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Träumen

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Die Vision hat viele einzelne Teile, die sich im Lauf der Zeit zusammensetzen werden. Wie sie am Ende aussehen wird, weiß ich nicht.

Ich fange mit der Vision an, weil sie aus dem Jetzt entsteht, aus meinem Lernen, aus den Geschenken, die ich von befreundeten und geliebten Personen um mich herum bekomme. Durch all diese neuen Teile entsteht in mir eine Haltung zu dem Leben, das ich bisher gelebt habe. Ich finde Wünsche, ordne neu ein, gebe mich hin.

So, wie ich gelernt habe, mit mir und der Welt und anderen Menschen umzugehen, möchte ich es nicht weiter machen. Ich mache mich auf die Suche, weil ich es nicht mehr aushalte, so zu leben und zu sein, wie ich es bisher war.

Dieses Unerträgliche ist nicht die Stimme der Depression in mir, die ich betäuben, übertönen, überhören will. Es sind Härte, Schmerz, Traumatisierung, Sehnsucht, Verletzungen, die unrealistischen Anforderungen eines Lebens im Kapitalismus. Es sind die Enge, der Lärm, die vielen Grenzüberschreitungen, die jeden Tag ganz beiläufig ausgeübt werden. Es sind die Machtverhältnisse, die um mich herum und in mir drin sind: sie durchziehen mein Fühlen und Handeln, meine Beziehungen, meine Träume, meine Strategien. Es sind queeres Begehren und eine geschlechtliche Positionierung als trans, nicht-binäre Person, beides Dinge, die beschämt und bestraft werden. Es sind Erfahrungen von Ausgeschlossen-Werden und Ausschließen, Konkurrenz und Angst.

Ich erlaube dem Unwohlsein, das aus dem Wahrnehmen all dieser Dinge kommt, sehr viel Raum und erkenne darin die Stimme wieder, die mich in Veränderung bringt. Aber manchmal bringt sie mich außer Atem und in einen altbekannten Zustand, in dem alles steif wird, mein Herz rast und meine Gedanken austrocknen.

Als Kind besaß ich einige Setzkästen. Das sind unterschiedlich große Rahmen aus Holz mit kleinen, verschieden förmigen Unterteilungen, meistens rechteckig. Für Mineralien sind sie gedacht, für Glastiere, Murmeln, Münzen, Glücksbringer aller Arten, Kakteen, Kiesel, Holzstücke, Gräser und kleine Bilder.

Ich setzte all die Dinge hinein und beschäftigte mich immer wieder damit, sie einzeln herauszunehmen, zu entstauben und in einer neuen Ordnung wieder hineinzusetzen. Ich befühlte die Oberflächen, schnupperte an ihnen und leckte an Salzsteinen und samtüberzogenen Tierchen. Manche hatten ähnliche Farben oder Strukturen, manche kamen im gleichen Strandurlaub zu mir, manche stammten aus dem gleichen Erdzeitalter.

Vor einigen Jahren hatten sich Selbsthass und Verzweiflung so dicht in mir zusammengeballt, dass Teller zerschlagen, schreien und ins Kissen boxen nicht mehr reichten. Für einen Moment zerstob die Wut in diesen nach außen gerichteten Gesten, und blieb zugleich als bedrohlicher Unterton einer deutlicher werdenden Gewissheit: ich muss etwas ändern, wenn ich nicht immer wieder an den Punkt gelangen will, an dem ich es nicht mehr aushalte ich selbst zu sein. Es nimmt mir den Atem und den Schlaf, lässt meine Haut rot und trocken werden, dreht mir den Magen um und lässt den Migränekopfschmerz wie einen Blitz in mich fahren.

Ich saß vor dem Kissen, in das ich geboxt hatte, und dachte an die lange Reihe von Erlebnissen, die in diesem Selbsthass stecken. Ich dachte über Vereinzelung nach und Bilder von Glück, Stärke und Erfolg. Ich dachte darüber nach, ob es mir irgendwann möglich sein würde, mich als liebenswert zu denken, fähig dazu, für mich einzustehen und mich um mich selbst zu kümmern. Ich fragte mich, ob ich es mir irgendwann erlauben könnte, Grenzen zu setzen, Unwillen zu äußern, mich in meiner begrenzten Energie wahrzunehmen und meine Tage dementsprechend zu gestalten. Ich überlegte, ob ich in Beziehung treten könnte zu all den Verletzungen, die ich mit mir herumtrug, anstatt die verletzten Bereiche möglichst gründlich von allen anderen Bereichen, die ich zum Funktionieren brauchte, abzuschneiden. Ich stellte mir die Frage, ob ich mich, mit all meinen bisherigen Erfahrungen, annehmen könnte.

Und ich dachte an die Setzkästen, erinnerte mich an meine Sorgfalt und die Begeisterung, mit der ich sammelte und anordnete, die kleinen Objekte pflegte und mit ihnen in Beziehung blieb, auch wenn sie schon länger bei mir waren; wenn die Steine ihren Glanz verloren oder von den getrockneten Blättern Teile abbrachen. Ich habe nie eines der Objekte aussortiert. Aber plötzlich habe ich keinen Setzkasten mehr, die gesammelten Dinge sind nicht mehr bei mir, einzelne habe ich über die Jahre behalten, andere müssen wohl verloren gegangen sein.

Gegendiagnose II

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