religionsunterricht anstimmen. Dafür ist das Potenzial des konfessionellen Religionsunterrichts zu groß. Ganz im Gegenteil möchte ich ein Plädoyer für den Religionsunterricht entwickeln, das dezidiert nicht-funktionalistisch und sogar anti-funktionalistisch vorgeht, das sich also nicht darauf beschränkt, zur Begründung dieses Faches seine verschiedenen gesellschaftlichen, kirchlichen und individuellen Funktionen anzuführen. Zwar erfüllt ganz ohne Zweifel auch dieser Unterricht bestimmte Funktionen: Wissen, ethische Haltungen und auch das, was man „Kompetenzen“ nennen kann, werden im Religionsunterricht vermittelt; die Kirche kann Schülerinnen und Schüler (und auch Eltern) erreichen, die längst nicht mehr am Gemeindeleben teilnehmen; die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler kann in der Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen entwickelt werden. Wenn aber die Rechtfertigung des Religionsunterrichtes funktionalistisch verkürzt wird, kann dieser Unterricht nicht nur wie alles, das auf seine Funktionen reduziert wird, leicht durch Funktionsäquivalente ersetzt werden. Die Schule steht dann auch in der Gefahr, wie es in öffentlichen Debatten und im schulischen Leben allzu oft geschieht, auf eine rein funktionalistisch verstandene Ausbildungsanstalt reduziert zu werden, die den Zwecken, die von außen an sie herangetragen werden, zu folgen hat. Es gibt zwar viele Fächer, in denen diese Logik in Frage gestellt werden kann. Die Lektüre eines Gedichtes oder die Beschäftigung mit wichtigen Persönlichkeiten in der Geschichte wie etwa Sophie Scholl, deren Entscheidungen und deren Handeln nicht auf ihre Funktionen zurückführbar sind, können die Logik des Funktionalismus durchbrechen. Am kraftvollsten geschieht dies aber im Religionsunterricht – und zwar deshalb, weil er eine res mixta, eine nicht nur einer Perspektive folgende „gemischte Sache“ ist.

Denn in diesem Fach kann – von „müssen“ zu sprechen, wäre nicht nur übertrieben, sondern anmaßend – etwas in den schulischen Alltag einbrechen, das den funktionalistischen Tendenzen der Gegenwart, unter denen insbesondere Schülerinnen und Schüler besonders leiden, zuwiderläuft: die Botschaft von einem Gott, der, auch wenn der Glaube an ihn sekundär bestimmte Funktionen erfüllt, primär keine Funktionen erfüllt und zu nichts gut ist, weil er selbst schlechthin gut ist und alles, was ist und zu etwas gut sein kann, aus Güte heraus geschaffen hat.

Wenn im Religionsunterricht dieser Gott zur Sprache kommt, kann die Schule zum Ort einer radikalen Differenzerfahrung werden. Alle anderen Fächer stellen endliche oder – theologisch gesprochen – geschaffene Wirklichkeit in den Vordergrund. Auch diese können zu Differenzerfahrungen führen oder zu Unterbrechungen des Alltags und zur Infragestellung vorherrschender Betrachtungsweisen. Im christlichen Religionsunterricht kann jedoch etwas Radikaleres geschehen, wenn sich in ihm nämlich eine Dimension eröffnet, die allem Endlichen „vorausgeht“ und dieses zugleich übersteigt und erhält. Der Religionsunterricht kann so Transzendenzerfahrungen ermöglichen – zumindest im Denken, d. h. in dem Gedanken, dass, was auch immer ist, aus dem Nichts von einem liebenden und dem Menschen zugewandten Gott geschaffen wurde.

Gehört es nicht zu einem gebildeten Menschen, dass er sich mit diesem Gedanken auseinandersetzt und dabei seine innere Logik und Konsequenzen bedenkt – nicht zuletzt, weil die Kultur, in der sich dieser Mensch vorfindet, zutiefst von dem Glauben an den biblischen Gott geprägt ist und weil man viele Herausforderungen und Konflikte im religiösen und weltanschaulichen Bereich oder im Spannungsfeld von Religion und Politik nicht verstehen kann, ohne eine Ahnung von der Erschütterung – des Menschen, des Alltags, aller vorgegebenen Horizonte – zu haben, die mit dem Glauben an einen Gott, der alles, was ist, ins Sein gerufen hat, verbunden ist? Diese Auseinandersetzung setzt zunächst kein persönliches Bekenntnis auf Seiten der Schülerinnen und Schüler voraus.

Ob man persönlich an Gott glaubt oder nicht, so bleibt dieser Gedanke eine gewaltige Provokation. Doch wo ein Bekenntnis erfolgt, wo also dem Gedanken, dass es einen Gott gibt, der als Schöpfer der Welt gegenübersteht, Wahrheit zugesprochen wird, zeigt sich zugleich eine Quelle von Orientierung und Sinn für das eigene Leben.

Angesichts eines solchen Gottes verliert der Mensch allerdings nicht, wie man zunächst denken könnte, seine Freiheit. Im Gegenteil erfährt der Mensch sich von diesem Gott her als frei. Zum einen, weil Gott den Menschen als ein freies Gegenüber geschaffen und gewollt hat. Gott will keine Geschöpfe, die ihn sklavisch, also unter Zwang verehren, sondern er will mit dem Menschen in einen Dialog treten und mit ihm eine Geschichte, ja, nach biblischem Zeugnis eine Liebesgeschichte anfangen. Zum anderen aber auch deshalb, weil dieser Glaube den Menschen von falschen, ihn versklavenden Idolen und Götzen befreit. Dass gerade an diesen Idolen auch heute, in einer durchrationalisierten und nüchternen Welt kein Mangel ist, ist kein Geheimnis. Denn wo Gott tot ist, glaubt der Mensch zumeist nicht gar nicht; es tritt nämlich anderes, bloß Endliches an die Stelle Gottes und kann den Menschen verstricken und ihm seine Freiheit nehmen – und sei es die Vernunft selbst, die im Rahmen einer „Dialektik der Aufklärung“ (Adorno/Horkheimer) auch zur Unvernunft werden kann. Nun – im Zeitalter des Todes Gottes – verspricht beispielsweise die Wirtschaft Heil und Erlösung – oder die Wissenschaft, die Technik, die Politik, die Macht oder auch das Selbst des Menschen, das sich, um immer göttlicher zu werden, immer weiter optimieren muss.

Im Lichte des christlichen Glaubens an Gott zerbrechen diese Idole, die die Gegenwart bestimmen, die insbesondere auch für junge Menschen belastend und einengend sein können und die ihre Heilsversprechen nie einlösen. Alles, was ist, wird nämlich durch den Gedanken eines Gottes, der als Schöpfer der Welt gegenübersteht, eingeklammert: Wie auch immer es verstanden wird, es ist nie das Ganze, und kein einzelner Teil von ihm, und sei dieser noch so groß und umfassend, kann Quelle eines letzten Sinns sein. Diese Botschaft eines ganz anderen Gottes ist antitotalitär und gerade dadurch auch für einen weltanschaulich neutralen Staat und für eine Gesellschaft, die ansonsten die Gottesfrage marginalisiert, von Bedeutung. Denn Staat und Gesellschaft bedürfen jener Menschen, die der verbreiteten Gefahr einer Absolutsetzung des bloß Endlichen widerstehen, die Einspruch erheben und, wo es notwendig wird, Widerstand leisten, wenn etwas bloß Endliches absolut gesetzt wird und dadurch der Mensch in seiner Freiheit – und auch Würde – beschränkt wird, und in denen die Kraft der Prophetie, die Hoffnung auf nicht nur irdische Gerechtigkeit und eine aus dem Geschenk der Schöpfung sich ergebende Verantwortung für andere Menschen und die Natur lebendig sind.

Der Religionsunterricht garantiert als reflektierte Form der Rechenschaft über den christlichen Glauben genauso wenig wie andere Formen kirchlichen Lebens, dass es solche Menschen gibt. Das zu erwarten, würde bedeuten, dieses Fach wie auch die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schülerinnen und Schüler zu überfordern. Vielleicht müsste man sogar selbstkritisch anerkennen, dass der faktische Religionsunterricht von diesem Ideal oft weit entfernt ist. Aber trotzdem ist es wichtig, mit dem Religionsunterricht einen „Ort“ offen zu halten, an dem sich in der Begegnung mit Gott und der Gottesfrage jene beunruhigende, den alltäglichen Horizont durchbrechende Differenz ereignen kann, auf die gerade die spätmoderne Welt angewiesen bleibt, um der allzu menschlichen Verführung, selber Götter und Idole zu schaffen, entgehen zu können.

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