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»Alles ist irgendwie komplexer …«

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Beide Behandlungsmethoden haben gemeinsam, dass sie entweder organische, psychische oder soziale Bedingungen als Ursachen für die Entstehung einer depressiven Störung annehmen. Zwischen ihnen besteht allerdings große Uneinigkeit, welche der angenommenen Bedingungen nun die entscheidenden seien. Grundsätzlich wird zwischen dem organisch-medizinischen und dem psychosozialen Erklärungsmodell unterschieden. Die in der psychiatrischen Diagnose erfassten Abweichungen vom Normalverhalten werden im ersten durch organische und im zweiten durch psychosoziale Störungen oder Schädigungen erklärt. In den letzten Jahrzehnten ist das Pendel je nach gesellschaftlicher Großwetterlage in die eine oder die andere Richtung ausgeschlagen. Bemerkenswerterweise besteht die Hauptkritik der einen Richtung an der anderen darin, dass sie nicht in der Lage sei zu erklären, wie sich denn die jeweils angenommenen Ursachen in psychische Erscheinungen umsetzen würden. »Trotz intensiver Forschungen der letzten Jahrzehnte sind die Ursachen und Mechanismen der Depression noch weitgehend unbekannt« (Hamann/Warrings/Deckert 2011: 11). Um diesen fehlenden inhaltlichen Nachweis zu beheben, bedienen sich beide Richtungen wiederum derselben Beweistechnik. Mithilfe der Korrelationsstatistik, die den Zusammenhang zwischen Variablen untersucht, soll das Erklärungsdefizit behoben werden. Aufgrund der zeitlichen Aufeinanderfolge von zwei Ereignissen oder ihrem gehäuften gleichzeitigen Auftreten wird auf die Existenz eines inhaltlichen Zusammenhangs geschlossen. Jedoch ist durch das gemeinsame Auftreten zweier Erscheinungen noch lange nicht der inhaltliche Nachweis erbracht, dass die eine Erscheinung die Ursache für die andere ist. Dass bei denjenigen, die im kapitalistischen Alltag auffällig geworden sind, in einigen Fällen andere biochemische Prozesse messbar sind als bei den fröhlich Mitmachenden, ist kein Beweis für die organische Ursachenbehauptung. Vielmehr findet hier eine Übersetzung der psychischen Tätigkeit in seine physischen Grundlagen statt. Unterschiedliche Gedanken und Gefühle könnten durchaus an verschiedenen Stellen des Gehirns repräsentiert sein und zu verschiedenen Stoffwechselvorgängen führen. Dasselbe Phänomen wird auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet.

Keine der genannten miteinander konkurrierenden Richtungen kann angeben, dass ihre unterstellten Ursachen notwendig die zu erklärende Erscheinung hervorbringt. Verschiedene Studien geben daher lediglich Wahrscheinlichkeitswerte für das Auftreten einer Erscheinung bei gleichzeitigem Vorliegen der angenommenen Ursache an. Wenn beispielsweise davon die Rede ist, dass Kinder von Eltern mit der Diagnose Depression mit einer Wahrscheinlichkeit von 10-15% auch an einer Depression leiden werden, dann beweisen die restlichen 90-85%, dass trotz des Vorliegens einer derartigen Vorgeschichte diese nicht notwendig zu einer Depression führt. Ähnlich verhält es sich in Bezug auf angenommene Umweltbedingungen:

Stress und belastende Lebensereignisse sind mittlerweile anerkannte Umweltfaktoren, die eine depressive Erkrankung triggern können. Da die Reaktionen auf Stress allerdings extrem unterschiedlich sein können, bleibt bis jetzt unklar, welche Individuen unter ›Belastungen‹ an Depression erkranken. (Hamann/Warrings/Deckert 2011: 17)

Vielmehr handelt es sich hier abermals nur um eine Bedingung. Wie sich ein Mensch zu dieser gedanklich stellt und zu welchen eigenen Überzeugungen er gelangt, ist prinzipiell offen. Um dennoch an der Unterstellung, die psychische Störung müsse durch innere oder äußere Ursachen bewirkt worden sein, festhalten zu können, werden weitere Ursachen gesucht, die ihrerseits Einfluss auf die Entstehung einer Depression haben sollen. Vertreter_innen der organischen Ursachenlehre führen nun beispielsweise psychische und soziale Ursachen ins Feld, die dafür verantwortlich sein sollen, dass der von ihnen unterstellte organische Ursache-Wirkungs-Zusammenhang auftritt oder nicht. Neben den organischen sind nun auch Faktoren wie Umweltreize und gestörte Kognitionen, die wiederum durch die Umwelt hervorgebracht wurden, mit in die Ursachenerklärung einzubeziehen. Alles ist irgendwie komplexer, bedingt und verstärkt sich gegenseitig, und die angenommenen Ursachen tragen mit unterschiedlicher Gewichtung zur Entstehung der Depression bei. Die Suche nach den begleitenden Umständen und der Mangel jeder einzelnen Bedingung, nicht hinreichend die erklärungsbedürftige Erscheinung begründen zu können, führte dazu, dass von dem ehemaligen linearen Ursache-Wirkungsmodell vermehrt abgesehen wurde, und an dessen Stelle das biopsychosoziale Rahmenmodell trat. Das Faktorenkarussell dreht und dreht sich immer weiter um die Determiniertheits-Achse, bis es vollständig mit der Multikausalitäts-Annahme abhebt.

Mit der allgemeinen Behauptung, die natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen seien die Ursache für das menschliche Denken und Handeln, wird die zu erklärende psychische Erscheinung auf etwas anderes zurückgeführt. Anzugeben, dass für die Depression das menschliche Gehirn vorhanden sein muss oder dass sie von Umständen abhängt, unter denen sie sich entfaltet, ist erstens banal und zweitens heißt das noch lange nicht, sich die Depression inhaltlich erklärt zu haben. Stattdessen verfolgen diese Erklärungsansätze die niemals zu beendende Aufgabe, erst alle Bedingungen zu finden, um dann zu erklären, warum ein Mensch dieses oder jenes tut. Damit gehen diese wissenschaftlichen Richtungen aber an ihrem Gegenstand – der subjektiven Geistesleistung – vorbei. Jeder Mensch kann sich zu den jeweiligen Bedingungen verhalten. Er kann diese akzeptieren, sie zur Grundlage seines Denken und Handelns machen, sie verwerfen oder schlicht nicht beachten. Warum er dieses oder jenes denkt oder tut, wird nicht von Bedingungen hervorgebracht, sondern beruht auf der eigenständigen Leistung des jeweiligen Menschen. Insgesamt betrachtet wurde sich von dieser eigenständigen Leistung weit entfernt. Schon während der Diagnoseerhebung kommen nur diejenigen subjektiven Äußerungen in Betracht, die der Zuordnung zu einem Störungsbild dienlich sind. Mit der anschließenden Behauptung, die Störung sei gegenüber den festgehaltenen subjektiven Äußerungen etwas Selbstständiges und bringe diese hervor, ist bereits die erste Ursachen-Instanz in der Welt: Die Depression gilt als Ursache, dass der Mensch nicht mehr die Fähigkeit besitzt, sich den Anforderungen dieser Gesellschaft zu stellen und dabei mit einem Lächeln durch die Welt zu laufen. Als etwas Selbständiges bedarf es aber wiederum der Erklärung, wie die Störung in die Welt – oder besser: in den Menschen – gekommen ist. An deren Entstehung sollen »sowohl soziale als auch psychologische und biologische Faktoren« (Birbaumer/Schmidt 1999: 658) irgendwie beteiligt sein. Der Mensch wird damit zur abhängigen Variable von etwas anderem erklärt.

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