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Exkurs: Kritik an der Naturalisierung menschlichen Verhaltens
ОглавлениеDer vorher beschriebene gottähnliche Status der (Natur-)Wissenschaften (vgl. Lewontin et al. 1988: S. 40) zeigte sich auch darin, wie medizinisch-naturalistische Denkmodelle den Diskurs der Unterstützung dominierten und sich dies bis heute noch hält. Der Bezug auf eine angenommene Natur des Menschen wird genutzt, um gesellschaftliche Verhältnisse und individuelles Verhalten zu erklären. In diesem naturalistischen Erklärungsmodell wurde davon ausgegangen, dass sich »so unterschiedliche Phänomene wie die sexuelle Orientierung, psychische Probleme, Erfolg im Leben […] und die Gewalt auf den Straßen« (Rose 2000: S. 295) durch die einzelnen Gene der Individuen erklären ließen. Kritisch lässt sich einwenden, dass eine solche deterministische Betrachtung des Menschen grundlegende Aspekte außen vor lässt. Erstens lässt sich das menschliche Sein nicht alleine durch die biologische Materie begreifen. Der Mensch ist potenziell in der Lage auf seine eigenen Handlungen von außen zu schauen und diese an – in seiner individuellen Biographie erlernten – Werten und Normen zu messen (vgl. Mead 1968: S. 179). Durch diese Form der Selbstreflexion, kann ein Mensch das eigene Verhalten hinterfragen und verändern, zumindest innerhalb eines gesellschaftlich beeinflussten (aber nicht determinierten) und potentiell veränderbaren Möglichkeitsraumes (vgl. Leiprecht 2011: S. 39 f.). Der zweite grundlegende Denkfehler in der medizinisch-naturalistischen Theorie liegt in der Annahme, die menschliche Natur sei unveränderbar (vgl. Rose 2000: S. 9). Dabei sind sowohl die einzelnen Zellen, Körperstrukturen und Moleküle des menschlichen Körpers vergänglich, wodurch der Körper selbst einer sich ständig verändernden Dynamik unterliegt (vgl. ebd.: S. 55), als lebendige Systeme auch »definitionsgemäß offene Systeme« (vgl. ebd.: S. 112) sind und sich zum Überleben den umweltbedingten Schwankungen anpassen müssen (vgl. ebd.: S. 176).
Das naturalistische Erklärungsmodell für das Verhalten von Menschen trägt einen gewissen Doppelcharakter in sich, welcher sich einerseits darin zeigt, dass Betroffene leicht als ›Opfer der eigenen Gene‹ gesehen werden (Rose 2000: S. 21). Damit einher geht sowohl eine Befreiung aus der Verantwortung für das eigene Handeln, als auch das Absprechen des Selbstbestimmungsrechtes über den eigenen Körper, das eigene Verhalten, das eigene Denken und Sein im Generellen. In einer zweiten Erscheinungsform zeigt er sich andererseits darin, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse als Natur gegeben beschrieben und der Mensch als ›Opfer der Umstände‹ betrachtet wird (vgl. Lewontin, Rose & Kamin 1988: S. 40). Dies impliziert die Vorstellung, dass die betroffene Person sich in ihrem Verhalten den Verhältnissen und den damit einhergehenden Erwartungen anzupassen habe. In beiden Fällen wird die Wechselwirkung von gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnissen mit den Handlungen und Denkmustern der betroffenen Person ignoriert und das spezifische Verhalten durch eine biochemische Dysfunktion erklärt (vgl. Rose 2000: S. 310).