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5 Wahrheit, Welt und Würde

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Die Gottesfrage zu stellen oder sie positiv zu beantworten, bedeutet kein Opfer der Vernunft. Es wäre vielmehr zutiefst unvernünftig und seinerseits Zeugnis einer bestimmten, nämlich zumindest religiös indifferenten oder gar Gott gegenüber feindlichen Glaubenshaltung, die Gottesfrage zu tabuisieren oder die Auseinandersetzung mit dieser Frage von vornherein als unvernünftig zu betrachten. Der christliche Glaube ist nicht wider- oder unvernünftig noch geht er einfach über die Vernunft hinaus, so dass man mittels der Vernunft gar nichts über den christlichen Glauben sagen könnte. Ganz im Gegenteil stehen im Christentum Glaube und Vernunft in einem engen Verhältnis zueinander, ja, in einem Dialog miteinander und bereichern einander. Es gibt Dimensionen des Glaubens, die nur im eigenen Glaubensvollzug zu erfassen sind und sich der allgemeinen Vernunft und sogar der Sprache entziehen. Aber das bedeutet nicht, dass die Vernunft angesichts des Glauben nur kapitulieren kann. Vielmehr kann sie dem Glauben helfen, sich selbst besser zu verstehen und sich so auch vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Glaube ist daher auf Vernunft hin orientiert.

Die Vernunft wird ihrerseits von einem Bezug auf den Glauben vertieft. Vielleicht ist ein starker, nicht auf bloße Konventionen oder praktische Interessen reduzierter Wahrheitsbegriff letztlich in vollem Umfang nur im Lichte des Glaubens an einen Gott zu verstehen, der selbst die Wahrheit ist. Nietzsche wusste zum Beispiel, dass, wenn es keinen Gott mehr gebe, auch ein starker Begriff der Wahrheit ins Schwanken gerate. Die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Glauben, so zeigt sich, lässt die Vernunft nicht unverändert, sondern wandelt sie und macht sie für bestimmte Perspektiven auf die Wirklichkeit offen, die ansonsten nicht eingenommen werden können. Im Lichte des Glaubens zeigt sich keine andere Wirklichkeit, sondern Wirklichkeit erscheint anders. Genau dies hat Konsequenzen für die Vernunft – im Grunde bis zu unserem heutigen Verständnis von Vernunft, das gar nicht so rein weltlich, also rein säkular ist, wie es oft erscheint. Auch für diesen Umstand – die vielfältigen Resonanzen des christlichen Glaubens in der säkularen Welt des 21. Jahrhunderts – kann der Religionsunterricht sensibilisieren.

An dieser Stelle kann ich nur kurz auf zwei in diesem Zusammenhang wichtige Aspekte verweisen, darauf nämlich, dass für die Entwicklung des modernen Weltverständnisses und des modernen Sozialstaates das Christentum – und somit eine vom Christentum geprägte Vernunft – eine wichtige Rolle gespielt hat. So hat das biblische Schöpfungsverständnis die Welt zu ihrer Weltlichkeit befreit. Sie ist als von Gott geschaffen nicht mehr etwas Göttliches und kann mittels einer autonomen, nicht von religiösen Vorgaben oder Voraussetzungen abhängigen Vernunft in ihrem Wesen gedeutet werden. Dadurch wurde eine ganz andere Form der wissenschaftlichen Erkenntnis und auch der technischen Weltbeherrschung möglich als zu jener Zeit, als die Welt selbst als göttliches Phänomen oder als Wirkort verschiedenster Göttinnen und Götter wahrgenommen wurde. Zumindest historisch hat der christliche Glaube daher eine wichtige Rolle für die Entwicklung des modernen Weltverhältnisses gespielt. Ob diese Rationalität auch Bestand haben wird, wenn der christliche Glaube lebensweltlich immer weiter an Bedeutung verliert, ist eine durchaus offene Frage.

Diese Transformation menschlicher Vernunft durch das Christentum findet sich nicht nur im Verhältnis des modernen Menschen zur Welt, sondern auch in seinem Verhältnis zum anderen Menschen, und zwar insbesondere zum armen, kranken, leidenden und sterbenden Menschen. Dass uns dieses Leid etwas angeht, dass wir gerade für die schwächsten Menschen Verantwortung tragen und ihnen barmherzig begegnen sollten, geht auch zumindest in historischer Perspektive maßgeblich, wenn auch nicht ausschließlich auf das Christentum zurück – wie überhaupt der moralische Universalismus, der allen Menschen gleiche Rechte nicht bloß zuspricht, sondern sie immer schon als Subjekte dieser Rechte versteht. Ein guter Religionsunterricht sollte auch auf diese Transformationen der Vernunft im Lichte des Glaubens aufmerksam machen, darauf, dass Wahrheit trotz aller Tendenzen zum Post-Faktischen in Politik und Gesellschaft nicht einfach eine pragmatisch geregelte Konvention ist, dass die Weltlichkeit der Welt auch von einer bestimmten Vorstellung – oder religiös: Offenbarung – Gottes abhängt und dass der Andere uns in Verantwortung ruft – auch wenn er nichts mehr kann oder erbringt.

Diese Überlegungen zeigen, was sich bereits angedeutet hat, dass sich nämlich im christlichen Religionsunterricht nicht allein die Gottesfrage, sondern auch die Frage nach dem Menschen stellt. Nach christlichem Verständnis kann man von Gott sogar überhaupt nicht sprechen, ohne zugleich auch vom Menschen zu sprechen – wie man umgekehrt nicht vom Menschen sprechen kann, ohne auch von Gott zu sprechen. Anthropologie und Theologie sind engstens aufeinander bezogen. Mit Gott und dem Glauben an ihn zeigt sich insbesondere der Mensch in anderem, einst wie heute revolutionärem Licht: als Wesen, in dem eine Differenz aufbricht, die uns von einer besonderen Würde sprechen lässt. Der Mensch ist nicht nur etwas, das zu einer bestimmten Gattung gehört, sondern in allen seinen Lebensphasen und auch in all seinen verschiedenen konkreten Exemplaren als Ebenbild Gottes ein „Jemand“, also eine einzigartige Person.

Unsere Kultur ist maßgeblich von dieser Überzeugung getragen. Doch wird sie durch verschiedene Tendenzen immer stärker hinterfragt. Während manche Denker angesichts der Erfolge der Technik vom bevorstehenden Ende des Menschen als eines freien und verantwortlichen Subjektes sprechen, sehen andere Vordenker die Möglichkeiten der Technik als eine Chance, über den Menschen hinauszugehen. Beide Optionen – die anti-humanistische und die post-humanistische – würden dazu führen, dass auch die Menschenwürde und damit die humanistische Tradition ihre Bedeutung verlieren würden. Gegen diese Aushöhlung des Humanismus, so scheint es, ist ein breites Bündnis all derjenigen, denen es um den Menschen geht, vonnöten. Das Christentum kann in diesem wichtigen Bündnis eine wichtige Stimme erheben – und so auch ein christlicher Religionsunterricht, der sich seiner Aufgaben und seines Potenzials bewusst bleibt. Sollte dies nicht (mehr) der Fall sein, sollte also der Religionsunterricht seine subversive Natur verlieren und die Spannung zwischen Unterricht und Bekenntnis, zwischen Welt und Kirche verschwinden, weil sie in die eine oder andere Richtung aufgehoben wird, wäre es besser, auf ihn zu verzichten. Dann wäre es wohl angemessener, einen guten Philosophieunterricht einzuführen. Wobei sich ohnehin die Fragen stellen, warum es keinen flächendeckenden und verpflichtenden Philosophieunterricht im deutschsprachigen Raum gibt und warum man kirchlicherseits oft eine Konkurrenz zwischen dem Fach Philosophie und dem Fach Religion anzusetzen scheint. Würden beide Fächer einander nicht befruchten? Bedürfte der konfessionelle Religionsunterricht nicht eines grundlegenden Philosophieunterrichtes? Ließe sich auf einer solchen philosophischen Grundlage nicht das Fach Religion – auch in interkonfessioneller und interreligiöser Perspektive – noch einmal ganz neu denken? Wäre das nicht eine Aufgabe für die Zukunft? Aber das sind andere Fragen …

Der Autor: Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski, Studium der Philosophie, Theologie und klassischen Philologie in Freiburg i. Br., Basel und Cambridge; Promotionen in Oxford 2002 (D. Phil.) und Siegen 2010 (Dr. phil.); nach Professuren in Washington, D.C., und Vallendar ist er seit 2020 Professor für Philosophie an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Erfurt. Wichtige Buchveröffentlichungen u. a.: Eine Frage von Irre und Schuld? Martin Heidegger und der Nationalsozialismus (2010); Menschlich sein. Philosophische Essays (2016); Tragik und Transzendenz. Spuren in der Gegenwartsliteratur (2017). 2017 erhielt er die Aquinas Medal der University of Dallas, USA.

Weiterführend Literatur:

Zum befreienden und radikal herausfordernden Charakter des christlichen Glaubens an Gott vgl. aus je unterschiedlicher Perspektive:

– Eckhard Nordhofen, Corpora. Die anarchische Kraft des Monotheismus, Freiburg 2020.

– Robert Spaemann, Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart 2007.

– Johann Baptist Metz, Jenseits bürgerlicher Religion. Reden über die Zukunft des Christentums, München–Mainz 1980.

1 Für eine äußerst instruktive Darstellung des Religionsunterrichts und seiner Möglichkeiten vgl. Gerd Neuhaus, Glückskekse vom lieben Gott? Religionsunterricht zwischen Lebensweltorientierung und Glaubensverantwortung, Regensburg 2019.

2 Vgl. hierzu u. a. A. Katharina Weilert / Philipp W. Hildmann (Hg.), Religion in der Schule. Zwischen individuellem Freiheitsrecht und staatlicher Neutralitätsverpflichtung, Tübingen 2018; Christoph A. Stumpf / Holger Zaborowski, Wertevermittlung im Verfassungsleben des weltanschaulich neutralen Staates, in: Thüringer Verwaltungsblätter 10 (1999), 197–202 (Teil 1) und 225–229 (Teil 2).

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