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3 Fallbeispiel Asylanhörung
ОглавлениеDas Corpus von authentischen zweitinstanzlichen Asylanhörungen, dem das Fallbeispiel entnommen wurde, stammt noch aus der Zeit der Vorläuferinstitution des 2008 eingerichteten Asylgerichtshofs bzw. (ab 2014) Bundesverwaltungsgerichts. Am sogenannten Unabhängigen Bundesasylsenat wurden insgesamt 14 Asylanhörungen mit Englisch sprechenden afrikanischen AsylwerberInnen aufgenommen, an denen fünf verschiedene EntscheiderInnen und sieben verschiedene DolmetscherInnen beteiligt waren (Pöchhacker & Kolb 2009).
An der gegenständlichen Berufungsverhandlung, die im August 2006 aufgenommen wurde, sind eine verhandlungsleitende Beamtin (VL), die promoviert ist und über Schulenglischkenntnisse verfügt, eine universitär ausgebildete (Mag. phil.) und allgemein beeidete und gerichtlich zertifizierte Dolmetscherin (D), ein nigerianischer Berufungswerber (BW) sowie eine Schreibkraft (SK) beteiligt (Abb. 1).
Abbildung 1:
Interaktionskonstellation
Zur institutionellen Ebene ist zu sagen, dass die Bestellung von DolmetscherInnen direkt durch die betreffenden BeamtInnen erfolgt. Da D Erfahrung mit der Arbeit bei Asylanhörungen hat, ist davon auszugehen, dass sie von VL wiederbestellt wurde und nicht nur eine gewisse Vertrautheit, sondern auch Zufriedenheit mit ihrer Arbeitsweise besteht.
Die Verhandlung läuft über mehr als drei Stunden (ohne Pause) und weist die typischen Strukturmerkmale einer (dolmetschervermittelten) Asylanhörung auf: Aufnahme der Daten, persönliche Hintergründe, Angabe der Fluchtgründe und Schilderung der Fluchtgeschichte, Befragung zu Fluchtgründen und -geschichte, Rückübersetzung des Protokolls. Die Schilderung der Fluchtgründe setzt nach ca. 25 Minuten ein und dauert ebenso lange. Noch bedeutend länger dauert die Befragung, in der VL die Fluchtgründe von BW auf ihre Glaubwürdigkeit prüft. Diese Phase nimmt mehr als die gesamte zweite Verhandlungsstunde in Anspruch. Rund 70 Minuten ist VL damit beschäftigt, die Plausibilitätsmängel abzuklären, die im erstinstanzlichen Verfahren zu einem negativen Asylbescheid geführt haben, während BW trachtet, seine Fluchtgründe so überzeugend wie möglich zu schildern. Theoretisch könnte dies einen kooperativen Ansatz bedingen, in dem beide Parteien gemeinsam um die Wahrheitsfindung bemüht sind. In der Praxis ist vor dem Hintergrund der hohen Ablehnungsrate nigerianischer AsylwerberInnen davon auszugehen, dass die Interaktionsziele konträr sind und VL darauf abzielt, in dem bemühten Vorbringen von BW Widersprüche zu entdecken und zu protokollieren.
In dieser Protokollierung spielt D eine unerwartet aktive Rolle. Wie an anderer Stelle ausführlich beschrieben (Pöchhacker & Kolb 2009), beschränken sich die DolmetscherInnen in den untersuchten Berufungsverhandlungen meist nicht auf das Wiedergeben der mündlichen Äußerungen, sondern sind bemüht, den Schreibkräften ein tippfertiges Diktat zu liefern. Der erste Transkriptausschnitt (Ex. 1), in dem BW sehr aufgeregt schildert, wie ihm von einem gewaltsamen Übergriff gegen seine Gefolgsleute berichtet wird, veranschaulicht diese Praxis der protokollreifen Wiedergabe, bei der von D auch syntaktische Umstellungen sowie Ergänzungen („sehr“, „denn“) vorgenommen werden.
Zu den im Weiteren verwendeten Transkriptionskonventionen: ein Bindestrich (-) markiert den Abbruch einer Äußerung; überlappende (gleichzeitige) Äußerungen sind durch parallele Unterstreichungen gekennzeichnet; Unverständliches wird durch leere eckige Klammern angezeigt; das Schwa-Laut-Zeichen (ə) steht für hörbares Zögern; Punkte zeigen ungefüllte Pausen (.. = 1 Sek.); kleine Kreise (◦◦) stehen für Tastaturgeräusche von SK, die in Sprechpausen zu hören sind (◦◦ = 1 Sek.).
Ex. 1 (19:21‒19:46)
1 | BW | So when he rushed to me I I- when he rushed to the office I w- I was sur- surprised a- what happened? What happened? He said- |
2 | D | Ich war sehr überrascht, ◦◦ als er hereingestürmt kam ◦◦ ◦◦ ◦◦ ◦◦ ◦◦ ◦◦ ◦◦ und fragte ◦◦ ◦◦ ◦◦ Doppelpunkt, Anführungszeichen ◦◦ ◦◦ Was ist denn passiert? Was ist passiert? |
Das in Extrakt 1 veranschaulichte aktive Formulierungshandeln von D gewinnt in der Phase der Glaubwürdigkeitsprüfung besondere Brisanz. Extrakt 2 zeigt deren Beginn und Gegenstand: BW gibt an, als christlicher Prediger tätig zu sein und deshalb in Nigeria von Muslimen bedroht und verfolgt worden zu sein. VL überprüft dies durch eine Wissensfrage nach christlichen Festen.
Ex. 2 (53:25‒54:16)
1 | VL | Können Sie mir einige christliche Feste nennen? |
2 | D | Would you- Could you tell us about some Christian feasts? What kind of feasts do you have in Christianity? |
3 | BW | Yeah, əm what is the[ ]s Christian we[ ] been trained for gospels. ə Like I might tell you ə I have some some some work that I have |
4 | D | Wir wurden selbst ○○ ○○ |
5 | BW | some work that I do do here ○○ ○○ |
(…) | ||
10 | D | So but- Wait! But you said you do this work here? |
Obwohl D die Frage von VL wiederholt und paraphrasiert (2), wird sie von BW offensichtlich nicht verstanden. BW bezieht die Frage stattdessen auf seine Tätigkeit und äußerst sich ‒ anfangs sehr unklar ‒ dazu (3). D ignoriert den ersten Teil der Äußerung, die wie eine Wiederholung der Frage klingt, und setzt unmittelbar danach, in einer Sprechpause von BW, mit dem Protokolldiktat ein (4), das wiederum stark portioniert ist und vor allem an SK adressiert zu sein scheint. Mangels einer konzisen Wiedergabe kann VL nicht sofort auf die unpassende Antwort reagieren. Stattdessen spricht BW in den folgenden, nicht im Extrakt gezeigten Turns weiter unklar von seiner Tätigkeit, während D den Satz für das Protokoll zu Ende bringt („dazu ausgebildet Gospels zu üben.“). Im Anschluss daran ist es aber nicht VL, die eingreift, sondern D, die BW unterbricht („Wait!“) und eine eigenständige Rückfrage zu dessen Äußerung in Turn 5 stellt. Diese dyadische Abklärung zwischen D und BW erstreckt sich über die folgenden neun Turns im Gesprächsverlauf (hier aus Platzgründen nicht wiedergegeben) und gipfelt in der Bestätigung von BW, dass er dies in Österreich tue („In Austria.“) Ohne eine Wiedergabe abzuwarten, hakt die bis dahin aus dem Gespräch ausgeschlossene VL hier mit einer Bemerkung zu D ein („Ja mich interessiert aber Nigeria“). Doch erst nachdem die Äußerung von BW zu seiner Tätigkeit vollständig für das Protokoll diktiert worden ist, kommt VL zu Wort, um rund eine Minute nach der ursprünglichen Antwort auf das Missverständnis hinzuweisen („Das war nicht meine Frage“). Diese im Befragungsablauf durchaus kritisch bedeutsame Äußerung von VL bleibt allerdings für BW unübersetzt. Stattdessen versucht D eigenständig, die ursprünglich gestellte Frage erneut zu formulieren (Ex. 3:1).
Ex. 3a (54:48‒55:12)
1 | D | No but- əm you have certain- |
2 | VL | Die Frage war ə ob er mir einfach einige Feste, die Christen feiern, nennen kann. |
3 | D | No[w], Christians celebrate certain holidays |
4 | BW | Certain holidays? |
5 | D | Holidays, feasts. |
6 | BW | Like Christmasts? |
7 | D | Yes. |
8 | BW | New Year? |
9 | D | Yes, like Christmas, |
10 | BW | New Year |
11 | D | New Year. What else? |
12 | BW | ə New Year is the death of Our Lord Jesus Christ, Christmas is the birth |
13 | VL | Ja langsam, langsam |
14 | D | Wait, wait. .. .. |
D wird in ihrem zögerlichen Versuch, zur gestellten Frage zurückzuführen, von VL unterbrochen, die diese nun explizit, aber in indirekter Adressierung, wiederholt (2). Einmal mehr aber bietet D keine direkte Wiedergabe (der Art „The question was…“). Vielmehr scheint sie mit ihrer Formulierung, in der sie die ursprünglich benutzte englische Entsprechung „feasts“ durch „holidays“ ersetzt, sogar ein neues Thema einzuführen (3). Für BW bleibt dadurch unklar, dass er eine für seine Glaubwürdigkeit wichtige Frage missverstanden hatte.
Die Rückfrage von BW (4) zeigt, dass auch der Ausdruck „holidays“ nicht sofort verständlich ist. D scheint bezüglich der Wortwahl weiter verunsichert und wiederholt den neuen Ausdruck in Verbindung mit dem zuvor benutzten (5). Unsicher ist auch noch das Verständnis von BW, der D nun aber doch, fragend und mit falsch gesprochener Endung, eine Antwortmöglichkeit anbietet (6). Wiederum folgt hierauf keine Wiedergabe der Antwort für VL (bzw. SK), sondern eine Bestätigung von deren Richtigkeit gegenüber BW. D nimmt damit wieder die Rolle der Befragenden ein und verbleibt darin, obwohl das Prüfungsgespräch nun in eine entscheidende Phase geht.
Die zunächst nur leise und tentativ geäußerte zweite Antwort von BW („New Year“) (8) wird von D nicht, wie dies in Turn 9 erneut für „Christmas“ der Fall ist, als korrekt bestätigt, wohl aber durch die Wiederholung der Wiederholung durch BW doch gleichsam ratifiziert (11). BW, der sich nun des Zwecks der Frage bewusst geworden zu sein scheint, geht über die erbetene Nennung von christlichen Festen hinaus und bietet von sich aus die Art von Erläuterung, die VL zur Überprüfung des in Zweifel gezogenen Wissens vermutlich ohnehin im nächsten Schritt verlangt hätte. Ihr Wiedereintreten in die Befragung in Turn 13 lässt jedenfalls erkennen, dass nun aus ihrer Sicht protokollierenswerte Antworten auf die gestellte Frage vorliegen. Inwiefern sich das Interesse von VL auf die Falschaussage von BW in Turn 12 bezieht, die sie möglicherweise auf Englisch verstehen konnte, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Jedenfalls geht die Aussage aufgrund des verschriftungsorientierten statt auf genaue Wiedergabe bedachten translatorischen Handlungskonzepts von D für das Protokoll verloren (Ex. 3b).
Ex. 3b (55:14‒55:57)
15 | D | əm Weihnachten [Räuspern] ○○ ○○ So .. you said Christmas is what? |
16 | BW | Is the . birth of Our Lord Jesus Christ, |
17 | D | əm Weihnachten .. .. oder mit mit Weihnachten .. .. oder Weihnachten ist die Geburt Christi, |
18 | VL | Mhm |
19 | D | Okay now, |
20 | BW | and ə |
21 | D | New Year? |
22 | BW | New Year is resurrection and ə Easter is the death of Our Lord Jesus Christ. |
23 | D | Neujahr ist die Auferstehung ○○ ○○ und Ostern ○○ ○○ der Tod ○○ |
In Turn 15, der eigentlich dem zweiten Teil von Turn 14 in Extrakt 3a entspricht, setzt D zur Wiedergabe an, was auch von SK rezipiert wird. Auffallenderweise beginnt sie mit der korrekten Antwort, während BW in Turn 12 zuerst das Neujahrsfest erläutert hatte. Als D abbricht und eine Rückfrage stellt, offenbar um sich die Aussage in Erinnerung rufen zu lassen, fragt sie wiederum nur nach „Christmas“ und gibt BW damit die Chance, zunächst eine passende Antwort zu liefern. Ob diese Hinleitung zum Richtigen bewusst erfolgt, darf bezweifelt werden; vielmehr mag es D schwergefallen sein, sich die inkohärente Verbindung von Neujahr und Tod Christi einzuprägen. Die auffallende Unsicherheit von D in Turn 17 führt einmal mehr die Ansprüche vor Augen, die sie sich beim protokollreifen Formulieren der Wiedergabe auferlegt.
Mit ihrem phatischen „Okay now“ in Turn 19 erweckt D den Anschein, als wollte sie BW ein letztes Mal für die Brisanz seiner Aussage über das Neujahrsfest sensibilisieren; jedenfalls aber ruft sie ihm diese seine Angabe in Erinnerung (21). BW hat sich mittlerweile eine andere Erläuterung zurechtgelegt, die er auch sehr flüssig formuliert und die D hier zu guter Letzt sofort und genau wiedergibt. Dass BW in den folgenden Turns, die aus Platzgründen nicht wiedergegeben werden, seine revidierte Aussage über Neujahr als Fest der Auferstehung noch argumentativ untermauert, ist dem Protokollauszug zu entnehmen, in dem die gesamte hier analysierte Prüfsequenz (Dauer: ca. 2,5 Minuten) ihren schriftlichen und entscheidungsrelevanten Niederschlag findet (Abb. 2).
Abbildung 2:
Protokoll