Читать книгу Gegendiagnose II - Группа авторов - Страница 23
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ОглавлениеAls ich ein Kind war, gab es in meiner Welt keine Möglichkeit, seelischen Schmerz auszudrücken. Seelischen Schmerz zu empfinden, war verdächtig. Damit kam die Möglichkeit auf, die Dinge könnten nicht gut laufen. Seelischer Schmerz bedeutete in meiner Sozialisation, etwas falsch gemacht zu haben, ein persönliches Versagen, damit ging Scham einher. Denn Traurigkeit, Wut oder Unruhe warfen einen Schatten auf den hellen, freundlichen Alltag, um den sich doch alle bemühten.
Wenn hinter dem reibungslosen Ablauf der Dinge Katastrophen lauern, ist es unheimlich wichtig, diesen Ablauf nicht zu stören – nicht durch Gefühle zu stören.
Wenn das Durchleben des Alltags bereits alle Kraft braucht, ist jede unerwartete oder neue Situation, jedes komplexere Thema, jeder Konflikt, jeder ambivalente oder unklare Kontakt eine potentielle Überforderung. Wenn Gefühle nicht mit einkalkuliert sind, ist ihr Aufkommen eine Belastung. Es ist eine Schuldfrage, Gefühle zu haben, Schmerz auszudrücken oder Bedürfnisse zu äußern.
Als ich ein Kind war, bestand meine Arbeit darin, keinen seelischen Schmerz zu empfinden, nicht wütend, traurig oder gelangweilt zu sein. Ich lernte, dass meine Angst, meine Wünsche nach Liebe und Geborgenheit, meine Unsicherheit und meine Einsamkeit nicht sein sollten. Als Kind lernte ich, fröhlich zu sein. Ich lernte, mich für Dinge zu interessieren, wenn ich wusste, jemand wünschte sich das von mir. Ich lernte mich selbst leer zu machen und davon auszugehen, dass andere meine Präsenz, so klein sie auch sein mochte, als Störung empfinden würden.
Ich lernte, vorauszuahnen, welches Verhalten andere von mir erwarteten. Ich lernte Gesichter und Stimmen bis in die Nuancen zu deuten. Dadurch würde ich den Katastrophen vorgreifen, sie verhindern, mir die Menschen um mich herum – meine Welt – gewogen halten.
Wenn hinter dem reibungslosen Ablauf der Dinge verschiedene Bedürfnisse und einander widersprechende Wünsche sitzen, ist der Knall immer nur wenige Zentimeter entfernt. Mich von meinen eigenen Bedürfnissen auf Distanz zu halten war daher ein Beitrag zum gelingenden Alltag.
Ich weiß heute, dass das nicht aufgeht. Als Kind wusste ich das nicht. Als ich ein Kind war, war Gefühle-Haben etwas Gefährliches, was ich so gut es ging vermeiden und verstecken wollte.
Mit dem Wissen, wie ich meine Gefühle, auch vor mir selbst, verstecken kann, bin ich nicht alleine. Auch mit meinem Schmerz bin ich nicht alleine. Auch das konnte ich als Kind nicht wissen.