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Fragenstellen als zeitkritisches geisteswissenschaftliches Verfahren (Sandra Ludwig)

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Hinterfragt man das Prinzip des Fragenstellens als Kerntätigkeit geisteswissenschaftlichen Denkens und Arbeitens, so wird deutlich, dass es nicht nur darauf ankommt, welche Fragen gestellt werden, von welcher (Dis-)Position aus und mit welcher Intention Fragen gestellt werden (→ K. Drews), sondern auch, wann diese Fragen gestellt werden. Dieser bedeutsame Zusammenhang zwischen Frageform und Fragezeitpunkt lässt sich sinnbildlich bereits an der Denkfigur vom rechten Augenblick und ihrer etymologischen Artverwandtschaft mit den Begriffen des Kritischen und der Krise ablesen. Dies soll im Folgenden in gebotener Kürze erläutert werden.

In der griechischen Mythologie taucht die Vorstellung vom rechten Zeitpunkt bzw. vom entscheidenden Augenblick personifiziert in Gestalt der Gottheit Kairos auf. Verschiedene antike Darstellungen zeigen diesen Gott der günstigen Gelegenheit, die gleichsam von äußerst flüchtiger Natur ist, als jungen mit Flügeln versehenen Mann, der jederzeit vorbeieilen kann (s. Abb. 1).


Abb. 1: Kairos; römische Reliefdarstellung, 1. Jh. n. Chr., pentelischer Marmor, © MiC-Musei Reali, Museo di Antichità, Turin.1

Ein aussagekräftiges besonderes Merkmal des Kairos ist dabei sein Haupthaar. Fällt ihm auf der Vorderseite eine lockige Strähne über die Stirn, so ist sein Hinterkopf im Gegensatz dazu völlig kahl. Sinnbildlich wird dadurch die charakteristische Eigenschaft des rechten Zeitpunkts illustriert: Erkennt man Kairos rechtzeitig, kann man die Gelegenheit sprichwörtlich „beim Schopfe packen“, verpasst man jedoch den Moment, hat man im wahrsten Sinne des Wortes das Nachsehen, denn von hinten – oder auch ‚hinterrücks‘ – bekommt man ihn nicht mehr zu fassen und kann der vorübergezogenen Chance nur noch hinterherblicken.2 Es geht also darum, im entscheidenden Augenblick tätig zu werden. Demnach ist die Zeit in dieser Denkfigur als kritischer Faktor zu betrachten, der Erfolg von Misserfolg, Glück von Unglück und Fortschritt von Versäumnis trennt.

So verstanden offenbart sich auch die oben bereits angesprochene Bedeutungsnähe von Kairos mit der Krise und dem Kritischen; haben die Begriffe doch eine ursprüngliche etymologische Verwandtschaft, wie Christoph Lange feststellt:

Kairos ist über keiro (abschneiden) mit krinein verwandt. Das heißt scheiden, trennen, unterscheiden, aber auch entscheiden, ein Urteil fällen. Das Substantiv dazu heißt krisis. Die krisis ist die Trennung, der Einschnitt, bedeutet aber auch Entscheidung eines Wettkampfes, eines Streites, auch eines Rechtsstreites, und dann heißt krisis Gericht. Kairos ist also in seiner temporalen Bedeutung eine Krise der Zeit. Im kairos werden die Zeiten unterschieden.3

Kairos, das Kritische und die Krise teilen sich also in ihrer Bedeutung allesamt das Moment des Entscheidenden bzw. bezeichnen eine mit einem spezifischen Veränderungspotenzial versehene Situation oder Handlung. Bricht man diese Feststellung nun zurück auf den Ausgangspunkt der Überlegung, nämlich die Problematik der Rechtzeitigkeit oder der rechten Zeitlichkeit geisteswissenschaftlichen Fragenstellens, so wird deutlich, dass es sich dabei gleich in doppeltem Sinne um ein zeitkritisches Verfahren handelt.

Zum einen kommt es darauf an, den rechten Zeitpunkt für eine Frage zu erwischen. Damit eine Frage ihre Wirkmacht entfalten kann und von breiterem wissenschaftlichen Interesse ist, muss sie im richtigen Moment gestellt werden. Zu früh gestellte Fragen sind ihrer Zeit vermeintlich voraus. Das heißt, sie berühren Themenfelder oder eröffnen gedankliche Horizonte, für die die Zeit noch nicht reif, die wissenschaftliche Community noch nicht bereit ist. Zu spät gestellte Fragen haben oft ihren Neuigkeitswert verloren und taugen demnach nicht mehr dazu, Wissen zu schaffen, sondern nur noch bereits gegebene Antworten zu replizieren. Wiederholende Fragen erlangen zumeist nicht mehr die notwendige Aufmerksamkeit, um in der wissenschaftlichen Gemeinschaft Gehör zu finden. Die angesprochenen Themen sind nicht mehr zeitgemäß; Kairos ist schon um die Ecke entflohen.

Wenn das Prinzip des Hinterfragens also kritisches Denken in den Geisteswissenschaften auszeichnet, dann gehört die Kunstfertigkeit, dies zur rechten Zeit zu tun, zur guten geisteswissenschaftlichen Praxis dazu. Gerade dies kann zum Problem werden und tritt oft dann als krisenhaftes Moment hervor, wenn inner- oder interdisziplinär unterschiedliche Auffassungen über den rechten Zeitpunkt für verschiedenartige Fragestellungen existieren. Während manche epistemischen Lager eher zukunftsorientiert ausgerichtet sind, operieren andere Forschergruppen oder ganze Disziplinen mehr traditionsbewusst (→ F. Schütt). Die Kunst, in einer derartig janusköpfigen Wissenschaftslandschaft den Kairos des Fragens nicht entwischen zu lassen, bedeutet also, einen Balanceakt zwischen einer progressiven und einer konservativen Geisteshaltung zu meistern.

Auch dieser Aspekt des Fragenstellens als zeitkritischen Verfahrens findet sich in der Allegorie der antiken Götterfigur wieder. Symbolisch trägt Kairos nämlich neben den Flügelschuhen und dem besonderen Haupthaar auch das Attribut der Waage (s. Abb. 1). Besonders ist dabei, dass der Gott des entscheidenden Augenblicks die Waagschalen auf einer Klinge austariert. Der richtige Zeitpunkt ist also stets als ein instabiles Gleichgewicht zwischen zu früh und zu spät, zwischen zu viel und zu wenig anzusehen, das sprichwörtlich „auf Messers Schneide“ steht. Demzufolge kann der rechte Moment einer Frage als kritischer Zustand gelten, der sich dadurch auszeichnet, dass er selbst wiederum stets in Frage steht und nur für begrenzte Zeit die Waage hält.

Neben diesen Ausdeutungen weist die Denkfigur des Kairos aber auch noch auf einen anderen zeitkritischen Aspekt geisteswissenschaftlichen Fragenstellens hin. So erscheint nicht einzig das Ergreifen des rechten Fragezeitpunkts als Herausforderung, sondern auch das Abwägen der Zeit, die auf das Beantworten – oder vielmehr den Prozess des Abwägens möglicher Antworten – der Frage verwendet werden kann, ohne dass das gesamte Projekt kippt und damit scheitert. Gerade in einer Wissenschaftsgesellschaft, in der Zeit immer mehr zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor wird, fällt diese Seite des Fragens nicht nur symbolisch schwer ins Gewicht. Wenn es im Konkurrenzkampf unter Akademikerinnen und Akademikern nicht mehr nur um Inhalte, sondern auch um Schnelligkeit und eine möglichst umfangreiche Liste an Vorträgen und Veröffentlichungen im Lebenslauf geht, dann gilt es auf den Waagschalen des Kairos mit mehr oder weniger Fingerspitzengefühl auch Masse und Klasse gegeneinander ins Verhältnis zu setzen. So kann bei der Frage nach der rechten Beantwortungszeit einer wissenschaftlichen Problemstellung nicht mehr streng nach dem Grundsatz „Gut Ding will Weile haben“ verfahren werden, wenn die Maxime der Stunde darauf drängt, Tempo zu machen.

Dass dies eine Tendenz gegenwärtiger geisteswissenschaftlicher Praxis ist, über die es kritisch nachzudenken gilt, dürfte selbst außer Frage stehen‽ Übermäßiger und vor allen Dingen unsachgemäßer Zeitdruck kann der Qualität wissenschaftlicher Arbeiten in den meisten Fällen nicht dienlich sein. Außerdem fördern derartige Rahmenbedingungen im Sinne eines auf Effizienzsteigerung ausgerichteten, zweckrationalen Denkens vorrangig die Art von Fragen, die vermeintlich möglichst schnell zu beantworten sind. Komplizierte Fragen, deren Bearbeitung vergleichsweise mehr Zeit in Anspruch nimmt, werden seltener oder vielleicht sogar in dieser Form gar nicht mehr gestellt. Wenn sich die Geisteswissenschaften ihrem Selbstverständnis nach also gegenüber anderen Fächern dadurch auszeichnen, dass sie eine besondere Kultur des Fragenstellens pflegen, die der Eigendynamik des dadurch initiierten Denkprozesses Entfaltungsspielraum lässt (→ Einleitung), dann erscheint es kritisch betrachtet sehr fraglich, wenn sie sich dabei unterschwellig einem ökonomischen Prinzip unterwerfen.

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