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5 Kommunikation in der Multiminoritätengesellschaft
ОглавлениеEs muss hier betont werden, dass im Falle Soner Ö. beim gegenständlichen Gerichtsverfahren kein juristischer Fehler moniert wird. Der Angeklagte hat eine engagierte Rechtsvertretung, die derzeit versucht, alle juristischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Vielmehr geht es uns um die jahrelange Fehlkommunikation, die zu dieser Bluttat geführt hat. Das fängt bei der Stellung der türkischen Community in Vorarlberg an: Die Mutter des Angeklagten kann heute immer noch kein Deutsch (Meinhart 2019:34), von Integration kann also nicht die Rede sein. Hinzu kommen kulturspezifische Eigenheiten wie etwa patriarchalischer Stolz oder die Einstellung zum Thema Rache. Erschwerend sind auch die Unkenntnisse der juristischen Möglichkeiten, etwa ob die damalige Abschiebung in die Türkei überhaupt rechtens war, was jetzt untersucht wird, und gerade in diesem Stadium wäre Scheibers Forderung (2019) nach einem fairen Zugang zum Recht und einer angemessenen Informationspolitik außerhalb des Gerichtssaals relevant gewesen. Auf der anderen Seite steht die Haltung der Einheimischen: Wie wird aus dem einstigen „Sonnenschein“ ein mehrfach verurteilter Drogensüchtiger (ein klassischer Fall des Kleinkriminellen nach Scheiber), dann ein abgeschobener Totalversager und schließlich ein Mörder, der in der Rolle des „Asylanten“ dafür herhalten muss, dass generell für Asylwerber die Sicherungshaft gefordert wird? Das genaue Gegenteil bietet der Fall Nour, die Flüchtlingsfamilie aus Syrien, die zunächst im Libanon aufgenommen, dann über die Caritas nach Wien eingeflogen und bis zur Weiterfahrt nach Vorarlberg betreut wird, wo dank der dortigen Institutionen und einer aufgeschlossenen Floristenfamilie eine Lehre sowie Deutschunterricht zustande kommt. Zusammenfassend: Wenn der Wille auf beiden Seiten gegeben ist, kann die Kulturproblematik durch sprachliche Unterstützung, Empathie und ausreichende Information, und nicht zuletzt Hilfe bei bürokratischen und rechtlichen Hürden sehr wohl überwunden werden.
Genau das ist in den letzten Jahrzehnten bei der Zuwanderung nach Österreich geschehen, und bekanntlich zum Wohle des Landes. Im Oktober 2011 habe ich mit Mira Kadrić ein Symposium mit dem Rahmenthema „Sprache, Identität, Translationswissenschaft“ organisiert; für den Titel ihres Vortrags prägte sie einen sehr aussagekräftigen Begriff: „Die Multiminoritätengesellschaft“ (Kadrić 2012) – so lautete dann auch der Titel der darauf folgenden Publikation (Snell-Hornby & Kadrić 2012). Die Teilnehmenden am Symposium und späteren AutorInnen dieses Bandes hatten fast alle einen multikulturellen Hintergrund im weitesten Sinn: In diesem Fall lag der Schwerpunkt auf Südosteuropa, und manche waren in den 1990er-Jahren als Flüchtlinge nach Österreich gekommen. Solche Menschen verkörpern die kulturelle Vielfalt unseres Kontinents und sind eine Bereicherung für das Land, allen voran Mira Kadrić selbst, die in den 1980er-Jahren zum Studium nach Wien kam, wo sie eine herausragende wissenschaftliche Karriere aufgebaut hat und im Fach Dolmetschwissenschaft international anerkannte Pionierarbeit leistete. In ihrem Bereich Dialogdolmetschen ging es über rein sprachliche Probleme hinaus um wichtige Aspekte der Kultur und des Rechts, nicht zuletzt, wie ihr neuer Universitätslehrgang gezeigt hat, bei Polizei und Asylbehörden und vor allem mittels „exotischer“ Sprachen. Unklar sind noch die konkreten Ergebnisse in unserer Gesellschaft: Ob sich die Asylsuchenden als gut integrierte Fachkräfte, wie die Teilnehmenden am Wiener Symposium, hier heimisch fühlen, oder ob sie, wie die Israeliten in der babylonischen Gefangenschaft, in Gedanken noch jahrelang sehnsüchtig in der verlorenen Heimat verharren, ist wohl der wesentliche Punkt. Die hier geschilderten Beispiele sprechen eher dafür, dass moderne Asylsuchende eine neue Heimat suchen und – im Gegensatz zu den Gefangenen in Verdis „Nabucco“ – ebendort in Gedanken und Träumen verharren, um Perspektiven zu finden und ein sinnvolles Leben aufzubauen, wenn man es ihnen nur erlaubt und ihnen dabei hilft. Eine eindrückliche Bestätigung dafür liefert Ivana Havelka, eine Dissertantin von Mira Kadrić, in der Danksagung an ihre Eltern am Anfang ihrer 2018 als Buch erschienenen Doktorarbeit: „Sie haben mich gelehrt, Grenzen zu überwinden und niemals aufzugeben – als einstiges Gastarbeiterkind seinen Platz in der Gesellschaft zu suchen und zu finden.“ (2018:6)