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1. Diagnose: Gesellschaftlich unbrauchbar … Klassifikation und Diagnostik
ОглавлениеIn der Lehre von den psychischen Krankheiten, der Psychopathologie, und deren Teilgebiet, der psychologisch-psychiatrischen Diagnostik, ist seit einigen Jahrzehnten ein Paradigmenwechsel in Bezug auf die Frage festzustellen, wie psychische Störungen zu klassifizieren seien. Wurden psychische Störungen zuvor vor allem entlang ihrer postulierten Ursachen definiert und klassifiziert, geschieht dies heutzutage anhand von Symptom-/Syndrombeschreibungen auf Erscheinungsebene. Die (operationalisierten)2 Symptom-/Syndrombeschreibungen3 auf Erscheinungsebene finden sich in dem Manual »International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems« (ICD) der World Health Organization (WHO) und dem Manual »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM) der American Psychiatric Association (APA). Diese Verschiebung ist insbesondere gekennzeichnet durch eine Ineinssetzung von Klassifikation und Diagnostik. Psychische Störungen werden nun nicht mehr auf Grundlage ihrer mutmaßlichen Ursachen, sondern anhand umschriebener Symptome klassifiziert, welche gleichzeitig auch die Grundlage der Diagnosestellung bilden. ICD und DSM bieten hiernach zu jedem etablierten Störungsbild einfach zu handhabende Symptom-Checklisten, anhand derer eine Diagnose getroffen werden soll. Vertreter_innen der Psychopathologie loben an dieser neuen Orientierung die erhöhte Standardisierung, Vergleichbarkeit und Effizienz in der Diagnostik, die theoretisch auch von Lai_innen durchgeführt werden könnte. Auch wird die Entwicklung mit dem Scheitern des ätiopathologischen4 Ansatzes begründet:
Angesichts bisher noch unzulänglicher Kenntnisse der Entstehungsmodalitäten psychischer Störungen hat dieses Einteilungsprinzip, das im Extremfall ein Syndrom der Krankheit selbst gleichsetzt, in der Psychiatrie und Psychotherapie ein besonderes Gewicht erhalten. (Payk 2007: 47, Hervorh. S.N./L.L.)
Die Erforschung möglicher Ursachen läuft in den verschiedenen Fachrichtungen unvermindert weiter. Für die praktische Anwendung jedoch haben sich mit ICD und DSM zwei Diagnoseschemata hegemonial durchgesetzt, welche sich nicht mehr explizit auf Ursachen und Entstehungsbedingungen als Grundlage der Klassifikation beziehen. Stattdessen werden Bündel von einzelnen Symptomen zusammengefasst und dieses Symptombündel im Anschluss als die Störung selbst definiert. Der Umstand, dass es sich bei der Bestimmung der jeweils entscheidenden, in den Diagnosekatalog aufzunehmenden Symptomkomplexe um einen Meinungsstreit, d.h. um einen Aushandlungsprozess und Machtkampf zwischen »Expert_innen« handelt, welche sich nach Bedarf auf die jeweils von ihnen bevorzugten, einander teilweise auch widersprechenden Ergebnisse der Ätiopathologie beziehen, verweist gleichsam auf die Unklarheit und Uneindeutigkeit der theoretischen Grundlagen der operationalisierten Klassifikations- und Diagnosemanuale. Die diagnostischen Kriterien einer »depressiven Episode« (und damit gleichzeitig die psychologisch-psychiatrische Definition dessen, was eine Depression selbst ist) lesen sich ausschnitthaft nach ICD-10 beispielsweise wie folgt:
– Depressive Stimmung
– Interessen- oder Freudeverlust an Aktivitäten
– Verminderter Antrieb oder gesteigerte Ermüdbarkeit
– Verlust des Selbstvertrauens oder des Selbstwertgefühls
– Selbstvorwürfe oder ausgeprägte, unangemessene Schuldgefühle
– Wiederkehrende Gedanken an den Tod oder an Suizid, suizidales Verhalten
– Klagen oder Nachweis eines verminderten Denk- oder Konzentrationsvermögens, Unschlüssigkeit oder Unentschlossenheit
– Psychomotorische Agitiertheit oder Hemmung (subjektiv oder objektiv)
– Schlafstörungen jeder Art
– Appetitverlust oder gesteigerter Appetit mit entsprechender Gewichtsänderung
(Schneider/Frister/Olzen 2010: 35)
Die Abkehr vom ätiopathologischen Modell der Klassifikation und die Etablierung der operationalisierten Klassifikations- und Diagnosemanuale bedeutet für den Moment der Diagnosestellung eine Verschiebung der Psychodiagnostik ebenso wie deren Kernkategorie der psychischen Störung auf die Erscheinungsebene, d.h. die Ebene beobachteten Verhaltens. Dabei fungiert die Ätiopathologie vermittelt über die sich in den Symptomkatalogen niederschlagenden »Expert_innenmeinungen« als Stichwortgeberin. Der Fokus auf die Erscheinungsebene beobachteten Verhaltens und die damit einhergehende Ineinssetzung beobachteter Verhaltensweisen und psychischer Störung zeigt sich sowohl in den jeweiligen Symptomkatalogen der spezifischen Störungsbilder als auch in der aktuell vorherrschenden allgemeinen Definition psychischer Störung:
In der Klassifikation psychischer Störungen nach Kap. V ICD-10 wird psychische Störung definiert als ›klinisch erkennbarer Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten‹, die sowohl individuell als auch im sozialen Bereich mit Behinderungen und Beeinträchtigungen verbunden sind. (Payk 2007: 53)
»Klinisch erkennbar« bedeutet nichts anderes, als dass für die Diagnostik relevante, d.h. in einem der Diagnosemanuale beschriebene »Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten« durch das diagnostizierende psychiatrische Personal per Augenschein, Befragung oder anderer etablierter diagnostischer Verfahren registriert werden können. Dabei wird zunächst einerseits von vermeintlichen Ursachen und Entstehungsbedingungen ebenjener »Verhaltensauffälligkeiten« abgesehen, andererseits wird insbesondere von einem Großteil der konkreten Inhalte und subjektiven Gründe des beobachteten Verhaltens abstrahiert. Das diagnostische Verfahren fungiert als Schablone, welche nur ganz bestimmte, vorab festgelegte Verhaltensweisen, Absichten, Gedanken, Schlüsse, Bedürfnisse und Interessen der untersuchten Person, d.h. nur einzelne, ausgesuchte Ausschnitte der Wirklichkeit auf eine ebenfalls vorab festgelegte Weise sichtbar macht. Diese Ausschnitte der Wirklichkeit, welche im diagnostischen Raster hängenbleiben, werden gemessen, also quantifiziert und vergleichbar gemacht. Sie interessieren in der Diagnostik nur in Hinblick auf ihre Kategorisierung als Symptom oder Nicht-Symptom, d.h. als auffällig oder unauffällig markiertes Verhalten. Dabei werden alle Inhalte, die in der angelegten diagnostischen Schablone nicht vorgesehen sind, zum Verschwinden gebracht. Zudem wird durch die hergestellte Vergleichbarkeit der erhobenen Daten von den jeweils potentiell unterschiedlichen objektiven Positionen und Lagen untersuchter Personen in der Welt, z.B. deren materieller Lebenssituation, abgesehen. Da die Unterscheidung, was ein Symptom ist und was nicht, sich nicht aus dem Gegenstand dessen, was als psychische Störung gilt, selbst ergibt, verlangt die Entscheidung, welche Lebensäußerungen eines Menschen in der Diagnostik vorkommen und welche systematisch ausgeblendet werden, nach einem äußeren Kriterium. Dieses ist in der psychologisch-psychiatrischen Diagnostik die Normabweichung.