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Die tautologische Erklärung des Nicht-Funktionierens

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»Psychische Gesundheit« im oben genannten Sinne meint somit nicht zu jedem Zeitpunkt und für jede Person unbedingt dasselbe, jedoch bedeutet sie immer die Anforderung und unterstellte Selbstverständlichkeit des fröhlichen Mitmachens der Menschen bei dem, was derzeit von ihnen gefordert und verlangt wird. Ist dieses fröhliche Mitmachen bei einer Person nicht (mehr) in ausreichendem Maße der Fall, bekommt sie eine entsprechende Diagnose verpasst, die in einem griffigen Terminus die konkret beobachtete, spezifische Art des Nicht-Reibungslos-Funktionierens auf objektiver und/oder subjektiver Ebene zusammenfassend beschreibt. Im Moment der Diagnosestellung spielen dabei die mutmaßlichen Ursachen für die so diagnostizierte Störung, wie sie in der Ätiologie verhandelt werden, keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle (z.B. als persönliche »Krankheitsgeschichte« in der Anamnese). Insbesondere aber kommen die tatsächlichen individuellen Gründe für das Nicht-Funktionieren bzw. Nicht-Mitmachen(-Wollen) und die damit verbundenen subjektiven Bewusstseinsinhalte der diagnostizierten Person im diagnostischen Prozess kaum vor: Nicht der Inhalt eines als depressiv eingestuften Gedankens ist der primäre Gegenstand der Untersuchung, sondern die akut festgestellte Abweichung von der Norm.

In diesem Moment kommt es zur eigentlichen diagnostischen Tautologie: Wie eben gezeigt werden konnte, handelt es sich bei einer beliebigen, anhand der jeweiligen akut beobachteten Normabweichung diagnostizierten Störung um nichts anderes als um eine Ein-Wort-Beschreibung der beobachteten Normabweichung. Diese Ein-Wort-Beschreibung (»Depression«) wird dann entweder vom psychiatrisch-psychologischen Personal oder vom betroffenen Subjekt und seinem sozialen Umfeld selbst als Ursache für ebenjenes Nicht-Mitmachen(-Wollen) hypostasiert, welche sie eigentlich ja nur in einem Wort beschreibt. Eine Depression wird also daran festgemacht, dass eine Person morgens nicht aus dem Bett kommt, der Job plötzlich und unerwartet keinen Spaß mehr macht und sie sich »grundlos« traurig fühlt, und all diese Gefühle, Gedanken und Handlungen, die die Depression sind, werden im Anschluss als durch ebendiese Depression verursacht erklärt. Dann heißt es, die Depression als im Kopf oder in der Seele hausende Störung halte einen ursächlich davon ab, morgens früh aufzustehen, zu arbeiten und das Leben einfach zu genießen. Erklärungsbedürftig erscheint nicht das freiwillige und fröhliche Funktionieren im kapitalistischen Normalbetrieb, welches die modifizierte funktionale Norm und in den meisten Fällen deskriptiv auch die statistische Norm in der Bevölkerung darstellt, sondern das Nicht-Funktionieren(-Wollen), welches als dermaßen unbegründet und absurd erscheint (und erscheinen muss), dass es sich dabei in dieser Logik folgerichtig nur um einen Defekt in der betroffenen Person handeln kann. Paradoxerweise wird aber nun dieses als erklärungsbedürftig markierte Verhalten gerade eben nicht erklärt, sondern lediglich zusammenfassend beschrieben (klassifiziert) und anschließend als seine eigene Ursache verkauft.

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