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Kritische Theorie

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Wenn heute in den Geistes- und Sozialwissenschaften von Kritik und kritischem Denken die Rede ist, dann darf der Hinweis auf eine Richtung des gesellschaftskritischen Denkens nicht fehlen, die auf die Zeit Mitte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückgeht: die Kritische Theorie der Gesellschaft. Mit der Aufnahme der Leitmotive im Denken von Karl Marx und dessen Kronzeugen Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat sie sich die konsequente Kritik aller Formen von Herrschaft und gesellschaftlicher Entfremdung zum Programm gemacht. Unter dem Namen Frankfurter Schule sollte sie eine der wirkungsmächtigsten Varianten des Marxismus im 20. Jahrhundert werden. Die Namen ihrer philosophischen „Gründerväter“ Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sind – mit Titeln wie Dialektik der Aufklärung, Kritik der instrumentellen Vernunft, Negative Dialektik,1 aber auch mit der Ästhetischen Theorie (dem letzten, posthum veröffentlichten Werk Adornos, in dem die Kunst zur letzten Instanz der Gesellschaftskritik in einem aussichtslos verstellten Zustand gesellschaftlicher Negativität erklärt wird)2 – wohl die berühmtesten. Zu nennen ist aber auch Herbert Marcuse, der nach Jahrzehnten des Wirkens in den USA mit seinen gesellschafts- und kulturkritischen Büchern, in denen er das analytische Instrumentarium der marxistischen Gesellschaftskritik durch die Einsichten der Freud’schen Psychoanalyse zu schärfen suchte, Ende der 60er Jahre zu einer der wichtigen Bezugspersonen der kalifornischen und der europäischen Studentenbewegung wurde.3

Nachdem sich die Erschütterung über die Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts, über die nationalsozialistische Herrschaft, den Zweiten Weltkrieg, den Völkermord an den Juden und den Vietnamkrieg, bei der ersten Generation der Denker der Frankfurter Schule in der radikalen Kritik einer als Instrument der Herrschaft völlig disqualifizierten Vernunft niedergeschlagen hatte, sollte dem produktivsten und einflussreichsten Kritiker der folgenden Generation: Jürgen Habermas, das Verdienst zukommen, durch eine neue Grundlegung der politischen Ethik das Vertrauen in die immer auch kommunikative und normative Kraft der Vernunft zurückzugewinnen und damit nicht zuletzt die Möglichkeit von Kritik vor dem performativen Selbstwiderspruch einer völligen Verwerfung der Vernunft in Sicherheit zu bringen.4

Bei allen Differenzen und Differenzierungen teilen diese Autoren (und eine stattliche Reihe weiterer, die im Rahmen einer eingehenden Auseinandersetzung zu nennen wären)5 generell das Programm der Kapitalismuskritik – und speziell gemäß der von Marx aufgenommenen Intuition, dass die Organisationsstrukturen des ökonomischen Wirtschaftens sich prägend auf die Lebensformen einer Gesellschaft auswirken, die Kritik aller gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Formen des menschlichen Bewusstseins und der kommunikativen Praxis, in denen sich Unfreiheit und illegitime Herrschaftsstrukturen geltend machen. Wenn an der so genannten Basis die arbeitsteilige Organisation der ökonomischen Produktion auf ungleiche Eigentumsverteilung und die darauf beruhenden Herrschaftsverhältnisse aufgebaut ist, dann teilen sich diese Herrschaftsstrukturen dem Bewusstsein der Menschen mit: ihrem Denken, Fühlen, Handeln, ihrer kommunikativen Praxis, und das gesamte Zusammenleben in allen seinen sozialen, politischen und kulturellen Formen – der gesamte Überbau – wird die Züge dieser Herrschaft annehmen. In einer warenproduzierenden Gesellschaft werden vermittelt über das Bewusstsein der in Arbeits- und Konsumsphäre verbundenen Menschen schließlich alle menschlichen Verhältnisse und Verhaltensweisen Züge der Warenproduktion, des Warenbesitzes und des Warentauschs tragen.6 Diese Vorstellung skizziert Marx in einem Lehrstück, das seine Leser und Interpreten den „dialektischen Materialismus“ genannt haben, und die in diesem Titel behauptete Dialektik wäre nicht Dialektik, wenn es sich in diesem Verhältnis von Basis und Überbau nicht um ein Wechselverhältnis handelte – wenn es nicht auch eine Rückwirkung des Überbaus auf die Basis gäbe, des Bewusstseins auf die basalen Verhältnisse, von denen es geprägt ist. Hier muss eine kritische Theorie wie die hier vorgestellte ihre Chance sehen: ihre Chance auf Veränderung des Bewusstseins und der Lebensformen durch Aufklärung und kritische Analyse am Leitfaden der Idee von Herrschaftsfreiheit.

Den Ansätzen und Differenzierungen innerhalb der kritischen Theorie der Gesellschaft in dem einen und anderen Punkt ein Stück weit kritisch nachzugehen, wäre ein interessanter Einstieg in ein weites Feld der sozialwissenschaftlich informierten Gegenwartsphilosophie und ihrer Resonanzen in der Literaturwissenschaft, in der Kunst-, Architektur- und Filmkritik, und in der Musikwissenschaft. Nach der einleitenden Erinnerung an eine bis heute produktive und einflussreiche Theorie, die ihr Selbstverständnis im programmatischen Begriff der Kritik artikuliert, soll der folgende Beitrag sich jedoch auf einen Philosophen konzentrieren, dessen wahrhaft radikaler Ansatz am Grunde des modernen Selbstverständnisses steht und den man als den großen Kritiker schlechthin ansprechen darf. Kritik der Vernunft – und dabei unter anderem auch Kritik der Gesellschaft – ist das Programm, das damit in den Blick gerät.

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