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Norm und Normabweichung
ОглавлениеNeben dem Aspekt der klinischen Erkennbarkeit kennzeichnet die oben genannte Definition psychischer Störung, dass die ihr zugehörigen Symptome »sowohl individuell als auch im sozialen Bereich mit Behinderungen und Beeinträchtigungen verbunden« seien. Was an dieser Stelle recht vage als individuelle und soziale »Behinderung und Beeinträchtigung« erscheint, lässt sich an der folgenden Vier-Punkte-Definition psychischer Störung deutlicher aufzeigen:
Unter einer Störung werden Symptome oder Symptommuster im Denken, Erleben und/oder Handeln einer Person verstanden, die von der Norm abweichen, zu einer Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit und/ oder sozialen Aktivitäten führen, durch ausgeprägtes Leiden gekennzeichnet sind und die bei den Betroffenen ein Änderungsbedürfnis hervorrufen. (Renneberg/Heidenreich/Noyon 2008: 21, Hervorh. i.O.)5
Entscheidend dafür, ob ein beobachteter Symptomkomplex als psychische Störung behandelt wird, ist also – neben subjektivem Leiden und Änderungsbedürfnis – die Normabweichung und eine Beeinträchtigung, hier genauer spezifiziert als »Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit und/oder sozialen Aktivitäten«. Als relevante Normen, von denen ein Verhalten in klinisch relevanter Weise abweichen kann, gelten in der psychiatrischen Diagnostik einerseits die statistische Norm, d.h. der Durchschnitt einer Vergleichsgruppe, meist einer »repräsentativen Eichstichprobe« der Gesamtbevölkerung, und/oder die sogenannte »modifizierte funktionale Norm«, welche »subjektive[s] Wohlbefinden einerseits wie auch […] objektivierbare Leistungsfähigkeit andererseits« (Payk 2007: 51, Hervorh. i.O.) berücksichtigt.6 Normalität in diesem Sinne kennzeichnet psychische Gesundheit als Gegensatz zu psychischer Gestörtheit wie folgt: 1. Die betreffende Person weist eine objektivierbare Leistungsfähigkeit (z.B. im Bereich der Veräußerung ihrer Arbeitskraft) auf, welche sich aus den Anforderungen der kapitalistischen Gesellschaft ergibt. 2. Bei der Anwendung ihrer Leistungsfähigkeit fühlt sich die Person subjektiv wohl. Eine Abweichung von der modifizierten funktionalen Norm bezeichnet also selbst nichts anderes als eine Beeinträchtigung in den als relevant markierten Leistungsbereichen und/oder einen Mangel an subjektivem Wohlbefinden. Die als Kriterium verwendete Norm, nach der entschieden wird, ob eine psychische Störung vorliegt oder nicht, kennzeichnet (zunächst einmal unabhängig vom empirischen Durchschnitt der Gesamtbevölkerung) den Idealtypus des fröhlich funktionierenden bürgerlichen Subjekts in der kapitalistischen Gesellschaft:
Zusammenfassend entspräche psychische Gesundheit am ehesten der individuellen Fähigkeit, sich realistisch den Anforderungen des Lebens ohne erschöpfendes Beanspruchtwerden stellen und ihnen innerhalb der zugehörigen Gesellschaft mit Selbstachtung und Durchhaltevermögen bei persönlicher Zufriedenheit nachkommen zu können. (Payk 2007: 51, Hervorh. i.O.)
Die genannten und nicht weiter ausgeführten »Anforderungen des Lebens«, welche je nach Gesellschaft und innerhalb dieser je nach Personengruppe, sozialer Position, Geschlecht usw. stark variieren können, werden als gegeben und unveränderlich gesetzt. Diesen nachzukommen gilt als vernünftiger und nicht weiter erklärungsbedürftiger Lebensinhalt eines und einer jeden. Egal welchen Platz man in dieser Gesellschaft zugewiesen bekommen hat, man soll sich dessen »Anforderungen« (bzw. Zumutungen) nicht nur stellen können (was zu einer »individuellen Fähigkeit« erklärt wird) und wollen, sondern soll sich dabei »persönlich zufrieden« fühlen. Dabei wird dieses »Sollen« nicht als der Imperativ ausgesprochen, der es ist, sondern als im Grunde selbstverständliche Norm gesetzt, als gleichsam erwünschtes, vor allem aber als natürlich-menschliches Verhalten. Die empirische Tatsache, dass diese Norm (durchschnittlich) mehr oder weniger von den meisten Leuten die meiste Zeit über halbwegs erfüllt wird, sich modifizierte funktionale und statistische Norm also in der Regel einigermaßen decken, verleiht ersterer nicht etwa die Weihe einer »neutraleren«, weil rein rechnerischen Norm, sondern gibt lediglich Auskunft darüber, dass es einem Großteil der Bevölkerung in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in ausreichendem Maße gelingt, die ihm nahegelegten Anforderungen und Zwänge nicht nur zu erfüllen, sondern sich diese auch als persönliche Lebensaufgabe zu eigen zu machen und damit einzurichten. Die statistische Norm dient also als legitimatorische Absicherung der eigentlich entscheidenden modifizierten funktionalen Norm, was sich besonders anschaulich an Fällen ausweisen lässt, in denen statistische und modifizierte funktionale Norm auseinanderzufallen drohen: So werden etwa Intelligenztests statistisch in regelmäßigen Abständen an repräsentativen Stichproben re-normiert, damit stets eine sogenannte Normalverteilung der Intelligenz in der Bevölkerung vorzufinden ist. Intelligenztests werden so konzipiert, dass stets genau gleich wenig als unter- und als überdurchschnittlich intelligent diagnostizierte Personen sowie eine Ballung im Bereich mittlerer Intelligenz existieren. Während »Intelligenzminderung« nach ICD-10 als psychische Störung bzw. als Symptom verschiedener Störungsbilder gilt, gilt dies nicht für »überdurchschnittliche Intelligenz«, da mit dieser üblicherweise keine Funktionsbeeinträchtigung in den für die Psychodiagnostik interessierenden Bereichen einhergeht. Die modifizierte funktionale Norm liefert also den Maßstab dafür, ob eine statistische Normabweichung als eine psychische Störung oder als ein Symptom einer psychischen Störung gilt, wie »Intelligenzminderung«, oder nicht, wie »Hochintelligenz«. In anderen Fällen spielt die statistische Norm eine stärker untergeordnete oder gar keine Rolle. Die Symptomkataloge der Klassifikationssysteme und die damit korrespondierenden diagnostischen Verfahren zur Depressionsdiagnostik kommen weitestgehend ohne statistischen Vergleich aus und beziehen sich eindeutig auf die modifizierte funktionale Norm.
Psychologie und Psychiatrie sind sich der prinzipiellen Veränderlichkeit, zumindest der empirisch nicht von der Hand zu weisenden historischen Veränderung der modifizierten funktionalen Norm bewusst – »Welche Verhaltensweisen als psychische Störungen bezeichnet werden, ist abhängig von gesellschaftlichen Werten und Normen. Damit unterliegt der Begriff den Einflüssen des kulturellen und geschichtlichen Kontextes und dessen Wandels« (Bastine 1998: 151) –, allerdings hat sie ihrer Funktion für diese Gesellschaft gemäß keinen Begriff davon, um welche diffusen »Einflüsse des kulturellen und geschichtlichen Kontextes« es sich dabei handeln könnte bzw. wie und vor allem in wessen Sinne diese abstrakt bleibenden »gesellschaftlichen Werte und Normen« zustande kommen – womit sie ihrer Parteilichkeit für die jeweils herrschenden Normen entspricht.