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3. Gesund und fit wofür? Die Anforderungen des Lebens
ОглавлениеDer Psychiatrie und Psychologie stellen sich die Anforderungen an Menschen innerhalb konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse als allgemeine, nicht näher spezifizierte »Anforderungen des Lebens« schlechthin dar. Die jeweiligen gesellschaftlichen, politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse, innerhalb derer Menschen leben, erscheinen als äußere Welt. Diese wird als Ort vielfältiger Erfolgs- und Bestätigungsmöglichkeiten, ein erfolgreiches, geglücktes Leben in ihr als individuelle Bewährungsprobe behauptet, und beides soll von den Menschen auch so gedacht werden. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Verfasstheit dieser Welt wird als naturwüchsiges Ergebnis der Betätigung des menschlichen Wesens an sich und als unveränderlicher, nicht zu hinterfragender Sachzwang vorausgesetzt. Sich in dieser vorgefundenen Welt auf eine bestimmte, erlaubte und erwünschte Weise zu betätigen, zu verwirklichen, zu bewähren und sich dabei ihren Bedingungen zu unterwerfen wird als urwüchsige, natürliche, gesunde und normale Wesensäußerung eines und einer jeden unterstellt. Die Frage, um welche Verhältnisse es sich dabei eigentlich handelt, und vor allem die Frage, ob diese Verhältnisse überhaupt etwas für die Interessen und Bedürfnisse der unter ihnen lebenden Menschen taugen, wird dabei nicht gestellt.
Bei genauerem Blick auf diese Gesellschaft lässt sich feststellen, dass diese auf einer Wirtschaftsweise mit dazugehöriger Staatsgewalt beruht, die der Bedürfnisbefriedigung sehr vieler Menschen entgegensteht. Zu dieser Gesellschaft gehört materielles und viel psychisches Leid notwendig dazu. Dieses hat nicht seinen Grund im Versagen Einzelner oder darin, dass das »System« an einigen Stellen versagt hat und diese Probleme durch Nachbesserungen zu beseitigen wären, sondern in den grundsätzlichen Gegensätzen, welche in dieser Gesellschaft herrschen. Da das Wohlergehen und die Existenz der hier lebenden Menschen davon abhängig gemacht worden ist, in welchem Maße der Einzelne über das universelle Zugriffsmittel Geld verfügen kann, konkurrieren die Einzelnen mit unterschiedlichen Mitteln um diese Verfügungsmacht. Gerade durch die Verfolgung ihrer individuellen Interessen machen sich die Individuen wechselseitig die Teilnahme am Reichtum dieser Gesellschaft streitig. Dass dabei gerade diejenigen beschissen dastehen, die nichts anderes haben als ihre Arbeitskraft, die sie als Mittel zur Verwertung des Eigentums anderer verbrauchen lassen müssen, liegt auf der Hand. Sie müssen sich diesem Zweck unterordnen, nach dessen Erfordernissen ihr Leben einrichten, um wenigstens einen Bruchteil des von ihnen produzierten Reichtums zu erhalten. Und auch wenn die Leute alles dafür tun, sich diesem Zweck zu unterwerfen, ist nie garantiert, dass sie gerade oder auch morgen noch gebraucht werden.
In dieser bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft kommen die Bedürfnisse der Menschen also nicht als Zwecke, d.h. als Grundlage, auf der dann Zusammenleben und Wirtschaften einer Bedürfnisbefriedigung entsprechend organisiert würden, sondern ganz im Gegenteil nur als Mittel zum Zweck der Kapitalvermehrung vor. Bedürfnisse haben also lediglich als Mittel dieser Zwecke Aussicht auf Erfüllung, z.B. als zahlungsfähiges Bedürfnis nach Konsumtion. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Bedürfnisse, für deren Erfüllung Leute nicht bezahlen können, in der kapitalistischen Kalkulationsweise auch schlicht nicht vorkommen – wodurch sich unter anderem erklärt, warum Menschen auf dieser Welt unnötigerweise verhungern und unter Brücken schlafen müssen. Der Zweck zur Kapitalvermehrung unterwirft sich neben den (zahlungsfähigen) Bedürfnissen der hier lebenden Menschen (unter Ausschluss der nicht zahlungsfähigen) auch deren Arbeitskraft als Mittel. Menschen werden zum Zweck der Kapitalvermehrung benutzt und dabei vernutzt und verschlissen. Als das entscheidende Mittel zur Kapitalvermehrung gilt jede menschliche Arbeitskraft vom Standpunkt des Kapitals aus als eine einzukaufende Ware, welcher es bedarf, um zu verkaufende Waren herzustellen. In der unternehmerischen Kalkulation taucht diese besondere Ware Arbeitskraft als Kostenfaktor auf, den es möglichst gering zu halten gilt und der möglichst intensiv genutzt werden sollte. Auf möglichst viel Arbeitsleistung zugreifen zu wollen, um eine möglichst große Anzahl von Waren herzustellen und dabei die Kosten möglichst gering zu halten, entspricht der Logik der Kapitalvermehrung: Das vorgeschossene Geld soll ja schließlich mehr werden.
Um sich die Schädigung und den Verbrauch durch Lohnarbeit zu vergegenwärtigen, muss man den Blick nicht einmal unbedingt auf Arbeit unter besonders katastrophalen, hochgradig gesundheitsschädigenden Bedingungen, wie z.B. in einer Diamantenmine oder in einem Sweatshop lenken, sondern kann sich bereits den physischen und psychischen Zustand, die in den westlichen Nationen »ganz normale« Erschöpfung, die Rücken- und Kopfschmerzen eines Menschen nach einem langem Arbeitstag im Büro, der Fabrik, der KiTa oder an der Supermarktkasse zum Ausgangspunkt nehmen. Wie es die Funktion von rechtlichen Verordnungen über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit ist, dieser prinzipiell bejahten Vernutzung gewisse Grenzen zu setzen (wobei selbst diese Grenzen hart umkämpft waren und sind), und es Aufgabe der Medizin ist, physisch allzu stark heruntergewirtschaftete Arbeitskraft wiederherzustellen, ist es u.a. Aufgabe der Psychologie und Psychiatrie, dies im psychischen Bereich zu leisten, damit trotz ständiger Vernutzung ausreichend verwertbares Menschenmaterial zum Zweck der Kapitalvermehrung durch Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft übrigbleibt.
Die »Anforderungen des Lebens«, die sich unter bestehenden Verhältnissen an die hier lebenden Menschen stellen, ergeben sich aus den Zwecken der Kapitalvermehrung. Die meisten Menschen sind darauf verwiesen, sich im Rahmen von Lohnarbeit als Mittel der Geldvermehrung bereitzustellen, ihre eigenen Fähigkeiten im Sinne der Erfordernisse von Kapital und Staat beständig zu erweitern, im allgegenwärtigen Konkurrenzverhältnis zu bestehen und Leistung zu erbringen. Auch die Reproduktion von Arbeitskraft, d.h. sowohl die Hervorbringung, Versorgung und Erziehung neuer tauglicher Staatsbürger_innen und Arbeitskräfte als auch Arbeit zur physischen und psychischen Aufrechterhaltung und Regeneration erwachsener Arbeitskräfte, ist eine in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft anfallende Aufgabe, die es zur kapitalistischen Vernutzung von Menschen braucht und die notwendigerweise zu dieser dazugehört. Ein Großteil der Reproduktionstätigkeit in dieser Gesellschaft findet im privaten Bereich, d.h. in der Familie und/oder in emotionalen Nahbeziehungen statt. In der Regel stellt sich diese spezifische »Anforderung des Lebens« in besonderem Maße an Frauen* – heutzutage nicht selten zusätzlich zur Anforderung, die eigene Arbeitskraft selbst ebenfalls als Lohnabhängige zu Markte zu tragen. Hieraus ergibt sich häufig eine Doppelbelastung von Frauen*, wobei die gestellten Anforderungen der verschiedenen Bereiche obendrein in Konflikt miteinander geraten und sich gelegentlich sogar widersprechen können (»fürsorglich sein« hier, »Ellbogen raus« dort). Dies kann, neben einer verstärkten Verschleißung und Verbrauchung, Quell zusätzlicher psychischer Konflikte und Leiden sein.
Als Lohn für ein engagiertes und verausgabendes Mitmachen, also das Erfüllen dieser oft schädigenden und belastenden Anforderungen, lockt das Versprechen des persönlichen Glücks durch ein »gelungenes Leben«. Dass es sich hierbei um ein Ideal handelt, welches in der Realität für die allermeisten Menschen so nicht existiert, dessen sind sich die meisten Leute sehr wohl bewusst – nichtsdestoweniger hält die überwiegende Mehrheit trotz der Härten des Lebens und nicht ausbleibender Enttäuschungen und Schädigungen an diesem Ideal fest und damit an der Vorstellung, es läge an einem selbst, Fröhlichkeit und Glück oder wenigstens »persönliche Zufriedenheit« herzustellen und die Welt, wie sie eingerichtet ist, böte doch zumindest potentiell auch die geeigneten Mittel und Wege dazu an, wenn man sich nur ordentlich anstrengte und diese Mittel richtig zu nutzen verstünde. Stellt sich das erwartete und in Aussicht gestellte persönliche Glück trotz größter Anstrengung und anständiger Anforderungserfüllung nicht ein, verfallen die meisten Leute im Umkehrschluss auf den Gedanken, dieses Scheitern müsse wohl an ihnen selbst liegen. Im Hochhalten des Ideals, jede sei ihres eigenen Glückes Schmiedin, gegen die eigene Erfahrung und Lebensrealität, steckt eine Affirmation der herrschenden Verhältnisse, wenn diese hartnäckig kontrafaktisch als »eigentlich« gute Mittel für die Erlangung des eigenen Lebensglücks angesehen werden. Westliche, als freiheitliche Demokratie organisierte Herrschaft ist auf diese prinzipielle Bejahung und positive gedankliche Stellung ihrer Untertan_innen angewiesen und auch die Arbeitgeberin freut‘s: Wer den Job als Mittel zur Erlangung von Glück und Selbstverwirklichung begreift anstatt als notwendiges Übel zum Gelderwerb, von dem ist auch ein deutlich höheres Maß an Leistung, Motivation und Engagement zu erwarten. Die regelmäßige Enttäuschung des Glücksversprechens führt die meisten Leute im Laufe ihres Lebens hin zu einem »realistischen Pragmatismus«: Das erwartete Lebensglück beläuft sich dann auf eine bescheidene und sich bescheidende Zufriedenheit, ein Sich-zufrieden-Stellen mit mehr schlechten als rechten Lebensbedingungen, bei dem im Zweifelsfalle Psychologie und Psychiatrie nur allzu gern helfend zur Seite stehen. Ist doch ein Mindestmaß an psychischem Wohlbefinden und ein Festhalten an einer positiven Grundhaltung zur hiesigen Einrichtung der Gesellschaft eine nicht unbedeutende ideologische Grundlage dafür, dass Menschen sich überhaupt weiter und immer wieder zum Mitmachen aufraffen. Was Psychologie und Psychiatrie und den meisten Menschen als »subjektives Wohlbefinden« gilt, meint somit also etwas völlig anderes als ein Wohlbefinden, welches sich aufgrund einer sichergestellten Bedürfnisbefriedigung und Versorgung in einer zu diesem Zweck eingerichteten Gesellschaft einstellen würde.
Das psychologisch-psychiatrische System macht es sich keineswegs zur Aufgabe, die in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft an Menschen gestellten Anforderungen und die dahinterstehenden Verhältnisse mitsamt ihrer schädigenden Effekte grundsätzlich zu kritisieren, sondern stellt sich stattdessen die Frage, wie Menschen am besten dazu zu bringen sind, diese Anforderungen möglichst gut (oder auch überhaupt erst einmal) zu erfüllen. Über diese Frage darf dann innerhalb von Psychologie und Psychiatrie auch gern im Rahmen von Paradigmenstreits und immanenter Kritik meinungspluralistisch und konstruktiv gestritten werden. Während Psychologie und Psychiatrie sich einerseits für nicht zuständig für politische, soziale und gesellschaftliche Fragen erklären und die aktuelle Einrichtung der Welt sowohl als naturwüchsiges Ergebnis des menschlichen Wesens als auch als äußeren Sachzwang konzipieren, greifen sie auf der anderen Seite gleichzeitig ständig in Bedingungen ein, etwa durch ihren Einfluss auf die Gestaltung von Arbeitsplätzen, bei Schulreformen etc. – allerdings immer parteilich für die bestehenden Verhältnisse. Wo der psychologisch-psychiatrische Diskurs die Welt als Ort individueller Erfolgs-, Betätigungs- und Bestätigungsmöglichkeiten behauptet, wird also von der kapitalistischen Organisation der Gesellschaft, dem real existierenden Klassenverhältnis und der dazugehörigen Staatsgewalt abgesehen. Auf Grundlage dieser Abstraktion erscheinen alle kapitalistischen Lebensverhältnisse als individuell zu bewältigende Problemlagen.14 Dass beispielsweise im der kapitalistischen Wirtschaftsweise inhärenten Konkurrenzprinzip, dem sich zu unterwerfen momentan fast alle Menschen zum Zwecke ihres Existenzerhalts genötigt sind, das Scheitern Einiger als logische und notwendige Konsequenz des Gewinnens Anderer strukturell angelegt ist, wird in diesem Weltbild ausgeblendet. Wenn ein Mensch etwa in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit keinen Job findet, scheitert er in diesem Weltbild nicht an den Zwecken und Prinzipien der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft, sondern aufgrund seiner eigenen Unfähigkeit. Ein eigentlich strukturell bedingter Effekt wird so zu einem individuellen Versagen umgedeutet. Auch der Umgang mit dem Problem wird auf die individuelle Ebene verlagert: Das betroffene Individuum ist angehalten und genötigt, Eigenverantwortung zu übernehmen, aufzustehen, härter (an sich) zu arbeiten und sich weiter abzumühen. Tut es dies nicht und verfällt beispielsweise über den Verlust des Arbeitsplatzes in lähmende Verzweiflung, wird es spätestens dann zu einem Fall für das psychologisch-psychiatrische System.
Wenn die Annahme aufrechterhalten werden soll, sich in der vorgefundenen Welt inklusive Leistungs- und Konkurrenzprinzip zu bewähren und auf erwünschte Weise zu betätigen, sei, erstens, ureigenster und gesündester Ausdruck des menschlichen Wesens überhaupt und, zweitens, ein Unterfangen, dessen Gelingen einzig und allein von der eigenen persönlichen Anstrengung und Einstellung abhängt, ist es naheliegend, wenn ein im Konkurrenzprinzip angelegtes Scheitern bei Menschen zu Selbstkritik, Selbstabwertung und Schuldgefühlen führt. Es ist dann ein schmaler Grat zwischen dem Gefühl der Eigenverantwortung als gern gesehenem, »gesundem« Antrieb, eben härter (an sich) zu arbeiten, und einem in Lähmung umgeschlagenen, »krankhaften« Schuldgefühl, welches dann als Symptom einer behandlungsbedürftigen Depression diagnostiziert wird.15 Ebenso wie das Gefühl, Schuld am eigenen Scheitern zu haben, hat das Gefühl der Wertlosigkeit in einer kapitalistischen Gesellschaft einen realen Bezug. Da Leistung im Kapitalismus das einzige Kriterium ist, anhand dessen der Wert eines Menschen bestimmt wird, ist es nicht unbedingt überraschend, dass sich eine wertlos fühlt, wenn beispielsweise ihre Arbeitskraft gerade nicht gebraucht wird. Dieser reale Bezug, der im Symptom »Gefühl von Wertlosigkeit« in der Diagnose Depression stecken kann, wird in der psychologisch-psychiatrischen Betrachtungsweise desartikuliert; der beschädigte Glaube an den eigenen Wert wird, sofern das Ausmaß der Beschädigung die Funktionstüchtigkeit und Anstrengungen der betroffenen Person einschränken, in der Psychotherapie z.B. mit Hilfe der völlig gegenstandslosen Behauptung »bedingungsloser Wertschätzung« aufgepäppelt, welche ihren Klient_innen entgegenzuheucheln Psychotherapeut_innen während der Behandlung angehalten sind. Ähnliche reale Bezüge finden sich auch in anderen Diagnosen, wie der »Generalisierten Angststörung« nach ICD und DSM, die sich auf diffuse Sorgen und Befürchtungen in verschiedenen Lebensbereichen, z.B. »unbegründete Geldsorgen, übertriebene Sorgen um die Leistungsfähigkeit in der Schule oder im Beruf« (Morschitzky 2004: 67) bezieht. Wenn die Realisierung des eigenen Werts ebenso unsicher und prekär ist wie die Antwort auf die Frage, ob man die Mittel zur Sicherung seiner Existenz auch morgen noch erwerben können wird und ein Nicht-Bewältigen der an einen gestellten kapitalistischen Anforderungen den faktischen Ausschluss von den Mitteln der Existenzerhaltung bedeutet, nimmt es nicht wunder, wenn Menschen sich unter herrschenden Verhältnissen mit quälenden Existenz- und Zukunftsängsten tragen. Ob diese Sorgen und Befürchtungen »unbegründet und übertrieben« gewesen sind, stellt sich in der Realität jeweils und immer wieder aufs Neue erst im Nachhinein heraus.
Mit diesen Erwägungen soll nicht behauptet werden, kapitalistische Verhältnisse führten in der subjektiven Verarbeitung immer und automatisch bei jeder und jedem zu als depressiv klassifizierten oder sonstigen als klinisch eingestuften Symptomen. So gibt es schließlich auch Menschen, die beispielsweise über den Verlust ihres Arbeitsplatzes anders denken, als sich selbst eine lähmende Schuld für ihr Scheitern zuzuschreiben – sei es, dass es ihnen (ob nun mit psychologischer Hilfe oder ohne) immer wieder gelingt, ihre Ansprüche herunterzuschrauben und ihre persönlichen Anstrengungen zu intensivieren, in den bestehenden Verhältnissen so erfolgreich wie eben möglich zu sein, oder sei es, dass sie sich anstatt in Selbstkritik in der Kritik ebenjener Verhältnisse üben, die sie überhaupt erst in Abhängigkeit von Lohnarbeit zum Zwecke der Existenzsicherung bringen. Es ist also prinzipiell sowohl möglich in Anbetracht der Widrigkeiten und Versagungen dieses Lebens immer wieder zu dem falschen Schluss zu gelangen, man selbst sei eben nicht für diese Welt gemacht, als auch im Gegenteil den richtigen Schluss zu ziehen, dass die Welt, so wie sie jetzt ist, eben nicht für einen gemacht ist. Es bleibt festzuhalten, dass ein vermittelter Zusammenhang zwischen individuellem Leid und objektiven Bedingungen besteht, den Psychiatrie und Psychologie sich nach Kräften abzuleugnen und zu verschleiern bemühen. Noch die schäbigsten Verhältnisse versuchen sie den unter ihnen Leidenden als »Herausforderungen« zu verkaufen, selbst die Bedrohung der materiellen und sozialen Existenz wird zur »Entwicklungschance« umgelogen. Die Psychiatrie erfüllt also die Aufgabe, die Menschen fit und willig für ebenjene Verhältnisse zu erhalten und zu machen, an denen sie sich täglich – teils eben bis zum Verrücktwerden, teils »nur« unter normalen Verschleißerscheinungen – abzuarbeiten haben.