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Diagnose: Gesellschaftlich unbrauchbar mit Aussicht auf Heilung. Analyse und Kritik der heutigen Psychiatrie in ihrer Parteilichkeit für die herrschenden bürgerlichkapitalistischen Verhältnisse
ОглавлениеSohvi Nurinkurinen/Lukaš Lulu
Dass die steigende Anzahl von Depressionen und anderen diagnostizierten Störungen für die vorgestellte nationale Gemeinschaft ein Problem darstellt, darüber hat sich – gut informiert durch die verschiedenen Medien – mittlerweile jede_r eine Meinung gebildet. Je nach politischer Couleur und professioneller Perspektive fallen die Urteile über das Problem verschieden aus: Wo die einen an das psychologische Selbstmanagement der Staatsbürger_innen appellieren, vermuten die anderen, ein bisschen zu viel (oder nicht so ganz der richtige) Kapitalismus führe zum kollektiven »Burnout«, und wünschen sich darum eine starke öffentliche Hand, welche die vom rechten Wege Abgefallenen einsammelt und wieder aufpäppelt. In einem sind sich jedoch fast alle einig: Das an einer Störung leidende Individuum stellt nicht nur für sich ein Problem dar, sondern geht alle an, die am Wohlergehen der Gemeinschaft interessiert sind. Von diesem Standpunkt aus blickt die interessierte Öffentlichkeit im Allgemeinen und das psychologisch-psychiatrische System im Speziellen auf die, die nicht (mehr) recht mitmachen wollen oder können. Im Vergleich zwischen denjenigen, die tagtäglich munter mitmachen, ihre kapitalistische Verwertung als Bewährungsprobe betrachten und auf die nicht ausbleibenden Misserfolge mit einer Anpassung ihrer Erwartungen und Intensivierung ihrer Anstrengungen reagieren, und denjenigen, die dies nicht (mehr) können oder wollen, kommen Psychologie und Psychiatrie zum tautologischen Schluss: Nicht-Normale sind nicht normal, da sie nicht sind, wie es sich gehört. Was nun genau mit dem gestörten1 Individuum nicht in Ordnung ist und warum, sowie, wie ihm am besten zu helfen, d.h. seinem Nicht-Funktionieren beizukommen ist, darüber wird gestritten, was das Zeug hält.
Der folgende Text beginnt an dem Punkt, an dem der psychologisch-psychiatrische Blick das erste Mal auf das Individuum trifft: der Diagnostik. Anhand des Störungsbildes »Depression« und dessen Symptomen werden die allgemeinen Denkfehler erläutert, welche zu Grunde liegen, wenn von psychischen Störungen die Rede ist und selbige fremd- und selbstdiagnostiziert werden. Hierzu wird das Augenmerk auf die psychiatrische Standardprozedur gelenkt, welche die Störung als Abweichung von einer inhaltlich zu bestimmenden Norm betrachtet. Der Überführung der Diagnostizierten in die Abteilung der Wiederherstellung psychischer Gesundheit widmet sich der zweite Teil. Aufbauend auf der tautologischen Vorstellung – die Depression verursacht die gefundenen depressiven Symptome – wird der Fortgang dieser falschen Erklärungsweise in der psychiatrisch-psychologischen Behandlung der diagnostizierten Störung nachgezeichnet. Hierzu werden zwei Behandlungsansätze – der pharmakologische Ansatz und die kognitive Verhaltenstherapie – auf ihre jeweiligen Ursachenvorstellungen hin untersucht. Inwieweit die an dieser Stelle entwickelten allgemeinen Kritikpunkte auch auf andere Behandlungsformen übertragbar sind, bleibt in diesem Text unbeantwortet, wird aber unter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten von den Autor_innen angenommen. Letztendlich wird im dritten Teil der Analyse der Frage nachgegangen, in welchem Verhältnis das psychiatrisch-psychologische System mit seinem Menschen- und Weltbild, Diagnose- und Behandlungsmethoden zur modernen staatlich-kapitalistischen Herrschaft steht. Mit der Ausformulierung der gesellschaftlichen Bedingungen, an denen sich die einzelnen Konkurrenzsubjekte bis zum möglichen physischen und psychischen Kollaps abzuarbeiten haben, werden einige der anfangs im Störungsbild der Depression aufgelisteten Symptome auf die real-existierende Welt inhaltlich bezogen. Damit wird zugleich die Möglichkeit einer anderen gedanklichen Stellung zu den herrschenden Verhältnissen aufgezeigt sowie die Notwendigkeit ihrer Überwindung unterstrichen. Viele Menschen nehmen das Angebot der psychiatrisch-psychologischen Behandlung als Hilfe für ihre psychischen Probleme wahr. Ihr psychisches Leiden in seinen individuellen Formen soll nicht geleugnet werden. Nicht zuletzt hoffen die Autor_innen, mit dem vorliegenden Text auch dazu beitragen zu können, dass Hilfe Suchenden ein Stück weitergeholfen ist, wenn sie wissen, mit welchen theoretischen Ansätzen sie praktisch konfrontiert werden.