Читать книгу Ein Prinz für Cinderella - Группа авторов - Страница 8
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ОглавлениеAm nächsten Tag
Jahrelang, wenn ich abends alleine an dem großen Tisch im Esszimmer gesessen hatte und meine einzige Ansprache in „Ja, schenken Sie mir nach“ bestand, hatte ich mir gewünscht, mein Vater würde nicht erst mitten in der Nacht wegen eines wichtigen Geschäftsessens zurückkommen, um dann todmüde in sein Zimmer zu schleichen. Ausgerechnet an diesem Tag saß er bereits um fünf Uhr nachmittags im Wohnzimmer. Und er war stinksauer.
Als ich gutgelaunt zur Tür hereinkam, ahnte ich davon natürlich noch nichts. Unser Butler öffnete mir mit dem üblichen Pokerface die Tür und fragte mich, wie mein Tag war.
„Herrlich! Sie sollten sich auch mal eine Massage gönnen. Dieser neue Masseur ist der Hammer, ich habe mich schon lange nicht mehr so entspannt gefühlt“, plauderte ich begeistert. Mit einer Hand stützte ich mich an Cornelius ab und schlüpfte aus den unbequemen Schuhen. Ein bisschen wehmütig dachte ich an die Saison zurück, in der Ballerinas der große Trend gewesen waren.
Ein laues Räuspern aus der geöffneten Tür neben dem Eingang ließ mich erstarren.
Oh oh ... Ich hätte wohl besser eine Jammertirade über die Schufterei im Tierheim loslassen sollen.
Mit verschränkten Armen stand mein Vater in der Tür und sah mich finster an. Über seinem Kopf schwebte eine imaginäre Wolke, die ein schweres Unwetter ankündigte. Mir fielen vor Schreck die Einkaufstüten aus der Hand.
„Schön, dass es dir besser geht“, sagte er kühl, seine Augen starr auf mich gerichtet. „Dieser Masseur muss wahre Wunder bewirken, wenn er deine schwere Magenverstimmung in wenigen Stunden geheilt hat. Ich sollte mir vielleicht auch einen Termin bei ihm geben lassen.“
„Ja ... das war ...“ Ich schluckte. Eine Lüge wollte sich einfach nicht den Weg aus meinem Mund bahnen. Es war eine Sache, Cornelius im Tierheim anrufen zu lassen, damit er denen was von einer angeblichen Krankheit erzählte, aber meinem alten Herrn eiskalt ins Gesicht zu lügen, dafür war ich nicht abgebrüht genug. Ich sollte mir darin Nachhilfe von Clarissa geben lassen, dachte ich. Keine konnte so vollendet ihren engsten Verwandten eine erfundene Story auftischen und ihnen dabei ungerührt in die Augen sehen, wie diese wohlerzogene Tochter aus gutem Haus.
Da von mir nichts mehr kam, redete mein Vater weiter, „Dafür, dass du heute Morgen nicht mehr vom Klo gekommen bist und dir fast die Eingeweide rausgekotzt hast, wirkst du gut erholt.“
Ich gehörte zu den Menschen, die nur selten rot anliefen – dies war so ein Moment. Betreten schaute ich auf meine Füße und legte mir im Geist ein paar Argumente zurecht. Manchmal hasste ich den Sarkasmus meines Vaters. Trotz – oder gerade wegen – seiner Vorliebe für ironische Untertöne anstelle eines Wutausbruchs, empfand ich immer Respekt für ihn. Das machte meine Lage nicht wirklich besser. Eine seltsame Eigenschaft meines Vaters bestand nämlich darin, seinen Ärger durch kühle Überlegenheit zu äußern. In solchen Augenblicken kräuselten sich immer seine Lippen und ein Glitzern trat in die Augen. Er beherrschte Souveränität wie kein Zweiter, was mich oft wahnsinnig machte. Für jedes Argument, das ich während einer hitzigen Diskussion vorbrachte, hatte er bereits ein Gegenargument parat. Nur manchmal, wenn er wirklich wütend war, zeigte er diese Wut ungeschönt. Wäre ich nicht noch im Einkaufs- und Wellnessrausch gewesen, dann wären mir das fehlende Funkeln in den Augen und die zusammengepressten Lippen aufgefallen. Eine seltene Kombination, die ich zum letzten Mal bei ihm gesehen hatte, als er einen Geschäftsführer wegen Unterschlagung feuerte.
„Es war nur heute“, begann ich mit meiner Entschuldigung. „Ich war gestern fix und fertig und habe mich heute früh auch wirklich krank gefühlt.“
Bei ihm löste es keinerlei Verständnis aus. Ein Mann, der jahrelang nur für die Arbeit gelebt hatte, konnte nicht nachvollziehen, wie sehr ich diesen Freiheitsentzug durch die Sozialstunden verabscheute. Noch immer stand er wie die Ermahnung in Person vor mir. Sein Blick brannte sich regelrecht in meinen Kopf, zwischen den Augenbrauen trat die Zornesfalte hervor.
„Und deine Krankheit hast du mit einer Shoppingtour kuriert?“
„Nein“, sagte ich vorsichtig, „ich bin den ganzen Vormittag im Bett gelegen. Später war ich dann beim Massieren. Du sagst selbst immer, das würde Wunder wirken, wenn man krank ist, und auf dem Weg zum Auto hab ich noch schnell meine bestellten Sachen bei Gucci abgeholt.“ Keine Lüge. Eine kleine Flunkerei und Dehnung der Wahrheit.
„Nur bei Gucci?“ Seine Augenbraue hob sich ungläubig.
Ich machte gerade den Mund auf, als hinter mir die Tür ging.
„Wo wollen`s die Sachen hinhaben?“, quäkte eine Frauenstimme in typischem Münchener Dialekt.
Könnte bitte jemand die, mit bunten Kartons und Tüten vollbepackte, Taxifahrerin verschwinden lassen?
„Des is aber ein schönes Haus! In die Gegend komm ich so selten, meistens fahr i nur Innenstadt, und wenn ich doch moi nach Grünwald komm, dann derf i mir die Villen nur von außen anschauen.“
Während Cornelius ihr meine Errungenschaften aus zirka fünf verschiedenen Geschäften abnahm und die Taxifahrerin anschließend zur Tür hinaus beförderte, wollte ich diese Ablenkung nutzen, mich hinauf in mein Zimmer zu schleichen. Mein Vater stoppte mich, noch bevor ich den Fuß auf die erste Stufe setzte.
„Luziah!“
Mist. „Ja schon gut. Ich weiß selber, dass ich wieder Mist gebaut habe. Aber können wir das auf später verschieben? Ich möchte erst duschen und was essen, bevor die übliche Predigt kommt“, entgegnete ich. Was mich erwartete, war mir klar: Eine lange Moralpredigt, dann mein Versprechen, ab sofort vernünftig zu sein, gleich nach seiner Androhung einer Kreditkartensperrung.
„Ich will jetzt nicht mit diesen abgedroschenen Phrasen von wegen du musst Verantwortung übernehmen anfangen, denn das geht bei dir zum einen Ohr rein und zum anderen raus. Aber warum zum Henker kannst du nicht ...“
Er redete sich in Rage. Ich unterbrach ihn irgendwann mit den Worten, „Es kommt nicht wieder vor“, und machte einen weiteren Fluchtversuch, was seinen Blutdruck offenbar weit nach oben trieb. Zornig baute er sich vor mir auf und atmete ein paar Mal tief durch. Die nächsten Sätze knallte er mir in schneidendem Tonfall hin: „Ich will keine leeren Versprechungen mehr von dir hören. Ich habe dir in all den Jahren nicht so viele Freiheiten gelassen, damit aus dir ... das hier wird. Wahrscheinlich war es mein Fehler, dass ich geglaubt habe, du würdest bei dem ganzen Luxus normal bleiben.“
Ich schnappte nach Luft. Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt ...
„DAS HIER!?“, platzte ich heraus. Jetzt hatte ER den Bogen überspannt und zwar gewaltig! Er hielt mich nicht für normal? So hatte mich schon lange niemand mehr beleidigt, schon gar nicht mein eigener Erzeuger.
„Ganz recht: das hier. Eine verzogene, oberflächliche Partymaus, mit der Aufmerksamkeitsspanne einer ...“
„Oberflächlich?! Du kannst doch überhaupt nicht wissen, wie ich wirklich bin, wir reden ja kaum miteinander!“
„Ich kenne dich besser als du denkst. Und auch deine sogenannten Freunde, von denen ich immer schon gesagt habe, dass sie einen schlechten Einfluss auf dich haben. Ich finde es langsam zum Kotzen, dass ...“
Geschätzte fünfzehn Minuten lang standen wir uns in der Eingangshalle gegenüber und schrien uns an. Wir beleidigten uns und unsere Freunde, zwischendrin zerdepperte ich eine Flasche Cognac, die Cornelius nicht schnell genug in Sicherheit brachte, obwohl er mit seinem Tablett eine kleine Zirkusnummer hinlegte. Schließlich pfefferte ich meine cognacgetränkte Prada-Tüte gegen die Wand. Offenbar hatte sich ganz schön viel Frust in uns angestaut, der nun unkontrolliert herausbrach.
„Als ich so alt war wie du ...“
„Gott sei Dank bin ich nicht du ...“
„Solange du deine Füße unter meinen Tisch ...“
Das waren noch die harmlosesten Aussagen, dann wurde es richtig übel.
„Was heißt hier undankbar? Soll ich mich etwa freuen, weil du mich in dieses Loch zu diesen Viechern schickst?“
„Ich wollte es dir ersparen, auf einer Pflegestation zu putzen!“
„Wieso“, spie ich. „Weil du mich für eine weinerliche Tussi hältst? Glaubst du, ich halte es nicht aus, einen Opi an einer Beatmungsmaschine zu sehen?“
Noch während ich ihm diese Aussage hinknallte, bereute ich es. Mein Dad schluckte hart, seine Augen wurden zu Schlitzen.
„Du hast meinen Vater damals nicht gesehen ...“, sagte er langsam. „Der Anblick ist bei Fremden genauso schlimm, ich wollte dir den Schock ersparen.“
Das wäre der richtige Moment für eine Entschuldigung meinerseits gewesen. Den Satz mit dem Opi hatte ich nicht ernst gemeint, ich hatte vor lauter abreagieren-wollen einfach nicht nachgedacht und war zu weit gegangen. Leider war ich zu sehr in Fahrt, als dass ich noch die Kurve gekriegt hätte.
„Oh bitte, du willst nur über alles die Kontrolle behalten und mir Vorschriften machen!“
Unser Streit endete damit, dass ich meinem Vater vorwarf, er würde mich wie ein Kind behandeln. „Ab sofort lebe ich mein eigenes Leben, ob es dir passt oder nicht!“
Er rief mir noch etwas wie „Du kannst doch nicht mal alleine ein Ei kochen“ hinterher, was ich mit einem lauten Türenknallen kommentierte.
Shit und Doppelshit! Ich trat gegen die Tür meines Zimmers und holte eine Flasche Prosecco aus dem kleinen Kühlschrank neben der Couch. Wütend riss ich den Korken heraus und trank aus der Flasche. Nachdem ich die Hälfte davon intus hatte, kam ich allmählich wieder runter. Mit geschlossenen Augen saß ich auf meiner Ledercouch, von unten drang gedämpft die Stimme von Mick Jagger zu mir durch. Die Stones. Mein Vater war ein großer Fan der Rolling Stones, und wann immer er abschalten wollte, legte er eine dieser alten Schallplatten auf. Warum er sich die Songs nicht einfach als MP3 in besserer Klangqualität zulegte, verstand ich bis heute nicht.
Ich hätte jeden dieser Songs im Schlaf mitsingen können, so oft hatte ich sie die letzten dreiundzwanzig Jahre gehört. Mein Fuß wippte im Takt zu „Mothers Little Helper“, fiel mir auf. Je mehr meine Wut verrauchte, desto schäbiger fühlte ich mich. Einige Sätze unseres Streits wirbelten in meinem Kopf herum.
Oberflächliche Partymaus ... schnell weg mit dem Gedanken, bevor ich noch mehr an mir zweifle. Er hat das sicher nicht ernst gemeint.
Was er über meine Freunde gesagt hatte, konnte ich dagegen nicht so leicht herunterspielen. Clarissa und Christopher waren keine Engel, das ließ sich nicht schönreden, und mein letzter Freund war mir im Nachhinein selber peinlich. Als man das Koks bei ihm gefunden hatte und er als Hochstapler entlarvt worden war, hatte ich auch ohne den moralischen Zeigefinger meines Vaters begriffen, was für ein Fehlgriff das war. Damals war ich erst einundzwanzig und etwas naiv gewesen. Ich selbst hatte es als dummen Fehler abgehakt und ging nun sehr viel vorsichtiger an die Männer heran, wobei aktuell sowieso nichts zum Herangehen in Sichtweite war. Nur mein Vater hatte die Sache noch immer nicht verdaut, mein Freundeskreis verursachte ihm seitdem Magenschmerzen.
Ich zündete mir eine Zigarette an und lehnte mich zurück. Sie schmeckte scheußlich. Die grüne Banderole und die Menthol-Aufschrift auf der Packung waren mir beim Kauf entgangen. Irgendwo in meinen Schränken tummelte sich sicher noch eine Packung normaler Kippen, mir fehlte allerdings die Lust zum Suchen. Später würde ich mir eine richtige Zigarette ohne Hustenbonbongeschmack von meinem Vater stibitzen, beschloss ich. Er glaubte ernsthaft, ich würde es nicht merken, dass er seine was-weiß-ich-wievielte Nichtraucherphase wieder einmal aufgegeben hatte. Alle zwei Jahre nahm er den Kampf gegen seine Glimmstängel auf und verlor ihn spätestens nach ein paar Wochen.
Den nächsten Zug spülte ich mit einem weiteren Schluck Prosecco hinunter, zeitgleich setzten ein Stockwerk tiefer die ersten Takte von „I can`t get no Satisfaction“ ein.
Wahrscheinlich war es Mick Jaggers Schuld, dass aus mir kein braves Mauerblümchen geworden war, überlegte ich. Manchmal fühlte ich mich selbst wie der Kerl in diesem Song – nichts was ich tat, gab mir das Gefühl echter Befriedigung. Damit meine ich nicht sexuelle Befriedigung, die hätte ich sogar mit Christopher bekommen können. Es war vielmehr eine gewisse innere Unruhe, eine Leere, die nur nach ausgiebigen Wellnesstagen oder einer guten Party gelegentlich verschwand.
Die Musik kam mir nun noch einen Tick lauter vor. Mein Magen krampfte sich zusammen bei der Zeile über das schwarze Herz, das der Sänger mit einem Blick in sein Inneres erkannte.
Ausgerechnet jetzt mussten die Stones mein schlechtes Gewissen anheizen.
Danke Mick, Keith und Brian, dass ich mich noch mieser fühle.
Hätte ich den Kommentar über die Opis an Beatmungsmaschinen doch nur heruntergeschluckt. Warum musste mein Vater mich auch so provozieren? Er wusste genau, wie impulsiv ich war. Sein eigener Vater hatte die letzten Wochen seines Lebens an Maschinen verbracht, das muss für meinen Dad die Hölle gewesen sein. Ich war damals noch nicht geboren und dachte somit nie daran.
Ich sollte mich entschuldigen, nahm ich mir vor, denn verletzen wollte ich ihn nicht. Genau, ich würde ihm sagen, dass es mir leidtäte ...
„Verzogene, oberflächliche Partymaus.“
... am nächsten Tag. Abends. Nach dem Termin im Schönheitssalon. Das Tierheim würde einen weiteren Tag ohne mich schon überstehen, ich konnte auch am nächsten Abend damit anfangen, eine tiefsinnige, zuverlässige und gute Tochter zu sein.
„Och, Jean-Louis, kannst du nicht eine Ausnahme machen? Ich hab mir den Termin vor zwei Monaten schon reservieren lassen, da kannst du ihn doch auf Samstag verschieben.“
Mein Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, wartete ich vor meiner eigenen Haustür, dass mir jemand öffnete. Ich drückte ein paar Mal kräftig auf die Klingel, was mit fünf Einkaufstüten an jeder Hand nicht so leicht war.
„Chérie, du bist meine liebste Kundin, das weißt du doch, aber am Samstag noch einen Termin? Wie stellst du dir das vor? Da ist Rushhour für mich. Alle brauchen am Samstag einen Hairstylisten, ich glaube wirklich nicht ...“
Auch nach einem weiteren Sturmläuten blieb die Tür zu. Wo steckte denn Cornelius? Machte er zusammen mit der Köchin ein Schläfchen? Ich lugte kurz um die Ecke, ob vielleicht das Tor am Weg zur Terrasse offenstand. Es war zu und somit ebenfalls abgesperrt.
„Biiiitte“, flehte ich mit gespitzten Lippen ins Handy. „Ich weiß auch nicht, wo mir der Kopf steht vor lauter Terminverschiebungen. Die Maniküre hab ich schon abgesagt, bei meiner neuen ... Tätigkeit ... kann ich meine Nägel sowieso vergessen, und der Sport muss die nächsten Wochen auch Pause machen. Aber wenigstens meinen Haaren will ich was Gutes tun!“
Das Handy rutschte immer weiter nach unten, während ich mit meinen Tüten kämpfte und in meiner Tasche nach dem Schlüssel tastete. Am Abend wollte ich meinem Vater mein neues Brave-Tochter-Image demonstrieren, dafür hatte ich mir extra ein paar seriöse Klamotten gekauft und zwei Stunden lang in einem Straßencafé über mein Leben nachgedacht. Alleine, ohne Ablenkung durch schnatternde Freundinnen. Für das Tierheim war natürlich keine Zeit geblieben, aber das ließ sich nachholen. Nach zwei scheußlichen Latte und einem Glas Billigsprudelwasser war ich kein bisschen schlauer, dafür so durchgeschwitzt, dass ich mich am liebsten in den Zierbrunnen gesetzt hätte. Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, denn selbst wenn kein Pressevertreter in der Menschenmenge gewesen wäre (einer davon tauchte immer in den unpassendsten Momenten auf), hätte ich mit Sicherheit ein peinliches Video von so einer Aktion im Netz wiedergefunden. Die Leute mussten ja wegen jedem Pups ihre Handykameras einschalten. Nein, danke.
„Also gut“, seufzte mein Lieblingsfriseur, „ich schiebe dich noch dazwischen. Sagen wir um eins?“
„Scheiße verdammt!“
Ich ließ meine Tüten fallen und sammelte mein Handy von der Fußmatte auf. „Nein, nicht du, mir ist das Handy runtergefallen. Eins ist super! Bis denne.“
„Ich stell den Prosecco kalt. Au revoir Chérie.“
Endlich fand ich meinen Schlüsselbund. Seit ich nicht mehr Auto fahren durfte, benutzte ich ihn kaum noch. Tagsüber ging die Haustür sowieso immer automatisch auf, sobald ich die oberste Stufe des Eingangsbereiches erreichte. Wie machte Cornelius das eigentlich? Saß er den ganzen Tag am Monitor der Überwachungskamera oder hatte er Sensoren eingebaut, die im Haus ein Signal auslösten, sobald sich jemand näherte? Darüber hatte ich bis gerade eben noch nie nachgedacht. Es ist schon witzig, dass einem selbstverständliche Dinge erst dann auffallen, wenn sie nicht mehr funktionieren. Warum das Haus um vier Uhr nachmittags wie ausgestorben war, verstand ich allerdings nicht. Hoffentlich war nichts passiert ... Cornelius war nur selten krank und für sein Alter ziemlich fit ... Wie alt war dieser Mann überhaupt? Ich würde ihn mal danach fragen, nahm ich mir vor, sobald ich diese Tür aufbekam.
Hinter mir knirschte der Kies. Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter. Der Chauffeur stand am Fußende der Treppe, die Hände übereinandergelegt, und ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht.
„Können Sie mir mal helfen? Irgendwas klemmt“, forderte ich ihn auf.
Bedächtig stieg er die Stufen zu mir hoch. Der hatte die Ruhe weg. Die schwüle Hitze hier draußen war unerträglich, ein leises Grollen kündigte ein nahendes Unwetter an, und ich kam nicht in mein Haus mit der Klimaanlage und der kalten Dusche!
„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte Achim näselnd.
„Mit dem Schloss stimmt was nicht, mein Schlüssel sperrt nicht mehr auf. Hat mein Vater wieder mal die Schlösser austauschen lassen?“
Ohne mir Bescheid zu sagen! Er hätte wenigstens ein Post-it an die Tür kleben können, „Schloss ausgewechselt“.
Das war nichts Neues und kam alle paar Monate einmal vor. Mein Vater ließ seinen Schlüsselbund gerne auf Konferenztischen, in Restaurants und überall da liegen, wo sich viele Menschen aufhielten. Anstatt besser darauf aufzupassen, ließ er regelmäßig sämtliche Schlösser austauschen. Offenbar war es wieder einmal so weit.
„Himmelherrgott! Jetzt macht endlich auf!“ Ich drückte geschätzte zwanzig Sekunden lang die Klingel bis zum Anschlag durch. Als sich einige Minuten später im Haus immer noch nichts rührte, bekam ich ein mulmiges Gefühl. Schräg hinter mir stand Achim wie festzementiert.
„Kriegen Sie diese Tür auf?“, fragte ich ihn ungeduldig. Entweder dachte dieser Mensch nicht mit oder er setzte seine Gehirnzellen nur in Gang, wenn man ihm jedes Detail vorbetete. Er sah doch, dass ich ein Problem hatte, also warum unternahm er dann nichts? Nach einem giftigen Blick von mir hüstelte er zumindest verhalten. Das gefiel mir gar nicht ... Misstrauisch beobachtete ich, wie er ein Kuvert aus seinem Jackett zog.
„Ich soll ihnen das hier übergeben. Bitte nehmen Sie es nicht persönlich, ich befolge nur meine Anweisungen.“
Mit deutlich beschleunigtem Puls riss ich ihm das Kuvert aus der Hand. Ich musste den Brief mehrmals lesen, bis ich mir sicher war, nicht zu fantasieren.
Mein Liebes,
ich hoffe, du bist nicht mehr böse wegen unserem Streit. Du hattest ganz recht, ich habe dich wohl zu sehr bevormundet, bitte verzeih mir. Du bist erwachsen und sollst dein eigenes Leben führen. Deine Sachen wurden bereits in deine neue Wohnung gebracht, Achim weiß Bescheid, er wird dich hinfahren. Es ist nur ein einfaches Appartement, aber durchaus ausreichend für eine Einzelperson.
In Liebe,
dein Papa
P.S.: Bitte versuche nicht, mit deinen Kreditkarten zu bezahlen.
„Das ist ... ich ...“ Hilfesuchend blickte ich zwischen dem Brief in meiner Hand und unserem Chauffeur hin und her.
Warum sagt er mir denn nicht, dass das ein schlechter Scherz ist?!
Mit einer Hand machte er eine Geste in Richtung Auto. Wie in Trance starrte ich an seinem Arm entlang, mein Mund klappte auf und zu, meine Beine wollten sich keinen Zentimeter bewegen. Erst nach seinem „Können wir?“, erwachte ich langsam aus meiner Starre. Ich kam mir vor, als würde ich meinen Körper verlassen und uns beide beobachten, wie wir in den Wagen stiegen und die Auffahrt entlangfuhren.
Rausgeschmissen ... die Schlösser ausgewechselt ... einfach so.
Noch einmal las ich den Brief aufmerksam durch. Er triefte regelrecht vor Sarkasmus.
„Halt, bleiben Sie da vorne stehen!“, rief ich nach wenigen Minuten.
Brav hielt Achim neben einem Geldautomaten an. Ich brauchte Gewissheit und zwar gleich. Zwar hätte ich meinem Vater nicht zugetraut, dass er mich ohne Geld auf die Straße setzte, doch hatte ich bis vor zwanzig Minuten auch nicht geahnt, dass er mich nicht mehr ins Haus lassen würde.
„Nein ... nein nein nein ... fick dich!“ Ich beschimpfte den Automaten und trat mit dem Fuß gegen die Wand. Eine Frau mit einem schreienden Kind an der Hand bedachte mich mit einem kopfschüttelnden „Tse“ und zog ihren Nachwuchs auf die andere Straßenseite.
Blöde Kuh.
Mit rasendem Herzschlag und deutlich weniger Kreditkarten ließ ich mich wieder auf den Rücksitz fallen. Er hatte also nicht geblufft – mein Vater hatte alle meine Karten sperren lassen. Und bei den beiden, die der Automat nicht eingezogen hatte, war „Derzeit keine Abhebungen möglich, bitte wenden Sie sich an ihren Bankberater.“
Hektisch kramte ich die neue Zigarettenschachtel aus meiner Tasche und riss sie auf. Ich sollte nicht im Auto rauchen, doch das war mir gerade pupsegal. Wut und Fassungslosigkeit wechselten sich im Sekundentakt in mir ab. Erst die Melodie von Summer Wine aus meiner Handtasche lenkte mich ab.
Bestimmt mein alter Herr, der wissen will, ob seine Schocktherapie schon Wirkung zeigt. Gleich wird er mir sagen, das alles war nur ein Test und ich nach Hause kommen soll.
Ein Blick auf das Display zerstörte diese Hoffnung gleich wieder.
„Hi Clarissa“, meldete ich mich.
„Süüüße“, schrillte es mir ins Ohr. „Endlich gehst du mal ran, ich hab schon den ganzen Nachmittag die Wahlwiederholung gedrückt. Warst du wieder im Wellnessbad? Ich hab doch gesagt, dieser Masseur steht auf dich.“
Konnte diese Frau an nichts anderes denken als an Männer?
„Sorry, ich bin im Stress. Ich ziehe um“, sagte ich monoton. Meine finanzielle Lage verschwieg ich ihr.
„Guddiguddiguddi! Hast du doch auf mich gehört und nimmst dir jetzt ein Penthouse?“
Ich hielt mir kurz das Handy vom Ohr weg. Ihr Guddiguddiguddi brachte mich fast immer auf die Palme. Es war eine von Clarissas Wortschöpfungen und sollte Begeisterung ausdrücken. Worte wie „Schön“ oder „Super“ waren ihr vermutlich zu gewöhnlich.
„Hm, ich weiß noch nicht genau“, murmelte ich.
„Du wartest doch hoffentlich mit dem Möbelaussuchen auf mich! Ich hab da ein paar Guddi-Ideen, also überstürz nichts. Wann ist es denn soweit? “
„Jetzt.“
„Wann ... in diesem Moment? Das ist aber eine Überraschung.“
Wenn du wüsstest, wie sehr mich das überrascht hat.
„Hm ... war so eine spontane Entscheidung“, sagte ich.
Vor dem Zwischenstopp am Geldautomaten hatte sich sogar etwas Vorfreude in meine aufgewühlte Gefühlslage gemischt: meine erste eigene Wohnung. Ich würde meine Freiheit haben, könnte Leute einladen, wann mir danach war, und niemand würde mir Vorschriften machen. Ich überlegte, was mein Dad wohl für mich ausgesucht hatte. Hoffentlich ein Penthouse mit großen Fenstern und einer Dachterrasse, vielleicht sogar mit Blick auf den englischen Garten. Nur, was nützte mir das ohne Geld?
Die Vision der Traumwohnung hatte nach der Ernüchterung durch die gesperrten Karten deutlich nachgelassen. Sie verdüsterte sich mit jedem Meter, den wir uns weiter vom Mittleren Ring entfernten und in die Seitenstraßen mit alten, vom Grauschleier der Abgase gefärbten, Wohnblocks eintauchten. Am englischen Garten würde ich wohl nicht wohnen, so viel stand fest.
„Vielleicht kommen wir heute Abend noch vorbei, ich bring Champagner mit und bestell ein paar Häppchen“, kündigte Clarissa begeistert an.
„Äh ... ja, mach das. Aber ruf vorher noch mal an.“
Ich würgte Clarissa ab, als Achim das Auto an den Straßenrand lenkte.
„Wir sind da. Darf ich Sie nach oben begleiten?“
Mit offenem Mund starrte ich aus dem Fenster.
DAS war jetzt wirklich ein Scherz!