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Schluss: Die Aktualität von Kritik und Aufklärung

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Wie fällt heute unsere Antwort auf die Frage aus, die Kant in seinem Aufsatz von 1784 mit illusionsloser Zuversicht so differenziert beantwortet hat? Auch wir, selbst als Bürger einer globalisierten Welt, einer jahrzehntelangen Erfolgsgeschichte der Demokratisierung und der Einhegung des Krieges, einer weltweiten Ausdehnung des öffentlichen Kommunikationsnetzes auf der Basis einer technologischen Entwicklung, die zugleich die schlimmsten Formen harter Arbeit und epidemischer Krankheiten abzuschaffen geholfen hat, können die Frage, ob wir in einem aufgeklärten Zeitalter leben, nur verneinen. Denn unter den Bedingungen polarisierter wirtschaftlicher und politischer Machtinteressen und asymmetrischer Verteilung von Ressourcen aller Art müssen wir uns selbst in einer Entwicklungsdynamik, die man unter Kantischer Optik in der Orientierung an den Ideen von Freiheit und Frieden1 als Fortschritt ansprechen würde, offenbar jederzeit auf Rückschläge gefasst machen. Dabei ist es gar nicht einmal sicher, ob wir uns angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Problemlage immerhin zutrauen dürfen, auch den zweiten Teil der Antwort noch wie Kant zu formulieren: Nein – aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Ob wir weiterhin wenigstens in einem Zeitalter der Aufklärung leben, dürfte zu einem entscheidenden Teil davon abhängen, ob wir es uns zutrauen, an der Idee der Kritik – und an der Kraft zu ihrer praktischen Umsetzung festzuhalten.

Selbstverständlich ist das nicht. Das Interesse an Aufklärung hat sich zeitgenössisch in einem Spannungsverhältnis der Extreme zu bewegen: Auf der einen Seite steht das historische Bewusstsein, dass die Herrschaftsverhältnisse eines monarchisch regierten Staates mit eingeschränkter politischer Partizipation der Bürger der Vergangenheit angehören. Wir leben in einem Verfassungsstaat, der sich als parlamentarische Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht, Gewaltenteilung und Minderheitenschutz und unter den Bedingungen freier Öffentlichkeit organisiert. Auf der anderen Seite steht der Einwand, dass sich die Verhältnisse in der Welt seit Kants Zeiten nicht verbessert hätten, ohne sich zugleich verschlimmert zu haben: Das Netz der anti-aufklärerischen Kräfte hat sich in Zeiten der hochtechnologisch instrumentierten Globalisierung verdichtet, die Formen der Herrschaft sind teils drastischer, teils unsichtbar geworden. Doch als Epochendiagnose tragen solche Einsichten auch dann nicht, wenn die Analyse richtig sein sollte. Denn wo eine solche Einschätzung möglich wird, hat immer schon kritische Erkenntnis stattgefunden – und wo diese möglich ist, da ist es auch möglich, die Kritik methodisch und zielstrebig weiterzuführen. Wir haben es dabei allerdings in einem Punkt mit erschwerten Bedingungen zu tun: Es gibt in der heutigen Welt Kräfte der Bevormundung, der Unmündigkeit, der Manipulation, von denen der Zeitgenosse des 18. Jahrhunderts sich noch nichts träumen ließ. Und diese Kräfte wirken mit einem beständigen Angebot auf uns ein, in dem sich Wissen (unter dem bezeichnenden Titel der „Information“), Unterhaltung und die Suggestion basisdemokratischer Meinungsbildung in einer schwer durchdringlichen Melange durchmischen, sodass wir gut daran tun, das Programm der Kritik der Vernunft zu verstärken und zum einen den Aspekt der Selbstkritik, der in Kants Ansatz der Vernunftkritik so stark gemacht ist, noch um einiges zu intensivieren; es zum anderen zu erweitern mindestens um die Kritik der Rhetorik öffentlichen Sprechens und die Kritik der manipulativen Bilderflut.

Die Anlässe für kritisches Denken in aufklärerischer Absicht sind somit nicht weniger geworden. Wir müssen offenbar mehr denn je bereit sein, im Prinzip alle Instanzen in der Welt (so wie Kant die Religion und die Gesetzgebung) der kritischen Prüfung der von ihnen erhobenen Geltungsansprüche zu unterziehen. Das ist in jedem Fall ein anstrengendes Unternehmen, das neben sensibilisierter Aufmerksamkeit, klaren Erkenntnissen und Entschiedenheit auch Ausdauer, Disziplin und Frustrationsresistenz verlangt. Faulheit und Feigheit2 sind da auch weiterhin die Versuchungen, die einen dazu bewegen können, es sich in der Anpassung bequem zu machen. Wer wollte behaupten, dass Kants Rede vom „Mut“, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, hier veraltet wäre?

Kritisches Denken

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